Das Schuljahr nach Corona (E-Book). Armin Himmelrath
deutlich seltener täglich zuckerhaltige Getränke zu sich, nutzen in deutlich geringerem Umfang exzessiv elektronische Medien und sind deutlich seltener vom Passivrauchen im eigenen Haushalt betroffen. Mehr noch, Mütter von Kindern aus unteren Sozialschichten haben deutlich häufiger während der Schwangerschaft geraucht (Kuntz et al. 2018; RKI 2015).
Wie an diesem sehr kurzem Überblick deutlich geworden sein dürfte, sind die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen nach ihrer sozialen Lage sehr unterschiedlich. Weil die Schulen während der Schulschließungen ihrer Funktion als Institutionen sozialen Ausgleichs nicht in gewohnter Form nachkommen können, ist auch davon auszugehen, dass die amerikanischen Studien zum Einfluss der Sommerferien auf soziale Ungleichheiten auf die aktuelle Situation in Deutschland übertragbar sind. Soziale Ungleichheiten beim Lernfortschritt wie auch gesundheitliche Ungleichheiten sollten während der Corona-Krise deutlich zu Tage treten. So wundert es auch nicht, dass eine aktuelle Umfrage von Forsa im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung e. V. unter 1000 Lehrkräften zu dem Ergebnis kommt, dass 82 Prozent aller Lehrkräfte während der langsamen Öffnungen der Schulen Lernunterschiede von Schülerinnen und Schülern auszugleichen als ihre größte Herausforderung ansehen (in Grundschulen sogar 90 Prozent) – und dies gerade einmal nach knapp zwei Monaten Schulschließung.
2Schulorganisation und Corona
Die Corona-Krise wird nicht nur soziale Ungleichheiten verstärken. Auch schulorganisatorisch ergeben sich große Herausforderungen, die bisher zu wenig diskutiert wurden. Dabei soll an dieser Stelle auf eine kurzfristige und eine langfristige Folge für die Schulorganisation eingegangen werden.
2.1Risikogruppen in der Corona-Krise
Für Politik und Verwaltung wird sich vor allem für sogenannte
«Risikogruppen» die Frage stellen, ob sie zum Präsenzunterricht verpflichtet werden können. Juristisch wird sich vor allem die Frage stellen, wie vorzugehen ist, wenn sich Lehrkräfte im Schulunterricht mit Covid-19 anstecken und daraufhin gesundheitliche Einschränkungen haben oder im schlimmsten Fall sogar daran versterben. Hat dann der Dienstherr gegen seine gesundheitliche Fürsorgepflicht verstoßen? Und besteht diese Pflicht generell oder nur gegenüber Risikogruppen? Bisher setzten die Bundesländer (einen Überblick zu behalten ist an dieser Stelle allerdings schwierig) wohl eher darauf, dass Lehrkräfte mit Vorerkrankungen und Lehrkräfte ab 60 Jahren keinen Präsenzunterricht geben müssen, wenn sie dies nicht wollen. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags lassen sich aber auch erste Meldungen über Gerichtsentscheidungen finden, die den Bundesländern mehr Spielraum zugestehen – vorausgesetzt, das Infektionsgeschehen bleibt überschaubar und es ergeben sich keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die eine starke Gefährdung von Lehrkräften aufzeigt. Wie die Situation beim Erscheinen dieses Beitrags ist, ist kaum vorauszusagen. In diesem Beitrag soll die Diskussion über die Risikogruppen um einen Aspekt ergänzt werden. Wenn über 60-jährige Lehrkräfte und weitere Risikogruppen keinen Präsenzunterricht geben müssen, dann führt dies zu einer kurz- bis mittelfristigen Anspannung der Personalsituation unter Lehrkräften in Schulen, die in vielen Bundesländern auch vor Corona bereits angespannt war. Betrachtet man nur die Lehrkräfte ab 60 Jahren, so müsste man in den westdeutschen Bundesländern durchschnittlich 11,6 Prozent aller Lehrkräfte zur Risikogruppe rechnen. In den ostdeutschen Bundesländern (mit Berlin) läge ihr Anteil sogar bei 16,2 Prozent. In Thüringen, dem Land mit dem höchsten Anteil über 60-jähriger Lehrkräfte, läge der Anteil sogar bei 19,2 Prozent (Stand: Schuljahr 2018/19). Je nach Bundesland würden also bis zu einem Fünftel der Lehrkräfte zur altersmäßigen Risikogruppe gehören. Hinzu kommen jene Lehrkräfte mit Vorerkrankungen, die unter 60 Jahre alt sind. In Thüringen geht das Bildungsministerium insgesamt von rund 30 Prozent an Lehrkräften aus, die zur Risikogruppe gehören.3
Wie kann man zu einem Regelunterricht zurückkommen, wenn bis zu 30 Prozent aller Lehrkräfte nicht am Präsenzunterricht teilnehmen müssen? Verschärft wird dies über einen bisher kaum diskutierten Fakt: Die Risikogruppen verteilen sich nicht gleich über alle Schulen. In Abbildung 1 ist dies für die Schulen in Thüringen anhand der mindestens 60-jährigen und mindestens 50-jährigen Lehrkräfte dargestellt. Von den 800 allgemeinbildenden Schulen (ohne Förderschulen) haben je nach Schulform zwischen 13 (Grundschulen) und 42 Prozent (Regelschulen) einen Anteil von Lehrkräften ab 60 Jahren von mindestens 25 Prozent. Hier würden also allein aus Altersgründen ein Viertel des Kollegiums zur Risikogruppe gehören. An 2,6 Prozent aller Thüringer Schulen (über alle Schulformen) liegt der Anteil von Lehrern ab 60 Jahren sogar bei 50 Prozent.
Nimmt man die mindestens 50-jährigen Lehrkräfte hinzu, die ebenfalls überproportional Vorerkrankungen haben könnten, sieht man, wie prekär die Altersstruktur an vielen Thüringer Schulen ist. Je nach Schulform setzt sich die Lehrerschaft in 56 bis 93 Prozent aller Schulen mindestens zur Hälfte aus über 50-jährigen Lehrkräften zusammen. An 3,5 Prozent aller Schulen ist jede Lehrkraft mindestens 50 Jahre alt. Auf der anderen Seite findet sich an knapp 20 Prozent aller Schulen (über alle Schulformen) keine einzige Lehrkraft ab 60 Jahren.
Abbildung 1: Altersverteilung an den Thüringer Schulen (Schuljahr 2019/20)
Quelle: Datenlieferung des Thüringer Bildungsministeriums
Diese Daten, die in ähnlicher (etwas abgeschwächter) Form auch in anderen Bundesländern zu finden wären, weisen darauf hin, dass einige Schulen in Bezug auf die Risikogruppen kaum vor Probleme gestellt sind. Auf der anderen Seite gibt es Schulen, in denen ein Präsenzregelunterricht unter Rücksichtnahme auf die Risikogruppen kaum möglich erscheint. Wie kann man hier einen personellen Ausgleich schaffen? An dieser Stelle soll nicht auf mögliche Handlungsalternativen eingegangen werden. Dieser Beitrag soll nur auf dieses Problem hinweisen, das von Bildungsministerien und Schulämtern bearbeitet werden muss. Bisher ergibt sich eher der subjektive Eindruck, dass Schulen mit diesem Problem weitgehend alleingelassen werden, weil sie in vielen Fällen schulspezifische Konzepte zur Regelbetreuung erarbeiten sollen. An einer Schule mit 30 bis 50 Prozent Lehrkräften, die zur Risikogruppe gehören, kann dies kaum realisiert werden.
2.2Schulbau und Corona
Schon vor Corona gab es einen wahrgenommenen Investitionsrückstand bei Schulen (inkl. Erwachsenenbildung) von 42,8 Milliarden Euro (Kfw Research 2019). Besonders hohe Kosten im Schulbau ergeben sich aktuell für die größeren deutschen Städte und hierbei für die ostdeutschen Großstädte. Wie man in Abbildung 2 erkennt, sind die Schülerinnen- und Schülerzahlen in allen dargestellten Großstädten von 2005 bis 2018 teilweise sehr stark angestiegen. In München und Berlin um 20 Prozent, in Frankfurt am Main um knapp 30 Prozent. In den ostdeutschen Großstädten Erfurt, Magdeburg und Rostock gar um rund 45 Prozent und in Dresden, Leipzig und Potsdam sogar um 70 bis gut 80 Prozent. Dass sich der Anstieg in den ostdeutschen Städten derart entwickelt hat, hängt auch mit dem historisch einmaligen Bevölkerungseinbruch nach der Wende zusammen. Infolge der Wende schlossen zwischen 1995 und 2006 beispielsweise in Leipzig 23 Prozent aller Grundschulen und 44 Prozent aller Gymnasien. In Rostock schlossen 40 Prozent der Grundschulen, 33 Prozent der Gymnasien und in Erfurt 27 Prozent der Grundschulen sowie 23 Prozent der Gymnasien (Stba 2020, eigene Berechnungen). Mittlerweile sind die Kapazitäten im Zuge der wieder stark gestiegenen Schülerzahlen aber weitestgehend erschöpft. Auch in den nächsten 15 Jahren wird es gerade in den oben genannten Städten zu einem weiteren Bevölkerungswachstum kommen (Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2019). Die daraus resultierenden Kapazitätsprobleme finden sich in den Schulentwicklungsplänen in vielen deutschen Großstädten wieder, wie beispielsweise in Berlin, Frankfurt am Main, Dresden, Bremen, Leipzig, Erfurt und Köln. Folgerichtig wird in den Schulentwicklungsplänen dieser Städte stark auf Schulneubauten und Schulerweiterungsbauten gesetzt, die zu großen Teilen aus den kommunalen Haushalten finanziert werden müssen. Inwieweit diese Pläne im Zuge des Einbruchs der Kommunalfinanzen möglich sein werden, ist zumindest fraglich. Ein aktuelles Beispiel aus Erfurt zeigt, dass die Stadt geplante Investitionen auf den Prüfstand stellen muss. Denn das Thüringer Landesverwaltungsamt gewährte der Stadt nur die Hälfte