Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten. Christoph Gassmann
Lernbiografie. Ich war gerne Schülerin. Ich hab es geliebt.
Auch gegenüber Ihren Eltern haben Sie nie revoltiert?
Es wäre überheblich zu sagen, alles sei immer harmonisch verlaufen, natürlich gab es Meinungsverschiedenheiten, zum Beispiel in der Pubertät, aber nie ein richtiges Drama. Ich wurde sehr schnell erwachsen.
Meine Eltern waren beide Schneider, Damen- und Herrenschneider, sie kamen also aus dem Handwerklichen, aber meine Eltern sind (oder waren) die einzigen Nichtakademiker in der ganzen Familie. Es war für meine Eltern nie eine Frage, ob wir studieren würden oder nicht. Einer meiner Brüder ist Mediziner und arbeitet als Chirurg in Paris, einer ist Elektroingenieur ... Wir hatten also nicht die Wahl, zu studieren oder nicht, die Frage war nur, was wir studieren würden.
Hätte es denn einen anderen Weg gegeben?
Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich wollte schon als kleines Kind Lehrerin werden, etwas anderes habe ich mir nie überlegt. Mein jüngster Bruder wollte immer Arzt werden, schon mit fünf hat er sich ein Arztköfferchen für Kinder gewünscht, das war sein liebstes Spielzeug, auch das Stethoskop, für ihn war immer klar, er wird Arzt – und er ist es geworden. Mein anderer Bruder hat erst Architektur studiert und dann gemerkt, dass das nicht seine Welt war, dann ist er Elektroingenieur geworden, heute ist er in der Softwarebranche tätig. Für mich, wie gesagt, war immer klar, dass ich Lehrerin werden würde.
Meine Eltern waren beide zwar sehr kreativ, meine Mutter hat so etwas wie die Freitags-Taschen schon vor dreissig Jahren erfunden ... Trotzdem hat mich ihr Beruf nie interessiert, ich war froh, wenn meine Mutter für mich etwas Schönes nähte, aber das war kein Beruf für mich. Es war keine Diskussion, in die Fussstapfen der Eltern zu treten.
So hatten Sie also zunächst gar keinen besonderen Bezug zur Berufsbildung?
Nein, diesen Bezug musste ich mir hier erst erarbeiten. Ich hatte eine Zeitlang eine Leitungsfunktion an der damaligen ZHW, heute ZHAW – ich habe dort die Abteilung «Deutsch als Fremdsprache» geleitet. Da rümpfte meine Familie schon ein wenig die Nase, weil es ja nur eine Fachhochschule war und nicht eine Universität, und wenn ich jetzt erzähle, ich sei Berufsschullehrerin, sagt man mir auch: Wärst du in Istanbul geblieben, wärst du heute Professorin. Der Status spielt eine grosse Rolle, nicht nur in meiner Familie. Die Türkei ist eine Klassengesellschaft, zwischen den Klassen gibt es kaum Durchmischung. Es hat mich damals, als ich neu war in der Schweiz, sehr befremdet, dass es im Freundeskreis meines Mannes, der ja Schweizer ist, auch Schreiner gab. In der Türkei gehören Handwerker zu einer anderen Schicht, ich musste da komplett umdenken.
Ist das nicht auch in der Schweiz ein Problem, dass die Berufsbildung nicht das Ansehen geniesst, das sie verdient, obwohl so viele Leute diesen Weg ins Erwachsenenleben gehen? Über Bildung wird ja bei uns viel gesprochen und geschrieben, aber nicht so sehr über diesen Bereich. Und entsprechend werden vielleicht auch die Berufsschullehrer nicht so richtig respektiert.
Ja, wenn man mich hier nach meinem Beruf fragt, und ich sage, ich bin Lehrerin an der Schule für Gestaltung, dann denken die Leute erst an die Hochschule für Gestaltung, weil sie mich eher mit dem Hochschulbereich in Zusammenhang bringen. Dann muss ich korrigieren: nein, die Berufsschule für Gestaltung, und das ist mir ein paar Mal passiert, seither präzisiere ich von vornherein.
Hat Ihr Beruf die Reputation, die er verdient? Ist die Anerkennung da?
Die gesellschaftliche Akzeptanz ist das eine. Das geringere Ansehen sieht man ja auch bei den Löhnen. Es gibt eine Diskrepanz bei den Löhnen von Gymnasiallehrern und Berufsschullehrern, die ich nicht nachvollziehen kann. Was man jedoch über den eigenen Beruf erzählt, ist das andere. Es hängt auch damit zusammen, was man selbst ausstrahlt. Wenn man seinem Gegenüber den eigenen Beruf so vermittelt, dass er daraus schliessen muss, es ist ein Beruf, der nicht sehr viel Anerkennung verdient, wäre das fatal.
Was erzählen Sie denn in Istanbul darüber?
Die Berufsschule hat in der Türkei kaum Ansehen. Meine Freunde fragen mich, was denn das sei, «Allgemeinbildung». Und dann fange ich an vom Rahmenlehrplan, von Aspekten usw. zu erzählen, und sehr bald merken sie, wie anspruchsvoll das eigentlich ist. Wenn ich zu Hause in Istanbul erzähle, was ich mache, ernte ich am Ende auch deshalb Anerkennung, weil ich die Komplexität meiner Arbeit vermitteln kann. Es hat viel mit der eigenen Einstellung zum Beruf und mit der Kommunikation darüber zu tun.
Das erzählen Sie also, was ABU ist ... Nicht zum Beispiel, wie anspruchsvoll es ist, mit jungen Leuten zu arbeiten.
Ja, ich erzähle von ABU, von meinem Auftrag, natürlich kommt dann auch sehr schnell, dass das ja sehr glückliche Schüler sein müssen, dass sie in einem solchen Fach unterrichtet werden. Und dann sind wir sehr schnell bei den Schülern, auch dass sie das nicht so sehr schätzen.
Ist das so?
Manchmal ... Aber wenn sie das Gefühl haben, sie lernen etwas, sie erleben einen Lernzuwachs, dann ist genau das Gegenteil der Fall. Vor zwei Tagen sagte mir eine Schülerin, sie habe bei mir zum Vertragsrecht viel gelernt, was sie jetzt brauchen könne, sie ist Musikerin und musste mit ihrem Label einen Vertrag abschliessen ... Das sind Erfolgserlebnisse für einen Lehrer.
Die Schüler wollen ja lernen. Ich glaube, es gibt keine jungen Menschen, die nicht lernen wollen. Alle wollen lernen. Und wenn sie das Gefühl haben, sie können ihren Horizont erweitern, kommen sie gern zum Unterricht. Ich sage ihnen am Anfang: Was Sie hier lernen, das werden sie vierzig, fünfzig, sechzig Jahre lang brauchen. Die Hälfte der Klasse ist vielleicht in zehn Jahren nicht mehr im gelernten Beruf tätig. Aber was sie im ABU lernen, wird ihnen jahrzehntelang gute Dienste leisten.
Im ABU haben wir die Chance, uns an aktuellem Geschehen zu orientieren. Wenn heute etwas passiert, können wir das morgen in den Unterricht einbauen. Dieser Aktualitätsbezug, das macht den ABU sehr lebendig. Wenn man das schafft, wenn man sie in ihrem Denken, ihrem Sehen, ihrem Erkennen schulen kann, wenn man ihnen die Augen öffnen kann, wenn man zeigen kann, wie sie hinter die Fassaden blicken können, dann kommen sie sehr gerne in den Unterricht.
In meinen Augen sind sie sehr lernwillig, man muss nur wissen, wie man das lebendig hält.
Das macht es ja alles noch einmal anspruchsvoller. ... Es reicht nicht, sich in Vertragsrecht kundig zu machen. Sie selbst müssen sich ja mit der Aktualität beschäftigen, und Sie müssen wissen, womit sie, Ihre Schüler, sich beschäftigen.
Sie sagten einmal in einem Interview, Sie hätten bis vor Kurzem keinen Fernseher gehabt ... Schauen Sie jetzt manchmal fern, schauen Sie Jugendsendungen, zum Beispiel Serien?
Nein, selten, ich kenne mich da schlecht aus. Ich habe den Fernseher vor allem gekauft, um selbst Sendungen aufnehmen zu können, die ich dann im Unterricht verwenden kann. Jugendsendungen schaue ich nicht ...
Aber Sie wissen, was Ihre Schüler im TV sehen?
Sie schauen gar nicht so viel fern. Sie sind mehr auf Facebook ...
Sind Sie da auch?
Nein. Ich werde auch nie auf Facebook sein. Aber klar, sie fragen mich ... Sie stellen mich regelrecht zur Rede, weshalb ich nicht auf Facebook sei ... Sie laden mich ein ...
Ich erkläre ihnen, weshalb ich das nicht möchte, und es ist auch gut so. Ich muss nicht so sein wie sie, und wenn ich so wäre, würden sie das gar nicht schätzen. Das ist auch mein Anspruch, ich bin anders.
Nachtrag
Vier Jahre sind vergangen seit dem Interview.
Was hat sich verändert in dieser Zeit? Nun, ich habe mein ABU-Studium erfolgreich abgeschlossen, unterrichte weiterhin an der Berufsschule für Gestaltung, mittlerweile in einer unbefristeten, sogenannten «mbA»-Anstellung («mit besonderen Aufgaben»). Meine «besondere Aufgabe» an der Schule ist dabei die Deutschförderung. Heute arbeite ich ganz ohne Lehrmittel, bereite Dossiers oder Arbeitsmaterialien selber vor, und BYOD (Bring Your Own Device) ist an der Schule etabliert, das heisst, die Lernenden bringen ihre eigenen Notebooks oder Laptops mit, und ihre Smartphones gehören