Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten. Christoph Gassmann
habe, zum Beispiel bei den Malern oder Carossierlackierern, hat es aber oft Türken. Wenn sie erfahren, dass auch eine Türkin gut Deutsch sprechen kann, ist das für sie motivierend: Gut Deutsch zu sprechen, ist machbar. Dass Deutsch nicht meine Muttersprache ist, war also nie ein Problem.
In Klassen mit hohem Migrantenanteil finde ich meist schnell den Draht zu den Schülern. Manchmal geht es so weit, dass sie mich beknien, etwas auf Türkisch zu sagen, weil sie nicht glauben wollen, dass ich Türkin bin. Das mache ich dann, das ist immer sehr lustig.
Ich hatte mit solchen Klassen auch nie disziplinarische Probleme, es gab keine Widerstände. Obwohl ich viel fordere, machen die Lernenden mit. Das sind Indizien für mich, dass die Akzeptanz da ist. Es gibt kein Misstrauen, im Gegenteil.
Es gibt nicht viele ABU-Lehrpersonen mit Migrationshintergrund ...
Das ist richtig. Allerdings ist es in der Schweiz schwer zu erkennen, ob jemand einen Migrationshintergrund hat, es könnte auch ein Tessiner sein oder eine Welschschweizerin. Es kommt auch darauf an, wen man dazuzählen will. Deutsche gelten in diesem Diskurs ja kaum als Migranten? Deutschen bin ich im Studium einigen begegnet. Ich habe mit ihnen aber nie über ihre Schwierigkeiten hinsichtlich der Akzeptanz gesprochen. Dieses Thema existiert für mich auch eigentlich gar nicht.
Im Ernst?
Als ich in die Schweiz kam, studierte ich zuerst an der Hochschule Luzern Kulturmanagement, dann arbeitete ich beim Forum Claque in Baden, besorgte dort die Öffentlichkeitsarbeit, Presse usw. Im Kulturbetrieb fragte niemand, woher ich kam. Das fand ich sehr angenehm, die Herkunft war bedeutungslos, Hauptsache, man machte seine Arbeit gut. Das ist auch mein Arbeitsverständnis. Mit dieser Kulturalisierung, Ethnisierung kann ich nichts anfangen. Ich enttäusche in der Schweiz oft mein Gegenüber, wenn ich mich nicht als Kurdin oute. Dieses Kokettieren mit dem Ethnischen ist ein Zeichen des Zeitgeistes, das ist nicht mein Ding. Ich möchte einfach gute Arbeit leisten.
Es ist ja vielleicht der Impuls, verstehen zu wollen, warum die Menschen so sind, wie sie sind, warum sie sich auf eine bestimmte Art verhalten. Die Verhaltensweisen, die Denkweisen sind ja doch oft spürbar unterschiedlich, sie unterscheiden sich natürlich von Mensch zu Mensch, aber man überlegt sich, ob es vielleicht auch mit der Herkunft zu tun haben könnte. Und ich möchte’s ja verstehen ...
Das kann ich nachvollziehen. Tatsächlich reagieren die Schüler oft auf besondere Weise, je nachdem, woher sie kommen. Schüler aus Ex-Jugoslawien reagieren auf bestimmte Aussagen oder Inhalte anders als Schweizer, das verstehe ich, darauf kann ich mir einen Reim machen.
Von «Migrationshintergrund» zu sprechen, ist ohnehin sehr unpräzise.
Heutzutage bedeutet es nichts, wir sollten wegkommen davon ... Anderseits bedeuten Unterschiede ja auch eine Bereicherung. Aber ich möchte gar nicht darüber reden.
Wie sind Sie denn zum Unterrichten gekommen?
Neben meinem Hauptstudium in Germanistik hatte ich in Istanbul auch Zusatzzertifikate in Pädagogik, Didaktik und «Psychologie der Pubertät», wie es damals so schön hiess, erworben.
So ganz ohne pädagogischen Background bin ich also nicht ins Unterrichtsgeschäft eingestiegen. In der Schweiz arbeitete ich parallel zu meiner Tätigkeit im Kulturmanagement in einem Schulheim auch schon lerntherapeutisch und heilpädagogisch, mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen, aber immer im Einzelunterricht.
Ich hatte mir, als ich in die Schweiz kam, überlegt, ob ich in meinem Forschungsgebiet weiterarbeiten wollte. Aber da ich mich in Istanbul stark auf das Sprachenpaar Deutsch-Türkisch spezialisiert hatte, konnte ich damit hier nicht viel anfangen. Natürlich hatte ich nie daran gedacht, dass ich einmal in der Schweiz leben würde, ich war davon ausgegangen, dass ich in Istanbul leben und im Laufe meiner akademischen Karriere irgendwann Professorin werden würde. Meine Kollegen sind es geworden, und vom Alter her wäre ich inzwischen auch so weit.
Bereuen Sie es, dass es nicht so gekommen ist?
Auf keinen Fall. In der Schweiz hatte ich die Möglichkeit, in verschiedenen Gebieten zu arbeiten und neue Einblicke zu gewinnen. Ich sehe das als grosse Bereicherung.
Und ABU zu unterrichten, ist etwas vom Vielfältigsten, was es gibt, ich bin immer noch erstaunt, mit welcher Vielfalt von Fragen und Themen ich mich täglich auseinandersetze.
Wie sind Sie denn zum ABU gekommen?
Das war Zufall. Nach jahrelanger Arbeit mit Verhaltensauffälligen wollte ich etwas anderes machen, ich hatte das Gefühl, ich hätte die Relation zum «Normalen» verloren, diese Eins-zu-eins-Situationen mit Kindern und Jugendlichen waren mir allmählich zu nah, die Einzelschulung dauerte immer ein Jahr, da ergibt sich eine sehr enge Beziehung zu einem Menschen, und ich empfand es als auslaugend, es war mir allmählich zu viel Auffälligkeit, ich brauchte wieder die Distanz – zur Klasse, zur Gruppe. Im Kulturmanagement wollte ich auch nicht mehr arbeiten, wollte nicht mehr wegen jedem Rappen streiten (Sponsoring und Fundraising gehörten auch in meinen Aufgabenbereich). Kulturmanagement ist ein hartes Pflaster. Es ist ein Überlebenskampf, gerade in der freien Szene. Und die Gelder werden ständig gekürzt ... Von einem bestimmten Punkt an kann man die Qualität nicht mehr bieten, die von einem verlangt wird. Kurz: Es hat mich zu wenig genährt, innerlich.
So habe ich mich auf die Suche gemacht und bin auf ein Zeitungsinserat gestossen, in dem eine ABU-Stelle angeboten wurde. Ich habe mich beworben.
Wussten Sie denn, was ABU ist?
Ich hatte keine Ahnung, hatte noch nie davon gehört – wirklich nicht. Ich machte mich dann im Internet kundig und fand, das klinge vielfältig, das könnte spannend sein.
Ich wollte unterrichten. Ich arbeite gerne mit jungen Menschen zusammen und begleite sie gern ein Stück weit, es ist im Gegensatz zu dem, was ich im Kulturmanagement erlebt habe, eine sehr nährende Sache.
Ich kenne Schweizer, die nichts mit der Berufsbildung zu tun haben, die auch nicht wissen, was ABU ist. Wenn man sagt «allgemeinbildender Unterricht», stellen sie sich etwas Uferloses vor, ein grenzenloses Feld: «Wie kann man denn so etwas unterrichten?»
Es ist tatsächlich uferlos, drei, vier Jahre braucht es schon, bis man sich einigermassen eingearbeitet hat. Am Anfang ist man erschlagen, mir jedenfalls ging es so, man sieht vor lauter Meer den Horizont nicht und versucht, sich eben über Wasser zu halten, und dieses Sich-über-Wasser-Halten ist eine extrem zeitaufwendige Sache. Natürlich gibt es das System des Mentorats. Trotzdem, auch wenn der Mentor, die Mentorin einem zum Beispiel Arbeitsunterlagen oder Bücher in die Hand drückt, muss man sich in die Materie erst einmal einarbeiten. Ich hatte doch keine Ahnung von Kauf-vertrag oder von den Dingen, die man als Schweizer Konsument wissen muss, oder von den Pflichten eines Lehrlings, und diese Liste von Themen und Fragen ist sehr, sehr lang. Sich in diese Materie so weit einzuarbeiten, bis man vor der Klasse stehen kann mit einer inneren Sicherheit, dem Gefühl, sich den Stoff einigermassen erarbeitet, die eigenen Wissenslücken so weit geschlossen zu haben, dass man glaubwürdig ist, das braucht Zeit. Es kommt immer noch vor, dass ich eine Frage nicht beantworten kann. Aber ich habe heute einen guten Umgang mit Lücken gefunden. Ich bin kein wandelndes Lexikon, auch ein ABU-Lehrer weiss nicht alles, aber ich kann sagen: Ich gehe dieser Frage nach. Diese Offenheit, diese Kultur des Auch-nicht-wissen-Dürfens, das akzeptieren die Schüler, wenn man es selbst nicht als Defizit darstellt. Aber in der nächsten Unterrichtsstunde muss die Information geliefert werden. Die Schüler vergessen vielleicht, dass da eine offene Frage war, die Lehrperson darf es nicht vergessen, sie muss darauf zurückkommen.
Sie können ihre Fragen auch auf einem Flipchart notieren, einen Fragenpool sammeln. Und manchmal wissen die Schüler auch mehr zu einem Thema, sodass sie dann selbst Antworten geben können, das ergibt ein sehr befruchtendes, sehr natürliches Lernklima.
Die Breite des Stoffs ist bestimmt eine Herausforderung, aber eine andere liegt bei den Lernenden, nehme ich an.
Absolut. Ich hatte ja schon fast alle Alterskategorien unterrichtet – bis hin zur Tertiärstufe. Die einzige Stufe, die fehlte, war die Sekundarstufe II, die Jugendlichen. Aber das ist etwas vom Herausforderndsten,