Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten. Christoph Gassmann

Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten - Christoph Gassmann


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werden bald der Vergangenheit angehören. Lernende sind heute mobil und Lernen nicht mehr zwingend orts- oder raumgebunden.

      Dass wir auch in der Berufsbildung in einer sich rasant verändernden Zeit leben, macht sich an einigen meiner Aussagen im Interview gut bemerkbar: Ich werde nie auf Facebook sein, antworte ich an einer Stelle. Heute würde ich es nicht so strikt formulieren, obwohl ich weiterhin nicht auf Facebook bin – wobei nicht auf Facebook zu sein, heutzutage schon fast verdächtig ist. Meine Haltung bezüglich sozialer Netzwerke ist inzwischen weniger kategorisch ablehnend; diese Netzwerke lassen sich für das ortsungebundene Lernen und Austauschen nutzen. Lernende oder ehemalige Schüler schicken mir heute zum Beispiel Einladungen für Linkedin, die ich annehme, da ich nun auch einen Linkedin-Account habe. An einer anderen Stelle spreche ich vom handlungsorientierten Unterricht, wo doch heute fast nur noch der kompetenzorientierte Unterricht salonfähig zu sein scheint, obwohl beide Unterrichtsformen sich überhaupt nicht ausschliessen, abgesehen vom selbstorganisierten Lernen, das momentan in aller Munde ist und Akzeptanz geniesst. Die Lehrperson ist dann allenfalls noch Coach.

      Würde ich auf alle anderen Fragen meines Interviewpartners heute genauso antworten, habe ich mich gefragt, insbesondere auf Fragen, die die Person des Lehrers betreffen? Die Antwort ist eindeutig ja. Ich führe Klassen eng, und klare Strukturen sind mir weiterhin wichtig. Ich bin immer noch der Überzeugung, dass die Lehrperson einen grossen Einfluss auf den Lernerfolg hat. In einem Abschiedsbrief haben Lernende mir kürzlich geschrieben, sie seien immer gerne in meinen Unterricht gekommen, obwohl ich die strengste Lehrerin war; eine Klasse versicherte mir, sie würden an der Schlussprüfung den besten Notendurchschnitt schaffen und mich «stolz machen», was sie übrigens tatsächlich erreicht haben, eine andere Schülerin schrieb, ich hätte ihnen die Augen geöffnet für die Welt und ich sei ihnen ein Vorbild gewesen.

      Solche Rückmeldungen sind mir eine Bestätigung für die Rolle, die ich als Lehrperson in meinen Klassen einnehme. Auch vier Jahre nach dem Gespräch kann ich mit Überzeugung wiederholen, dass dies ein Beruf ist, der erfüllt.

       Mine Dal, September 2014

      «Immer auf Kontrolle bedacht» – Perfektionismus als Last und Pflicht – Yvonne Steiner

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      «Immer auf Kontrolle bedacht» – Perfektionismus als Last und Pflicht

      Yvonne Steiner, gelernte Fachfrau Gesundheit, Berufsfachschullehrerin an der Höheren Fachschule Pflege des BZSG, St. Gallen, Erwachsenenbildnerin

      Es ist ein ziemlich schmaler Grat: Im beruflichen Alltag kann Perfektionismus die Gefahr eines Burn-outs heraufbeschwören. In der praktischen Ausbildung von Pflegefachleuten ist das Streben nach Präzision Pflicht. In diesem Sinne scheint Yvonne Steiner, Berufsfachschullehrerin am St. Galler Berufs- und Weiterbildungszentrum für Gesundheits- und Sozialberufe, den Weg gefunden zu haben, der zu ihrer Persönlichkeit passt.

       Schon ein Jahr nach Abschluss ihrer eigenen Lehre übernahm sie die Verantwortung für die angehenden Pflegefachleute auf ihrer Abteilung des St. Galler Kantonsspitals. Mit siebenundzwanzig Jahren begann sie an der höheren Fachschule (HF) für Pflege zu unterrichten, zunächst mit einem kleineren Pensum, inzwischen ist sie aus der Praxis ausgestiegen und unterrichtet im Siebzig-Prozent-Pensum an der HF. Im August 2011, als das Gespräch stattfand, hatte sie gerade ein Master-Studium an der PH St. Gallen abgeschlossen, das sie parallel zu ihrer Ausbildungstätigkeit absolvierte.

       Seither ist Yvonne Steiner an der HF für Pflege im Tutorat und Skills-Training tätig. Zudem erteilt sie am Zentrum für berufliche Weiterbildung (ZbW) Kurse für angehende Erwachsenenbilder und Berufsbildnerinnen.

       Sie ist inzwischen auch Mutter eines kleinen Jungen, Lio Valerio.

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      Warum sind Sie nach Ihrer Berufslehre so rasch in die Ausbildung hinübergewechselt?

      Ich habe bald gemerkt, dass ich einen guten Draht zu den Auszubildenden hatte, ich konnte gut vermitteln, es fiel mir nicht schwer, auch einmal Kritik anzubringen ...

      In diesem Beruf gibt es ja zahlreiche Handlungen und Tätigkeiten, die präzisen Normen und Kriterien genügen müssen. Beim Wechseln eines Verbandes muss ich zum Beispiel die Regeln der Hygiene beachten. Zu vermitteln, wie man eine solche Handlung korrekt ausführt, reizte mich bald mehr als die eigentliche Pflegearbeit, vielleicht auch deshalb, weil ich immer auf Kontrolle bedacht bin. Ich möchte immer alles hundertprozentig unter Kontrolle haben. Das ist zuweilen ein Stressfaktor und hat mich bei der Arbeit oft belastet. Ich konnte und kann mich aber nicht mit «weniger» zufrieden geben, muss immer ans Limit gehen.

      Unter tragischen Umständen – ein Todesfall – wurde dann die Stelle der Ausbildnerin plötzlich frei, das war der Grund, weshalb ich so früh in die Ausbildung gerutscht bin. Aber ich mochte diese Arbeit auf Anhieb, das Vorzeigen, das Auf-Erfolge-Hinarbeiten.

      Wie lernt man denn in Ihrem Beruf die «korrekten» Handgriffe und Tätigkeiten?

      Mittlerweile ist es ja auch an höheren Fachschulen so, dass den Studierenden Modelle zur Verfügung stehen – oder Attrappen, sie kleben sich zum Beispiel eine Wunde auf, es gibt hautähnliche Präparate, an denen sie mit dem Material, das ihnen im Spital zur Verfügung steht, üben können.

      In der Klinik haben sie dann natürlich den Menschen vor sich, nicht eine Attrappe. Da gilt es dann weiterzuüben, nicht nur die Tätigkeit selbst, sondern das Managen der Tätigkeit am Menschen. Schule allein reicht deshalb nicht, es braucht immer auch die Praxis. In der Schule lernen sie selbstverständlich auch die theoretischen Grundlagen kennen. Dies geschieht hauptsächlich im Tutorat.

      Man lernt, indem man tut, so weit klar ... Aber wie geht das genau vor sich? Solches «Lernen» geschieht ja nicht nur «im Kopf», es geht auch um etwas Motorisches. Und eine Handlung kann man auch zehnmal falsch machen. Worauf kommt es denn an, dass sich die Handlung verbessert? Dass sie irgendwann sitzt, perfekt ist – oder fast perfekt?

      Es hat etwas mit dem Live-Modell zu tun: Ich mache vor, und die Lernenden sehen, wie es korrekt gemacht wird. Wichtig ist auch zu wissen, warum man etwas auf welche Weise tut, aus welchem Grund etwas funktioniert. Dann braucht es ein bestimmtes Lernumfeld, Personen, die einem auf diesem Weg helfen, die einen unterstützen: Ausbildnerinnen, Vertrauenspersonen, Lehrer, Kolleginnen – Menschen, die von aussen zusehen und Feedback geben. Etwas vom Wichtigsten ist schliesslich das Üben, damit sich etwas längerfristig festsetzt: Lernen, egal, ob es sich um einen Denkvorgang handelt oder eine manuelle Tätigkeit, geschieht vor allem über ständiges Wiederholen.

      Oft gibt es aber durchaus mehrere mögliche Wege, nicht nur den einen. Jeder lernt anders, jeder ist auch im Hinblick auf Geschicklichkeit anders.

      Ich muss im Übrigen nicht jeden Handgriff perfekt beherrschen: Im Team ergänzt man sich; was ich nicht so gut kann, kann eine andere vielleicht besser.

      Wie läuft bei euch das Studium?

      An unserer Schule haben wir ein problembasiertes Curriculum. Das Studium – besser gesagt: die erweiterte Grundbildung – ist in Themenblöcken aufgebaut, jedes Thema wird anhand von verschiedenen «Fällen», also Problemstellungen, erarbeitet. So gibt es zum Beispiel einen Block über Palliation und Sterbebegleitung, da wird etwa die Krebsentstehung behandelt, Pflegemassnahmen, alle Themen um die letzte Lebensphase – und immer anhand von Fällen. Auch im Skills-Training gibt es immer mehrere Fälle und Aufgaben dazu und eine oder zwei Handlungen, die die Studierenden dazu lernen müssen.

      Ein Wochenablauf kann dann zum Beispiel so aussehen: Ausgangspunkt ist vielleicht eine Chronic Obstructive Pulmonary Disease (chronisch obstruktive Lungenkrankheit, abgekürzt COPD). Im Tutorat lernen die Studierenden das Krankheitsbild kennen, sie erarbeiten sich das theoretische Wissen. Dann kommen sie ins Skills-Training und lernen hier, wie sie zum Beispiel eine Inhalation verabreichen. Daneben haben sie eine Vorlesung über die


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