Das Schuljahr nach Corona (E-Book). Armin Himmelrath
Corona-Zeit (2020b). Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Universitätsverlag Hildesheim.
Huber, S. et al. (2020). Schulbarometer. Zug: Institut für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie.
Hurrelmann, Klaus/Bauer, Ullrich (2019). Einführung in die Sozialisationstheorie. Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung. 13. Aufl. Weinheim: Beltz.
Robert Bosch Stiftung (2020). Das Deutsche Schulbarometer Spezial [download: https://deutsches-schulportal.de/unterricht/das-deutsche-schulbarometer-spezial-corona-krise].
Zentrum für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI) (2020). Sozial vulnerable Kinder und Jugendliche müssen in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken [download: https://www.unibielefeld.de/erziehungswissenschaft/izgk/Sozial_vulnerable_Kinder.html].
Die Autoren
Ullrich Bauer ist Professor für Sozialisationsforschung, Dekan der Fakultät für Erziehungswissenschaft und Leiter des Zentrums für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI) an der Universität Bielefeld.
Klaus Hurrelmann ist Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler. Nach langjähriger Tätigkeit an der Universität Bielefeld arbeitet er seit 2009 als Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin.
Potenzielle Auswirkungen der Corona-Krise auf soziale Ungleichheiten und Schulorganisation
Marcel Helbig
Soziale Ungleichheiten werden durch die Schulschließungen in Deutschland befördert. In diesem Beitrag werden Aspekte besprochen, die in der öffentlichen Debatte bislang weitgehend unberücksichtigt blieben: Wie sieht die Schulorganisation im Präsenzunterricht aus, wenn Lehrkräfte, die zur Risikogruppe zählen, keinen Unterricht erteilen können? Welchen Einfluss haben Mensaschließungen auf die Ernährung von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern? Corona wirkt wir ein Brennglas auf die ohnehin teils schwierigen Verhältnisse, deren Auswirkungen derzeit nur zu vermuten sind.
Über die Auswirkungen der Corona-Krise ist bislang sehr wenig systematisches Wissen vorhanden. Dies gilt im Speziellen für die Auswirkungen, die sich für Schule und Bildung abzeichnen. Auch mit diesem Beitrag können keine neuen Daten zu diesem Zusammenhang präsentiert werden. Es wird hingegen versucht, Erkenntnisse aus der empirischen Bildungsforschung auf die potenziellen Auswirkungen der Corona-Krise zu übertragen. Dabei werden zwei Schwerpunkte gesetzt. Im ersten Teil wird darauf eingegangen, welche Auswirkungen die Corona-Krise auf soziale Ungleichheiten hat. Im zweiten Teil wird auf organisatorische Probleme hingewiesen, die sich für Schulen kurzfristig und langfristig ergeben.
1Soziale Ungleichheiten und Corona
In Folge der Corona-Krise wurden seit Mitte März die Schulen geschlossen und die Schüler sollten im Homeschooling unterrichtet werden. Drei Monate später können viele Schüler die Schulen wieder besuchen. An einen Regelunterricht ist allerdings nur an wenigen Schulen zu denken. Rechnet man die Sommerferien hinzu, haben viele deutschen Schüler fast ein halbes Jahr keinen regulären Unterricht. Wie wirkt sich diese Zeit auf soziale Ungleichheiten aus, die in Deutschland auch vor Corona vergleichsweise stark ausgeprägt waren? Empirisch gibt es hierzu naturgemäß noch keine Daten. Antworten zu dieser Frage könnte das Nationale Bildungspanel ab dem nächsten Jahr geben. Bis dahin lohnt ein Blick in die USA. Hier gibt es (auch vor Corona) relativ ausgedehnte Sommerferien von bis zu drei Monaten. Einige amerikanische Studien haben untersucht, wie sich soziale Ungleichheiten im saisonalen Vergleich verändern. Die Sommerferien können als ein «natürliches Experiment» aufgefasst werden, das Aufschluss darüber gibt, wie sich die schulischen Kompetenzen verändern, wenn die Schule geschlossen bleibt. Insgesamt zeigen die amerikanischen Studien übereinstimmend, dass soziale Ungleichheiten während der Sommerferien steigen, während sie im Schuljahr eher konstant bleiben (für einen Überblick siehe Downey und Condron 2016). Die saisonalen Vergleiche aus den USA zeigen aber nicht nur wachsende Bildungsungleichheiten in den langen Sommerferien. Sie zeigen auch, dass der BMI-Index (als Maß für Übergewichtsprävalenz) in den Sommerferien gerade bei Hispanics, Afroamerikanern und Kindern aus niedrigeren sozialen Schichten stärker ansteigt als bei anderen sozialen Gruppen. Gerade in den Schulferien fehlt Kindern unterer Schichten, was Schule zumeist bereitstellt: ein gesundes Mittagessen und ungesüßte Getränke.
Diese Ergebnisse aus den USA unterstreichen also die Bedeutung des Schulbesuchs im Hinblick auf soziale Ungleichheiten von schulischen Kompetenzen und gesunder Ernährung bzw. der Ausbildung von Übergewicht. Aber sind diese Ergebnisse auch auf die aktuelle Situation in Deutschland anwendbar? Die saisonalen Vergleiche verdeutlichen im Grunde einen zentralen Wirkmechanismus:
” Schulen vermögen es, soziale Ungleichheiten der Schülerumwelt zumindest auszugleichen. Wenn Schule als Sozialisationsraum wegfällt, wirkt sich die Familie weit stärker sozial ungleich aus.
Sicherlich ist die aktuelle Situation in der Corona-Krise nicht vollständig mit den Sommerferien in den USA vergleichbar. So sollen Kinder und Jugendliche in Deutschland (wie auch in vielen anderen Ländern) weiterhin durch die Lehrkräfte instruiert werden, um mit elterlicher Unterstützung von zu Hause zu lernen.2 Insgesamt hängt das Homeschooling bzw. hängen die Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler stärker als zuvor davon ab, wie die Schülerinnen und Schüler im eigenen Haushalt durch die Eltern unterstützt werden können, welche Ressourcen im Haushalt vorhanden sind und wie anregungsreich das familiäre Umfeld ist. Im Hinblick etwa auf die Dimension Ernährung, die in den amerikanischen saisonalen Studien untersucht wurde, sollte die Situation in der Corona-Krise vollständig mit den Sommerferien vergleichbar sein. Außer für Schülerinnen und Schüler in der Notbetreuung fand keine Ausgabe von Schulmittagessen an deutschen Schulen statt. Wie sieht also die Situation in deutschen Familien aus?
1.1Ressourcen
Die sozialen Ungleichheiten in Bezug auf das Homeschooling beginnen bereits bei der Ausstattung, die für eine Umsetzung einer geeigneten Lernumwelt notwendig ist. So gaben Jugendliche der neunten Klassen aus bildungsnahen Haushalten in der letzten PISA-Untersuchung 2018 zu 95,4 Prozent an, dass ihnen ein eigener Raum zum Lernen zur Verfügung steht. Bei Kindern und Jugendlichen, deren Eltern einen geringen (oder keinen) Bildungsabschluss haben, trifft das für 82,7 Prozent zu. Auch ein Computer zur Erledigung von Hausaufgaben ist bei Kindern und Jugendlichen aus bildungshohen Elternhäusern häufiger vorhanden, auch wenn der Unterschied zu bildungsniedrigen Elternhäusern geringer ist, als man vielleicht erwarten würde (95 vs. 87,3 Prozent). Betrachtet man für diese Population, wie stark sie sich von ihren Eltern unterstützt fühlen, zeigen sich für Jugendliche aus bildungsnahen Elternhäusern deutlich höhere Werte, sowohl bei der Unterstützung beim Lernen als auch bei der emotionalen Unterstützung (PISA 2018 Datensatz, eigene Berechnungen).
1.2Anregungsreiches familiäres Umfeld
Neben der Art, wie Eltern ihre Kinder beim Lernen oder emotional unterstützen, gibt es auch andere Indikatoren, die als Merkmal eines anregungsreichen familiären Umfelds gesehen werden können. Die Stiftung Lesen fragt zum Beispiel Eltern von Zwei- bis Achtjährigen in regelmäßigen Abständen, wie oft dem Kind vorgelesen wird. Dabei zeigt sich, dass Eltern mit niedriger Bildung ihren Kindern zu gut 50 Prozent höchstens einmal in der Woche etwas vorlesen. Bei Eltern mit hoher Bildung trifft dies nur auf 21 Prozent zu. Eltern, die häufig vorlesen, beschränken ihre Aktivitäten nicht nur auf das Vorlesen. Sie erzählen ihren Kindern auch viel häufiger ein Märchen ohne Buch, erfinden eine Geschichte frei oder erzählen Geschichten zu Bilderbüchern (Stiftung Lesen 2019).
1.3Ernährung und Gesundheitsverhalten
Laut KIGGS-Studie des RKI nehmen nur 53 Prozent aller Kinder und Jugendlichen aus unteren Sozialschichten täglich ein Frühstück zu sich, während dies 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen aus oberen Sozialschichten tun. Kinder und Jugendliche aus höheren