Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten. Christoph Gassmann
Du sagst also zum Beispiel zu einem Maler: Hallo, wenn Sie zur Baustelle gehen, ohne Pinsel und Farbe, können Sie dann Ihre Arbeit machen? Genauso ist es in der Schule. Hier brauchen Sie die Bücher, Schreibzeug usw., wenn Sie das nicht dabei haben, können Sie hier nicht arbeiten, also gehen Sie zurück in den Betrieb. Das haben sie immer akzeptiert, ich musste nie jemanden handgreiflich aus dem Klassenzimmer bugsieren.
Es gibt wohl Lehrer, die Flexibilität mit Deformierbarkeit verwechseln. Du musst natürlich flexibel sein, es ist ein Tanz auf Messers Schneide, aber du darfst dich nicht deformieren lassen.
Was braucht es denn sonst noch, um ein guter Lehrer zu sein?
Organisatorische Zuverlässigkeit. Du kannst nicht Hausaufgaben erteilen, und beim nächsten Mal weisst du nicht mal mehr, dass du sie aufgegeben hast. Viele scheitern am Organisatorischen, das ist nicht banal, wenn du sieben oder acht Klassen unterrichtest. Du musst dich daran erinnern, was du wo schon erzählt hast, wo du in jeder Klasse stehen geblieben bist, und das heisst auch Nachbereitung, Aufschreiben, Planung.
Die Schüler bemerken sehr genau, ob du vorbereitet bist. Ob du das Vorbereitete immer exakt so durchführen kannst wie geplant, ist eine andere Frage.
Ich hatte einen Kollegen, mit dem die Schüler buchstäblich machen konnten, was sie wollten, sie liessen ihn turnen. Er sagte zum Beispiel: Frau so und so, Sie schulden mir noch eine Arbeit; sie wusste zwar, dass sie die Arbeit nicht abgegeben hatte, aber sie wusste auch, dass der Lehrer turnte, also sagte sie: Oh, die Arbeit haben Sie längst, Sie müssen sie vernuscht haben. Der Kollege musste sich frühpensionieren lassen.
Bei uns galt die Regel: Einmal pro Semester darf einer zu spät kommen, man entschuldigt sich, verschlafen, den Zug verpasst usw., und dann ist gut. Aber die Lehrperson muss sich erinnern, dass es schon mal vorgekommen ist. Du brauchst ein System, das absolut zuverlässig ist, sonst bist du nicht glaubwürdig. Auch das hat mit Organisation zu tun.
Dabei kannst du von Jugendlichen nichts verlangen, was du selbst nicht einhalten kannst. Wenn du selbst nicht zuverlässig bist, kannst du Zuverlässigkeit, Termintreue usw. von ihnen genauso wenig verlangen.
Auch in solchen Dingen hat der Lehrer eine Vorbildfunktion.
Was ist das Schwierigste, was man als Lehrer erlebt?
Wenn ein tödlicher Unfall passiert. Oder wenn man einer Klasse sagen muss, dass einer ihrer Kollegen Selbstmord begangen hat. Das habe ich dreimal erlebt. Beim einen hatte niemand vorher etwas geahnt. Der Lehrmeister fand ihn im Labor, er hatte sich mit Zyankali umgebracht. Eine junge Frau aus ländlichen Verhältnissen, Bauerstochter, nahm Schwefelsäure, aus Liebeskummer, und einer brachte sich um, weil er eine unheilbare Krankheit hatte. – Das sind die wirklich schwierigen Dinge. Der Tod ist für Jugendliche ja kein Thema, wird es erst in solchen Momenten. Heute bekommen Lehrer professionelle Hilfe, das ist aber erst seit zehn oder fünfzehn Jahren so.
Auch der Umgang mit Jugendlichen mit Problemen ist eine grosse Herausforderung. Wir sind ja keine Therapeuten; es braucht ein Netz von Stellen, an die du sie verweisen kannst, und ein solches Netz musst du dir als Berufsschullehrer erst aufbauen. Aber auch Dranbleiben, Nachhaken ist wichtig. Ich hatte einmal eine junge Frau in meiner Klasse, die magersüchtig war. Ich teilte ihr meine Beobachtungen mit. Erst stritt sie ab, ich sagte, okay, mag sein, dass ich mich irre – sind Sie einverstanden, wenn ich auch den Turnlehrer frage, was er meint? Eine Woche später sagte ich zu der Frau: Ich möchte, dass Sie zum Hausarzt gehen und das abklären ... Dann und wann fragte ich nach. Drei Monate später sagte die junge Frau: Jetzt war ich beim Hausarzt. Sie hatten recht ... Der Arzt konnte sie an eine Fachstelle im Inselspital verweisen.
Das ist ja wohl das Schwierige: ansprechen – und dass sie dann nicht einfach abwehrt, sondern sich einlässt. Das setzt voraus, dass Beziehung besteht ...
… ja, aber auch, dass sie letztlich selbst entscheiden kann, ob sie auf deine Ansprache eingehen will. Es ist alles eine Frage des gegenseitigen Respekts.
«Ein nährender Beruf» - Mine Dal
«Ein nährender Beruf»
Mine Dal, promovierte Germanistin, Übersetzungswissenschaftlerin, Lehrerin für Allgemeinbildung an der Berufsschule für Gestaltung, Zürich
Mine Dal kam 1999 von Istanbul nach Zürich. Nicht aus politischen Gründen, wie sie betont: «Ich wurde weder gefoltert noch verfolgt – der Grund ist einfach: die Liebe.»
Nach verschiedenen beruflichen Stationen in der Schweiz, als Kulturmanagerin, als Leiterin der Abteilung «Deutsch als Fremdsprache» an einer Fachhochschule, als Lerntherapeutin in einem Schulheim, stieg sie 2007 in die Berufsbildung ein und beschloss, sich an der Uni Zürich zur Lehrerin für allgemeinbildenden Unterricht (damals noch ein Master-Studium) ausbilden zu lassen.
Mine Dal ist auch eine begabte Fotografin. In ihrem derzeitigen Langzeitprojekt porträtiert sie Menschen an der Südwestküste der Türkei, vor allem das Leben der Bootsbauer, Imker und Olivenbauern.
In Istanbul hatte sie Germanistik und Kunstgeschichte studiert und dann zunächst eine akademische Laufbahn eingeschlagen. Sie arbeitete als Dozentin an der Istanbuler Marmara-Universität und spezialisierte sich im Bereich der Übersetzungswissenschaft. Mit einer Arbeit zum Thema «Verständlichkeitsorientierte Textoptimierung bei der Übersetzung von Gebrauchsanweisungen» hat sie auch promoviert. Dieser Hintergrund, der Sinn für die Verständlichkeit von Texten, nütze ihr jetzt noch im Unterricht, fast täglich greife sie auf den Erfahrungsschatz aus jener Zeit zurück, wenn sie ihre Arbeitsblätter gestalte oder mit der Klasse einen Text angehe. Mit Fachwissen sei es ja nicht getan, aber auch mit Methodik und Didaktik allein nicht. Wenn man «zusätzliche Pfeile im Köcher» habe, sei das sehr hilfreich.
Wird aus Ihrer Sicht im Unterricht an Berufsfachschulen zu wenig Wert auf verständliche Texte gelegt?
Wenn ich mir die Berufskundebücher anschaue, würde ich sagen: ja. Oft kommen die Lernenden mit Lehrmitteln an, die ich selbst manchmal zwei- oder dreimal lesen muss, bis ich sie verstanden habe. Für den allgemeinbildenden Unterricht und die ABU-Lehrmittel gilt das weniger.
Allerdings kann ich mit einer Klasse auf der Basis eines einzigen Lehrmittels ohnehin nicht den ganzen Schullehrplan durcharbeiten, das weiss jeder, das wissen auch die Autoren. Ich sehe die Lehrmittel inzwischen als eine Art Steinbruch, aus dem ich mich bediene. Je nach Thema kann man sie nicht eins zu eins für jede Stufe verwenden, das würde nicht funktionieren. Man muss die Inhalte «herunterbrechen» und der Stufe, auch der Berufsgruppe anpassen. Mit Grafikern, Fotofachleuten oder Werbetechnikern arbeite ich anders als mit Malern. Vierjährige Lehren unterscheiden sich oft vom Niveau her stark von den dreijährigen. Und auch dort gibt es wiederum Stufungen. Selbst innerhalb einer Klasse sind die Unterschiede manchmal beträchtlich. Einzelne Lernende könnten ohne Weiteres ein Studium bewältigen, für andere ist Deutsch eine Zweitsprache, die sie nicht unbedingt auf einem hohen Level beherrschen. – Da sind wir gefordert, das ist auch der Grund, weshalb wir mit einem Lehrmittel nicht auskommen. Man muss modifizieren, differenzieren; man muss, wenn man die Klasse kennt und die Abstufungen erkannt hat, diese Differenzierungen selbst vornehmen. Das ist sehr zeitaufwendig und gelingt nicht immer.
Sie unterrichten im ABU-Rahmen in einem gewissen Sinne auch Deutsch. War das nie ein Problem, dass Deutsch, selbst wenn Sie es studiert haben und ausgezeichnet beherrschen, für Sie eine Fremdsprache ist?
Im Gegenteil. Die Schüler lassen sich so schnell überzeugen, dass Hochdeutsch die Unterrichtssprache ist, nicht Dialekt. Die Akzeptanz kommt viel natürlicher. Ich kann kein Schweizerdeutsch, ich kann keine Mundart, auch wenn ich alles verstehe. Dass ABU nach dem pädagogischen Konzept in der Standardsprache unterrichtet werden soll, ist eine Erleichterung für mich.
Ich habe dieses Jahr zum ersten Mal eine Schülerin