Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten. Christoph Gassmann

Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten - Christoph Gassmann


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sieben Uhr morgens laufen die Löhne, auch wenn nun die Equipe im Winter um halb acht oder um acht noch auf den Stift warten muss. Das geht einmal, zweimal, aber beim dritten Mal hat der Stift ein ernsthaftes Gespräch mit dem Lehrmeister. Der sagt ihm: Einmal noch, dann musst du gehen, so was läuft hier nicht. Aber je nach sozialem Hintergrund ist es nicht so einfach umzustellen. Es gibt Stifte, die sich mutterseelenallein durchs Leben schlagen. Ich erinnere mich an einen Fall: Die Mutter war geschieden und hatte einen neuen Freund. Sie mietete für den Jungen also eine Einzimmerwohnung; der Vater konnte sich das leisten. So hatten Mutter und Freund ihre Ruhe – aber er war allein und stürzte ab, er kam mit der Freiheit nicht klar. Die Mutter sagte bloss: Einmal muss er ja selbstständig werden ... Erst überbehütet, dann plötzlich in die Selbstständigkeit geworfen, im Grunde nur, weil die Mutter diesen neuen Freund hatte ...

      Du spürst vielleicht, am Beruf des Berufsschullehrers hat mich nicht so sehr der Stoff interessiert, viel mehr die Menschen, die dahinterstehen.

      Wie bist du überhaupt in die Berufsbildung geraten? Du warst ja erst Primarlehrer.

      Mein Vater führte zusammen mit einem Onkel ein Maler- und Gipsergeschäft im innersten Emmental und erteilte selbst auch Unterricht, jeweils am Samstagmorgen, die Malermeister im Ort hatten drei Bundesordner mit dem Unterrichtsstoff gesammelt, und alle zwei, drei Jahre übernahm ein anderer Kollege die Ordner und das Schulehalten.

      In dieser Welt des Gewerbes und in der Berufsbildung bin ich aufgewachsen, ich habe ihren Geruch seit der Kindheit eingeatmet, habe sie gerochen, im wahrsten Sinne des Wortes ... Aber ich war Allergiker; und damit war klar, dass ich nicht Gipser oder Maler werden konnte. Was war also mit dem Jungen anzufangen? Ein Studium? Schliesslich besuchte ich das Lehrerseminar und wurde Primarlehrer.

      Die ersten beiden Stellen hatte ich in Mehrklassenschulen, fünfte bis neunte Klasse im damaligen bernischen Schulsystem. Als Vierundzwanzigjähriger übernahm ich dann erstmals eine Stellvertretung an einer Berufsschule. Ein älterer Kollege musste ins Militär, und ich vertrat ihn in seinen Mittwochslektionen. Das war in Spiez, in einer Schreinerklasse, alle Lehrjahre in einer Klasse. Der Kollege erklärte mir, ich solle als Erstes fragen, wer zur Prüfung müsse, die Schreiner lernten damals noch dreieinhalb Jahre, und alle sechs Monate musste jemand zur Prüfung. Mit den Prüflingen sollte ich noch ein wenig Staatskunde machen. Ich ging also hin, Mehrklassenschulen waren mir ja vertraut.

      Es gefiel mir gut, frag mich nicht, warum. Ich verdiente zehn Franken fünfzig pro Stunde. Die Lernenden waren kaum jünger als ich, einige sogar älter.

      Als ich sechsundzwanzig war, begann ich nebenamtlich an der Berufsschule zu unterrichten. Dann wurden Ausbildungskurse angeboten. Diese BIGA-Kurse dauerten nur ein Jahr, siebenunddreissig Stunden pro Woche, dann war man Lehrer für allgemeinbildende Fächer. Das war im Herbst 71, in Bern ... damals begannen sich die Berufsschulen erst zu professionalisieren.

      So also fand ich selbst in die Berufsbildung. Als Sechsundzwanzigjähriger ging ich nach Thun und übernahm ein Vollpensum Allgemeinbildung – das hiess damals Deutsch und Geschäftskunde (eine Mischung aus Rechtskunde, Buchhaltung, Staats- und Wirtschaftskunde).

      Nach zehn Jahren hatte ich davon aber genug – das war 1982. Zufällig lernte ich damals in der Kantine jemanden kennen, einen Unbekannten an der Schule. Ich setzte mich zu ihm und fragte, wer er sei. Er unterrichte die erste Anlehr-Klasse, sagte der Mann. Was das denn sei, die Anlehre? Er erzählte mir, was er für Schüler hatte, und ich dachte bei mir, das klingt interessant. Bis dahin hatte ich Laboranten unterrichtet – begabte Lehrlinge, die sich nicht am Lernen hindern lassen, wie auch immer man sie unterrichtet. Ich klopfte beim Rektor an und meldete ihm mein Interesse für eine nächste Anlehr-Klasse.

      Mit den Anlehrlingen funktionierte nun allerdings mein übliches Unterrichtskonzept nicht mehr. Da erst begann ich mich mit dem Thema Lernen ernsthaft zu befassen – als nichts mehr ging. Bei den Begabten spielte es kaum eine Rolle, wie ich Schule hielt. Die hätten auch von einem Holzklotz gelernt.

      Seither hatte ich querbeet alle möglichen Lehrlinge: eine Berufsmaturitätsklasse, immer noch die Laboranten, dazu irgendeinen gewerblichen Beruf und die Anlehr-Klassen.

      Das war aber letztlich ein zu grosser Spagat. Als Erstes gab ich die BM auf. Dann dislozierten die Laboranten von Thun nach Bern. Eine Weile hatte ich je fünfzig Prozent Anlehrlinge und Polymechaniker, 1991 stieg ich schliesslich am damaligen SIBP, dem heutigen EHB, mit 40 Prozent in die Lehrerweiterbildung ein.

      Schon Ende der Achtzigerjahre hatte ich die Gestalt-Ausbildung nach Fritz Perls gemacht, weil ich merkte, dass mein Handwerkszeug für den Umgang mit schwächeren Jugendlichen nicht reichte. Der Kollege, der Anlehrlinge unterrichtete, und ich beschlossen, uns um Zusatzausbildungen zu kümmern. Er beschäftigte sich mit Heilpädagogik, ich wollte mich eher mit der Verhaltensseite befassen, so lernte ich Soziotherapeut am Perls-Institut.

      Am Ende der Gestalt-Ausbildung begann ich am damaligen SIBP Weiterbildungskurse anzubieten, zusammen mit einem Kollegen, 1991, das war die Zeit, als das Gefühl aufkam, die Schweiz habe technologisch den Anschluss verpasst. Das SIBP bekam Geld für neue Angebote, Intensivweiterbildung, die ein halbes Jahr dauerte, das konnte man damals mit Bundesgeldern aufbauen. Die Leiter waren Dozierende des SIBP, und sie suchten also Kollegen aus der Praxis. Das Modell war, im Tandem Wissenschaft/Praxis zu unterrichten. Ich bewarb mich und bekam den Job. Von diesem Zeitpunkt an unterrichtete ich vierzig, später fünfzig Prozent am SIBP. Das war nicht immer einfach, beide Arbeitgeber hatten das Gefühl, ich arbeite voll für ihre Institution und müsse und könne bei jeder Sitzung dabei sein.

      In den letzten Jahren lag das Verhältnis dann bei siebzig zu dreissig, siebzig Prozent EHB, dreissig Prozent Unterricht an der Schule.

      Seit 2004, als das neue Berufsbildungsgesetz in Kraft trat, fungierte ich auch als pädagogischer Begleiter bei den Berufsreformen im Auftrag des EHB. Seither machten solche Begleitungen zwanzig, manchmal auch dreissig Prozent meiner Arbeitszeit aus.

      So war ich also immer in der Berufsbildung, in immer wieder neuen Rollen und Funktionen.

      … ein breites Spektrum von Funktionen, die du da kennengelernt hast.

      … ich kenne so viele Facetten der Berufsbildung, eben komme ich von einem Gespräch mit Vertretern des Schweizer Plattenlegerverbandes, die ich bei der Bildungsplan-Revision begleitet habe. In diesem Beruf gibt es viele schwächere Lernende, der Verband hat deshalb eine zwei- und eine dreijährige Grundbildung konzipiert. Jetzt stehen die Meister, die Lehrlinge einstellen, vor der Frage, nach welchen Kriterien sie die Kandidaten einstufen sollen, und wir haben versucht, ein Instrument zu entwerfen, mit dessen Hilfe die Lehrmeister einen Entscheid fällen können – mit Aufgaben, wie sie in der Grundbildung im ersten Lehrjahr tatsächlich vorkommen. Wieder eine ganz neue Art, ein ganz neuer Zugang zur Berufsbildung – ich habe längst nicht mehr das Gefühl, ich sei «einfach Lehrer». Ich bin berufsbildungsgetränkt.

      Dabei hast du nun einen ganz speziellen Bezug zu den Anlehren bzw. Attestlehren, den schwächeren Lernenden.

      Ja, Lernende mit Schwierigkeiten, das interessiert mich ganz besonders.

      Ich selbst war eigentlich ein guter Schüler, ich litt höchstens an bestimmten Lehrern, das heisst unter ihrer Pädagogik. Ich ging in eine Land-Sekundarschule, damals war es so, dass kein Tag verging, ohne dass ein Schüler eine Watsche bekam oder eins auf die Finger mit dem Lineal, oder der Lehrer warf ihm den Schlüsselbund an den Kopf, das war bei uns in Langnau noch üblich. Nie hätte sich ein Vater oder eine Mutter empört, dass ein Lehrer ihr Kind gchläpft hätte. Du brauchtest also zu Hause gar nicht erst zu erzählen, dass der Lehrer dir eine geschmiert hatte.

      Ich selbst litt vor allem unter dem Klima – das war nicht die Art von Pädagogik, die ich mir vorstellte.

      Und trotzdem bist du Lehrer geworden ... Ich kenne das aus eigener Erfahrung: Man empfindet Distanz zur Schule, manchmal sogar Hass, weil es Lehrer gab, die einen zwar nicht schlugen, aber sonst drangsalierten. Und trotzdem diese Faszination für den Beruf. Der Hass hielt einen nicht davon ab, das Lernen und die Institution Schule spannend zu finden.

      Ich habe Kinder immer gemocht, habe immer


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