Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten. Christoph Gassmann
mir war es noch so: In diesem ganzen Ausbildungsjahr waren wir jeweils einen halben Tag pro Woche zu dritt bei einem erfahrenen Praktikumslehrer, erst sahen wir ihm beim Unterrichten zu, dann mussten wir selbst Unterricht erteilen. Du konntest also beobachten, wie der erfahrene Lehrer unterrichtete, aber jeder stand auch in Konkurrenz mit den Kollegen, mit denen man die Stunden vorbereitete. Das war das Laboratorium des Denkens und Handelns. Heute machen zwar viele Leute ihr Studium berufsbegleitend, aber nach meiner Auffassung werden sie dabei selbst zu wenig begleitet.
Das andere, was für mich nicht aufgeht, ist die Frage der Weiterbildung. Meine ganze Berufslaufbahn hindurch habe ich Weiterbildungen besucht, so ging meine Ausbildung ständig weiter. Die Weiterbildungspflicht ist heute aber, zum Teil aus finanzpolitischen Gründen, auf ein Minimum heruntergefahren worden. Aber es kann doch nicht sein, dass jemand zwanzig, fünfundzwanzig Jahre lange unterrichtet, höchstens da mal einen Kurs, dort mal einen besucht. Auch da besteht die Gefahr eines Burn-outs: wenn man sich nicht weiterentwickelt.
Sind die Lernenden eigentlich anders als früher?
Sicher sind sie zum Teil anders, sie haben ja auch andere Lebensaufgaben zu lösen. Aber als Jugendliche, als junge Menschen sind sie uns eigentlich sehr ähnlich. Sie beschäftigen sich nur mit anderem, es zeigt sich nicht mehr auf die gleiche Weise.
Als ich 1972 mit dem Unterrichten begann, waren wir mit dem Problem konfrontiert, dass einige Klassen in die Beiz zum Mittagessen gingen und dann mit drei, vier Bier im Kopf zurückkamen. Ganze Klassen kamen leicht alkoholisiert von der Mittagspause. Heute sind sie vielleicht bekifft. Alkohol spielt zwar immer noch eine Rolle, aber in einem andern Mass und anderer Form. Heute geht es darum, dass sich einige am Wochenende oder auf Exkursionen sinnlos betrinken – die bekannten Vorfälle mit Klassen, die ausser Rand und Band geraten.
Es hat immer Wellen gegeben, Dinge, über die sich die Lehrer erregten. Einst war es das Kaugummikauen, dann kamen die langen Haare, jessestroscht, man verlangte von den Stiften, dass sie Haarnetze trugen, weil sich sonst ihre Haare in den Spindeln der Drehbank verfingen, dann kamen die Rollerblades, Stifte, die mit den Rollschuhen im Atrium rundherum fuhren, und die Lehrer drehten im roten Bereich. In der letzten Zeit waren es die Chäppi, die einen tragen sie links, die andern rechts, die dritten verkehrt rum, und das Allerletzte, worüber sich die Lehrer unheimlich aufregen, sind natürlich die Handys. Immer kam wieder etwas Neues, was zum Kristallisationspunkt der Empörung wurde.
Wie warst denn du als Jugendlicher?
Bei uns brauchte es nicht viel, um den Vater in die Sätze zu bringen. Er hörte «Hoch- und Deutschmeisterkapelle» oder Wiener Walzer, ich hörte Louis Armstrong und Presley, das reichte schon. Wenn ich Elvis hörte, rief der Vater, ich solle diese Negermusik abstellen.
Oder es kamen die ersten Jeans auf, und ich ging mit meinen in den Brunnentrog, damit sie eng wurden, auch das reichte schon. Oder wenn die Haare die Ohren noch halb bedeckten. Es brauchte wenig, um sich von der letzten Generation abzuheben. Aber ich war eigentlich nicht sonderlich aufmüpfig, 1968 ging mehr oder weniger an mir vorbei. Ich musste zusehen, dass ich meinen Job machte, ich war schliesslich Lehrer.
Als ich im Oberseminar war, besuchte ich in Bern diese Kellerlokale, wo Sergius Golowin oder Walter Vogt ihre Lesungen hielten. Und im Junkernkeller diskutierten wir nächtelang über gesellschaftliche Veränderungen, was für mein Leistungsvermögen nicht grade förderlich war.
Aber ich war eher angepasst. Mit vierundzwanzig habe ich geheiratet, wir hatten zwei Kinder. Auch die Berufsschule hielt mich in Bahnen. Wenn ich allerdings zurück ins Dorf kam, fühlte ich mich schon ziemlich progressiv.
Und dann doch dein Engagement, zum Beispiel für die Attestlernenden, woher kam das?
Es gibt drei Gründe. Der eine ist, dass ich nicht aus einem behüteten Milieu stamme, ich weiss, wie es in einer Familie zu- und hergehen kann. Das Zweite: Ich interessiere mich für die Frage, warum es bei einem Einzelnen falsch läuft, warum er nicht versteht, nicht lernen kann. Das Dritte ist das Gesellschaftspolitische: Wir haben neunzig Prozent Sekundarstufe-II-Abschlüsse und sprechen von fünfundneunzig Prozent, die wir 2015 oder 2020 erreichen wollen. In der Schweiz haben wir zwar himmlische Zustände, verglichen mit Deutschland (von anderen Ländern gar nicht zu reden). Aber wir müssen achtgeben, dass es so bleibt.
Die zweijährige Grundbildung hat einen eminent politischen Auftrag. Alles, was wir in diese Jugendlichen hineinstecken, ist gut investiertes Geld. Jugendarbeitslosigkeit wie in Griechenland, Italien, teilweise in Frankreich oder auch Deutschland – das führt zu gesellschaftspolitischen Problemen. Schon aus Vernunftgründen muss man also viel in dieses Segment stecken.
Dazu braucht es auch sozialpolitische Einsicht ...
Bei uns zu Hause war oft ein solches Durcheinander, dass ich gar nicht lernen konnte. Und dass ich mich mit Migrationsfragen beschäftige, ist auch kein Zufall. Ich bin ja Migrant in dritter Generation, ich habe erlebt, was Migration bedeutet. Mein Grossvater ist über Mailand, Savoyen und die Westschweiz ins innere Emmental gekommen, hat dort eine Frau kennengelernt. In der Strasse, in der wir wohnten, waren alles Handwerker, Migranten der ersten oder zweiten Generation, Marazzi, Prato, Peverelli, Grassi ... Bauhandwerker aus Norditalien. Wir wohnten alle dort an dieser schattigen Strasse. Mein Grossvater war noch ein Aussenseiter, mein Vater hat sich herangekämpft, und mein Bruder, der im Dorf geblieben ist, hat es schliesslich zum Gemeinderatspräsidenten gebracht. Drei Generationen hat es gebraucht, um sich zu integrieren. Mein Vater wäre nie in den Gemeinderat gewählt worden, das wäre völlig undenkbar gewesen. Und mein Grossvater konnte noch zu wenig gut Deutsch, der hätte sich auch nicht einfach integrieren lassen.
Anderen fehlt dieser Hintergrund, sie sind nicht durch die eigene Geschichte sensibilisiert. Aber ein grosser Teil der Berufslernenden hat einen solchen Hintergrund, wir haben schon davon gesprochen – vielleicht liegt er nicht einmal so weit zurück wie bei dir. Vielleicht sind die Eltern Migranten ...
Leider ist das ein Thema, mit dem sich die Profis ungern beschäftigen, wie schon gesagt. Es ist eine Art «Unthema». Das ist wohl nicht berufsbildungsspezifisch, das hat auch mit den ganzen politischen Konstellationen zu tun.
Auf der andern Seite gibt es Migrationsthemen, bei denen alle diskutieren und sich ereifern, Minarette, Kopftücher ... Wir sind uns ja nicht einmal bewusst, wie viele «Migranten» wir in unserer eigenen Sprache haben, Tasse, Kaffee, Karaffe usw., alles Wörter aus dem Arabischen ...
Meine letzte Klasse hat mir erklärt, warum man die Minarett-Initiative annehmen müsse. Aber sie essen am Mittag einen Döner, am Abend Pizza … Unter den Jugendlichen selbst gibt es auch Ausländerfeindlichkeit, nicht nur Schweizer gegen Immigranten, auch unter Migranten ... Portugiesen, die Jugos beschimpfen und umgekehrt. Manchmal gibt es wirklich schwierige Klassenkonstellationen, in denen auch Spannungen entstehen. Wenn du es aber thematisierst und wenn es dir gelingt, das Thema auf eine menschliche Ebene zu holen, dass sich die Einzelnen begegnen, dann kann es klappen. Solange es auf einer ideologischen Ebene bleibt, ist es schwierig.
Es heisst ja oft, man müsse mit jeder Klasse Regeln aufstellen, möglichst kooperativ, weil es dann besser funktioniert. Aber was, wenn die Regeln nicht eingehalten werden? Wie sanktionierst du, welche Mittel hast du überhaupt?
Ich habe nie im Voraus Regeln aufgestellt. Wenn etwas vorfiel, sagte ich: Das geht hier nicht, begründete und fragte: Habt ihr einen Vorschlag, wie man das regeln kann? Dann wurde die Regel mit der Klasse diskutiert. Und das Ergebnis habe ich aufgeschrieben. Das musst du dann aber wirklich handhaben. Die Jugendlichen werden auf jeden Fall versuchen, die Regeln zu brechen. Das ist ihr gutes Recht: schauen, ob die Regel gilt. Dann musst du eben dafür sorgen, dass sie gilt. Du musst die Jugendlichen damit konfrontieren, dass sie eine Regel gebrochen haben. Meistens gab ich den Ball einfach zurück und fragte: Was würden denn Sie nun tun? Wie wollen Sie das nun wieder hinbiegen? Die meisten Jugendlichen sagen dann irgendwas mit Bestrafen.
Manchmal sagte ich ihnen auch, dass sie vom Lehrbetrieb bezahlt würden, in die Schule zu kommen, aber sie würden nicht das kalte Wasser verdienen – und schickte sie auch mal zurück in den Betrieb. Wenn einer ständig ohne