Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten. Christoph Gassmann

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sie immer wieder heraus aus dem Erwachsenenleben.

      Aber es kommt auch darauf an, wie man unterrichtet, aufs Unterrichtskonzept, aufs Unterrichtsverständnis. Handlungsorientierung und Unselbstständigkeit, das wäre ja ein innerer Widerspruch. Bei handlungsorientiertem Unterricht geht es genau darum, dass die Lernenden selbstständig handeln. Durch das eigene Lehrerverhalten kann man vermeiden, dass die Schüler in Unselbstständigkeit gehalten werden. Wir sollen sie ja zu selbstständigen Menschen erziehen ...

      Wie machen Sie das?

      Ich mache es nicht immer ... Aber der handlungsorientierte Ansatz bringt das, glaube ich, «automatisch» mit sich. Wenn sich die Lernenden Inhalte selbst erarbeiten, sind sie selbst aktiv, sie müssen selbst aktiv werden. Bei Projektarbeiten müssen sie sich den Stoff selbst aneignen. Natürlich leiste ich pädagogische Hilfestellung, ich führe sie dorthin. Aber ich präsentiere ihnen nicht fertige Mahlzeiten.

      Haben Sie von Anfang an so unterrichtet?

      Nein, das musste ich erst lernen. Ich musste es ausprobieren, das ABU-Studium an der Uni Zürich hat mir darin sehr geholfen und hat mir die Augen geöffnet.

      Als ich ABU zu unterrichten begann, habe ich vielleicht allzu sehr auf die Eigenständigkeit der Lernenden gebaut. Wenn ich Arbeitsanweisungen gab, ging ich zu Beginn davon aus, dass sie machen würden, was ich verlangte.

      Ich habe zu wenig Kontrollinstrumente eingebaut, weil ich von diesem Selbstverständnis ausging. Da stand mir vielleicht auch meine Arbeitserfahrung im Tertiärbereich im Weg. Wenn ich Studierenden einen Projektauftrag gab, war es selbstverständlich, dass sie zum vereinbarten Zeitpunkt nach den Vorgaben liefern würden. An der Uni in Istanbul hat das funktioniert. Hier, auf der Berufsschulstufe, hat es nicht mehr funktioniert. Dort war ich als Dozentin per se eine Autorität, nicht nur weil ich autoritär auftrat. Dort wird das akzeptiert, es wird sogar erwartet und gehört zum Berufsbild. Hier bin ich nicht autoritär, und es braucht Zeit, bis einem Autorität zugestanden wird, ohne dass man autoritär wäre. Die Lehrperson muss ihre Kompetenz im Fachgebiet beweisen.

      Ich bin also allzu sehr von meiner eigenen Lernbiografie ausgegangen. Ich habe das Verantwortungsbewusstsein zu hoch gewichtet. Das war wohl der grösste Fehler. Diese eher zurückhaltende Art der Begleitung war in der Berufsschule nicht adäquat, ich habe zu viel erwartet, wenigstens was die Einstellung der Schüler zum Lernen anging. Ich habe sie damit überfordert. Das habe ich sehr schnell realisiert.

      Woran haben Sie das gemerkt?

      Die Schüler reagieren ... sie lassen die Lehrperson sehr deutlich und schnell spüren, was sie nicht wollen, da muss man gar nicht lange suchen. Dieser mangelnde Respekt, diese Protesthaltung, das kommt sehr schnell zum Ausdruck. Das ist es auch, was einen wach hält ...

      Dass zum Beispiel Beurteilungskritieren hier so transparent sein müssen, das musste ich erst lernen. Beurteilungskritierien hat ein Student in Istanbul nie hinterfragt, weil ich die Autorität war, und es wäre eine Missachtung der Autorität, wenn man hinterfragen würde. Ich musste mein ganzes Lehrerverständnis umkrempeln, als ich hier in der Berufsschule anfing. Die kulturellen Differenzen sind spürbar ...

      Ich habe kürzlich erst meinen Vater verloren. Und zum ersten Mal fiel mir beim Totengebet in der Moschee auf, dass in der Türkei die Seelen der toten Lehrer erwähnt werden. Man wünscht ihnen, dass sie im Paradies ihre Ruhe finden. Das ist ein Teil der Litanei des Hodschas. Man betet für den Verstorbenen, für Atatürk, und dann kommen die Lehrer, kein anderer Beruf, nur die Lehrer. Das wurde mir beim Begräbnis meines Vaters zum ersten Mal bewusst.

      Atatürk hat grossen Wert darauf gelegt, dass der Lehrerberuf diesen Status bekam. Es gibt in der Türkei ja sogar einen Tag der Lehrer, am 24. November. Aber schon vor der Säkularisierung der Türkei gab es die Hodschas, die grosse Achtung genossen, sie waren unumschränkte Autoritäten. Auch autoritäres Verhalten wird in der Türkei geduldet, das gehört dazu, der Respekt gegenüber der Autorität.

      In einer solchen Kultur war ich also Dozentin gewesen.

      Dass mich meine Schüler hier mit Namen ansprechen, dass ich für sie einfach Frau Dal bin, daran musste ich mich erst gewöhnen. In der Türkei wird ein Lehrer nicht mit Namen angesprochen, sondern mit «Hodscham» oder «Öğretmenim», «mein Lehrer». Ich musste also umdenken.

      Klar ist jedenfalls, dass ich zum Beispiel mit türkischen Schülern überhaupt keine Probleme habe. Sie haben Respekt, wenn ich «als türkische Lehrerin» vor ihnen stehe, vermutlich weil sie diese Rollenzuschreibung von ihrer Kultur auf mich übertragen.

      Vielleicht verkörpern Sie ja Ihre Rolle gegenüber diesen Schülern anders?

      Ja, die Schüler finden, ich sei eine strenge Lehrerin. In einer Evaluation schrieb eine Schülerin einmal, ich sei die einzige Lehrerin, die die Klasse im Griff habe, und das sei auch gut so. Mit mehreren Ausrufezeichen. Ich glaube, dass Schüler das wollen, eine strenge Führung, eine klare Struktur. Je schwächer die Schüler sind, desto mehr sollte man strukturieren. Das weiss ich auch von meiner lerntherapeutischen Arbeit. Schwache Schüler brauchen sehr starke Strukturen. Nicht, dass meine Schüler aufstehen müssen, wenn ich den Raum betrete ...

      Wir mussten noch aufstehen ... und beten zu Beginn der Stunde.

      In der Türkei mussten wir zu Beginn der Stunde im Gymnasium auch aufstehen. Bis die Lehrerin oder der Lehrer befahl: Setzen! Und wenn wir etwas zu sagen hatten, mussten wir ebenfalls aufstehen. Wenn ich das von meinen Schülern verlangen würde, würde es zu allgemeiner Erheiterung führen.

      Was meinen Sie denn mit «streng»?

      Ich will zum Beispiel nicht, dass sie ihre Baseballmützen aufbehalten. Die müssen sie bei mir ablegen. Das wird als sehr streng empfunden. Oder dass ich Süssgetränke nicht zulasse, weil ich sie als ungesund erachte, die sind allerdings auch in der Hausordnung verboten. Pünktlichkeit ist mir wichtig, da bin ich Vorbild. Ich bin immer pünktlich, ich komme zum Beispiel nie zu spät aus der Pause.

      Sie sind also auch streng mit sich selbst?

      Eher ja, es ist aber auch so, dass ich vorlebe, was ich einfordere. Die Schüler können mir nicht den Vorwurf machen, dass ich etwas verlange, was ich selbst nicht einhalte, sie haben diese Angriffsfläche nicht, wenn sie angreifen wollten ... Ich trage auch keine Mütze.

      Aber wegen der Baseballmützen streiten sie mit mir.

      Wo liegt in dieser Hinsicht das Problem?

      Ich habe meine Schmerzgrenzen ...

      Ich meine: mit den Baseballmützen, was ist daran problematisch? Über diese Frage wird ja viel diskutiert, ich verstehe bloss nicht, worum es dabei genau geht ... Wie begründen Sie Ihr «Verbot»?

      Ich sage ihnen, dass sie bei einer Sitzung im Betrieb auch keine Mütze tragen. Es gibt an vielen Orten eine Kleiderordnung. Diese Mützen gehören zur Freizeitkleidung. Und Schule ist nicht «Freizeit». Sie kommen nicht zur Schule, um Spass zu haben – obwohl Lernen auch Spass machen soll. Lernen tut aber auch weh, Lernen ist auch «Krampfen». Die Schüler sind nicht im Ausgang, sie sind nicht in ihrer Peergroup, sie sind im Unterricht. Es braucht auch äusserliche Abgrenzung, Abgrenzungsrituale.

      Aber es ist natürlich auch eine Art Machtkampf, mir gefallen diese Mützen schlicht nicht. Ich will die Schüler sehen, ich will wissen, wohin sie schauen, ich will Blickkontakt mit ihnen.

      Und darum kämpfen Sie?

      Nein, ich sage, was ich will, und das wird umgesetzt. Es hat bisher immer funktioniert. Die Schüler haben ein feines Sensorium. Sie spüren, was der Lehrperson wichtig ist, was sie ernst meint. Ich muss solche Dinge ein-, zweimal sagen, dann klappt das.

      Das finde ich interessant ... Wenn man Regeln aufstellt, wenn man Gesetze erlässt, muss man sich ja immer überlegen, wie man sie durchsetzt, wenn sie nicht eingehalten werden. Welche Sanktionen gibt es, wenn die Autorität angezweifelt oder untergraben wird, wenn die «Ausstrahlung» nicht funktioniert?

      Das ist mir noch nie passiert, ich kann die Frage gar nicht beantworten.


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