Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten. Christoph Gassmann

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kann.

      Was geschieht mit solchen Themen in eurer Ausbildung? Was geschieht, wenn jemand mit einem gewissen Menschenbild in die Ausbildung kommt? Wird auch daran gearbeitet?

      Es gibt bei uns zum Beispiel eine «transkulturelle Woche», dort ist die Haltung gegenüber Menschen aus anderen Kulturen Thema.

      Auch beim Üben bekomme ich gewisse Haltungsvoraussetzungen mit, zum Beispiel im Rollenspiel. Manchmal provoziere ich das auch explizit und sage: Spielen Sie jemanden, der nur schlecht Deutsch kann. Dann sehe ich ja, wie die Studierenden diese Personen spielen, mit Respekt oder karikiert. In solchen Situationen kann ich Haltungsthemen aufnehmen und nachfragen. Manchmal kommt dann eine abwehrende Antwort oder eine Ausflucht. Aber schon dadurch, dass es angesprochen wird, ist die Studierende zum Überdenken gezwungen, sie spürt oder merkt, dass sie etwas Fragwürdiges gesagt oder getan hat – Nachhaken führt zu Betroffenheit, die Motivation für eine Änderung bewirkt.

      Wieso sind Sie eigentlich selbst in die Pflege gegangen?

      Das habe ich mich oft gefragt. Ich wollte eigentlich kreativ sein können, zum Beispiel im grafischen Bereich. Oder zur Swissair, Stewardess, das hätte mir gefallen, wegen der Reisen, der Sprachen ... In die Pflege bin ich dann mit achtzehn «hineingerutscht», es ist wohl auch eine gewisse familiäre Prägung dabei. Meine Mutter arbeitet in der Pflege, auch die Schwester. Meine Urgrossmutter war Hebamme. Eigentlich weiss ich bis jetzt nicht genau, was am Ende den Ausschlag gegeben hat.

      In der Schule merkte ich bald, dass viele meiner Kolleginnen anders dachten als ich, sie lebten für den Beruf, ich machte die Arbeit zwar gern und mit viel Herzblut, aber ich wusste auch immer, dass mir anderes ebenso wichtig war. In der Lehrerinnenrolle habe ich mich gleich viel wohler gefühlt. Mein Vater war übrigens Berufsschullehrer.

      Sie kombinieren also die Berufe Ihrer Mutter und Ihres Vaters ...

      Genau. Interessant ist vielleicht auch dies: In den Pflegeberufen spielt das Thema Burn-out eine grosse Rolle, viele sind betroffen, das Risiko «auszubrennen» ist gross. Bei den Lehrpersonen ist es ähnlich. Und das ist eines meiner grossen Themen: Leistungsdruck und der Umgang damit.

      Meine Mutter habe ich im Beruf nicht mitbekommen, sie war damals Hausfrau und hat zu uns Kindern geschaut, später arbeitete sie im Drogeriebereich, erst jetzt ist sie wieder in der Pflege tätig. Beruflich war meine Mutter in diesem Sinne nicht Vorbild, allerdings im Menschlichen – von ihrer Art her beide Eltern, ihre Güte, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit. Meine Eltern würden jederzeit hinter mir stehen, egal, was ich tun würde. Sie würden sich kritisch äussern, aber trotzdem hinter mir stehen. Das war schon immer so. Als Jugendliche war ich nicht einfach. Ich war rebellisch. Ich befolgte Regeln nicht immer, war manchmal unanständig, frech, ging immer an die Grenzen ... Das war bestimmt recht streng für meine Eltern. Ich fiel gegenüber den andern beiden Geschwistern wohl auch ein wenig ab.

      Es ist ein Vorteil, wenn man so etwas aus eigener Erfahrung kennt, falls man sich daran erinnert: Wenn ich Studierende habe, die «Querschläger» sind, über die im Lehrerkollegium diskutiert wird, kann ich viel mehr Verständnis aufbringen als andere, weil ich weiss: So ähnlich war ich selber mal. Allerdings: Wenn es um Drogen geht oder um Regelwidrigkeiten, die auch für andere Folgen haben, dann habe auch ich kein Verständnis. Ansonsten bin ich tolerant, vielleicht auch deshalb, weil ich vom Alter her «näher» bei ihnen bin. Insofern kann ich vielleicht mehr Verständnis entwickeln als jemand, der älter ist. Ich weiss noch ungefähr, was die Jungen beschäftigt.

      Und sie sind heute bestimmt nicht wesentlich anders als zu meiner Zeit. Früher war einfach das Klima autoritärer. Die Gesellschaftsnormen waren vielleicht besser verankert. Es war für Jugendliche einfacher, sich zu orientieren. Auch die Religion hat heute einen anderen Stellenwert, hat ihre frühere orientierende Funktion verloren. Heute darf man alles sagen, alles ist offener. Es steht alles zur Verfügung. Früher musste man sich fragen, ob man eine Weiterbildung überhaupt finanzieren konnte. Heute lässt sich das regeln.

      Es kann schon sein, dass sich die Jugendlichen wegen der permanenten Reizüberflutung nicht mehr so gut konzentrieren können, wie oft gesagt wird. Man muss aber zugeben, dass es heute auch viel schwieriger ist, die Richtung zu halten, vor lauter Trends, Einflüssen von aussen, auch aus andern Ländern, alle diese schnell sich ändernden Vorbilder.

      Wenn ich mich mit meinen Studierenden vergleiche, sind die Unterschiede im Verhalten aber klein. Natürlich ist manches anders als früher, die Studierenden schreiben zum Beispiel direkt auf ihren Laptops. Aber am Montag wird übers Wochenende diskutiert, ab Donnerstag übers kommende Weekend usw. Das war schon bei uns nicht anders. Die Themen sind ähnlich.

      Ein richtiger Querschläger war ich allerdings nie, dazu war ich wohl zu respektvoll. Und dann war da ja auch mein Vater, der mich mit seiner bestimmten Art immer wieder auf den richtigen Weg geführt hat. Er war sehr streng, sogar autoritär. Das war für mich damals wohl schwierig, in der Rückschau würde ich sagen, dass es das auch gebraucht hat.

      Als Lehrerin bin ich recht kooperativ, aber inzwischen wohl selbst auch etwas autoritär geworden. Ich habe mich seit den Anfängen gewandelt. Zwischendurch muss man Grenzen aufzeigen. Das ist wichtig.

      Grenzen zeigen, das ist ja eines, sie durchsetzen ein anderes ...

      Unsere Klientel, zumindest die Mehrheit, ist sehr angepasst. Einzelne, die aus der Reihe tanzen, haben gar nicht die Macht, alles durcheinanderzubringen. Und wenn ich erkläre, dass ich etwas nicht akzeptiere, und sage, wie ich es haben will, läuft es nächstes Mal auch wirklich besser. Das hält zwar vielleicht nicht an, dann muss man es eben noch einmal sagen. Und sonst spreche ich Einzelne an, frage sie nach den Gründen für ihr Verhalten, das nützt dann meistens. Ich habe noch nie eine Situation erlebt, in der ich mit einer Klasse keinen Ausweg mehr gewusst hätte. Es gab Klassen, in denen es weniger Spass machte zu unterrichten, weil offensichtlich die Motivation fehlte, aber keine, bei der ich dachte, es laufe aus dem Ruder – und das wohl nicht, weil ich «so gut unterrichte», sondern weil wir sehr angepasste Studierende haben. Das sagen auch Personen, die bei uns hospitieren. Es hat sicherlich mit dem Alter zu tun, aber auch damit, dass unsere Studierenden sich bewusst für den Beruf, die Pflege, entschieden haben. Dazu braucht es Selbstverantwortung und Willen. Man erlebt dabei auch heftige Sachen, das ist nicht jedem gegeben. Es gibt deshalb auch etliche, die wieder aussteigen.

      Was macht denn guten Unterricht aus? Gute Führung?

      Wichtig finde ich vor allem, dass man als Person authentisch bleibt und dass man angekündigte Sanktionen umsetzt, selbst mit dem Risiko, dass man Kritik zu hören bekommt. Am Ende sind eher die Strengeren, die sich aber «gerecht» verhalten, die guten Lehrer.

      Authentizität, wie lernt man das? Es braucht wohl auch eine gewisse Souveränität, Vertrauen in die eigene Person?

      Man kann keine Vorgehensweisen von andern unbesehen übernehmen, die dort funktionieren, aber nicht zur eigenen Person passen. Es muss für mich stimmen, vom Thema und vom Ablauf her. Ich selbst nutze die Spielräume, die unser System uns lässt, heute besser als früher.

      Aber Authentizität, das ist ja eher auf die Person gemünzt, weniger auf Methoden, Unterrichtsaufbau usw.

      Für mich gehören diese Dinge zusammen. Ich kann nicht eine Methode verwenden, die nicht zu mir und nicht zur Klasse passt. Dann wäre ich auch nicht authentisch.

      Das andere ist klar: Ich höre auf mich und auf meine Gefühle. Ich hake zum Beispiel nach, wenn auf Fragen keine Antworten kommen, warum die Lernenden nicht reagieren. Ich lasse nicht zu, dass sich im Unterricht Irritationen oder Zorn aufstauen.

      Persönliche Dinge, Privates lasse ich allerdings «draussen». Natürlich bin ich in der Lehrerrolle jemand anderes als im Privaten. Das muss auch so sein. Ich muss vom Beruf Abstand nehmen können. Im Privaten spreche ich umgekehrt auch nicht so häufig von Schulischem, höchstens wenn ich eine Situation erlebt habe, die mich stärker beschäftigt. Aber im Ausgang zum Beispiel will ich nicht nur von der Arbeit reden. In einem anderen Umfeld sage ich nur, ich sei Berufsfachschullehrerin, und manchmal sage ich auch, ich sei in der Pflege tätig oder auch, ich arbeite im Verkauf. Man erfindet sich ja bis zu einem gewissen


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