Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten. Christoph Gassmann
das Erwachsenwerden, der Übergang ins Berufsleben. Die Schüler kommen zum Teil mit 15, werden gerade 16. Für den Einstieg ins Berufsleben ist 16 früh, sehr früh. Die jungen Menschen entwickeln sich schnell, sie verändern sich schnell. Ich werde im nächsten Juni meine erste vierjährige Klasse verabschieden, am Anfang hatte ich Kinder vor mir, heute sind es Erwachsene. Natürlich entwickeln sie sich auch in der Primarstufe, aber hier kommt die Eigenverantwortung für ihr Leben hinzu, sie gehen von der Schule ab mit einem Diplom, einem Zeugnis, um sich dann im Leben selbstständig, auf eigenen Füssen zu behaupten. Das gibt es in keiner anderen Schulstufe. Primarschüler stehen nach der Schule nicht «im Leben».
Es sind ganz andere Themen, die die Berufsschüler beschäftigen. Zusammenziehen mit Partner oder Partnerin, Wohnungssuche, Ausziehen von zu Hause. Es ist eine Phase, die grosse Umwälzungen mit sich bringt. Oft haben die jungen Leute die Schule gar nicht in ihrem Fokus, verständlicherweise, aber sie müssen da durch. Es ist eine sehr spannende Lebensphase, und sie darin zu beobachten – nicht immer können wir sie begleiten –, das ist oft faszinierend. Das ist etwas, was eine Lehrperson auch nach langer Zeit im Beruf noch begeistern kann, Zeuge dieser Entwicklung zu sein. Wenn ich sie auf diesem Weg sogar begleiten darf, ist es noch spannender.
Ihr seht sie ja in der Berufsschule nicht so häufig.
Ja, das empfinde ich manchmal als Nachteil, aber je älter sie werden, desto passender ist es auch. Diese nahe Beziehung, die braucht es nicht, sie holen sich das Wissen ab und gehen wieder. Das ist wie bei uns Erwachsenen, wenn wir eine Weiterbildung besuchen, wir gehen hin, holen uns ab, was wir brauchen, und verabschieden uns. Für den Beziehungsaufbau sind drei Stunden wöchentlich natürlich wenig. Und ohne Beziehung ist ein gutes Lernklima nicht möglich, diese Beziehung muss also erst aufgebaut werden. Dafür braucht es Zeit. Und wenn es wie bei mir grosse Klassen sind, mit zwanzig Schülern oder mehr, ist es nicht leicht, das Individuum wahrzunehmen und den Lernenden das Gefühl zu vermitteln, dass sie wahrgenommen werden, das geht nicht von heute auf morgen, da muss man sich Zeit nehmen. Aber auch nicht zu viel Zeit – Klassendynamiken entwickeln sich sehr rasch und unberechenbar, und wenn da etwas festgefahren ist oder wenn irgendetwas nicht gut läuft, kann das Klima sehr rasch kippen, und das dann wieder zurechtzubiegen in der zur Verfügung stehenden Zeit, kann schwierig werden.
Haben Sie das erlebt?
Ich habe das mit einer Klasse erlebt, ganz am Anfang. Es waren 22 Schülerinnen und Schüler, meine erste Klasse, und ich habe dort, weil ich neu war, weil ich die Stufe nicht kannte, Fehler gemacht, eindeutige Fehler. – Ich führe sehr straff, ich habe die Zügel in der Hand und setze klare Strukturen, fordere diese auch ein. Vereinbarungen müssen bei mir eingehalten werden. Diese Schüler fühlten sich nun von mir aber nicht wahrgenommen. Sie hatten recht, ich war in dieser Zeit mit vielen anderen Dingen belastet und beschäftigt, sodass ich emotional nicht die Ressourcen hatte und mich selbst oft distanziert verhielt – das kommt nicht gut an. Ich habe sie von mir ferngehalten. Ich hielt mich am Stoff fest, plante genau bei der Vorbereitung, aber es funktionierte nicht, weil sie mich nicht fassen konnten. Ich war für sie nicht greifbar, ich war für sie eine anonyme Person.
Die Schüler haben mir das zurückgespiegelt, gnadenlos ... Berufsschüler sind schonungslos, vielleicht alle Schüler.
Sie haben es mir mit Worten zurückgemeldet, aber auch mit ihrer fehlenden Kooperationsbereitschaft. Arbeiten in der Klasse wurde immer schwieriger.
Aber ich habe nicht lange zugeschaut, sondern sofort Massnahmen ergriffen, ich kannte von meiner lerntherapeutischen Arbeit Methoden lösungsorientierter Gesprächsführung, Konfliktlösungsstrategien, Marshall Rosenberg usw. – das konnte ich sofort einsetzen.
Ich bin froh, dass ich damals sehr schnell reagiert habe. Heute ist das meine Lieblingsklasse, wir haben ein gutes Verhältnis. Es ist ein Vertrauensverhältnis, würde ich sagen, sie haben mich sogar gefragt, ob ich nicht ihre Klassenlehrerin werden wolle. Dazu braucht es viel.
Das heisst aber auch, dass Sie sich immer noch stark entwickeln?
Natürlich, das wird wohl hoffentlich auch nicht aufhören ...
Wie lief das denn nun mit der Ausbildung? – Sie hatten einen Job in einer Berufsschule, und dann?
Als ich zum Vorstellungsgespräch ging, hatte ich mich schon entschieden, die Ausbildung zu machen. Schon vorher hatte ich mich zum EHB-Kurs «ABU für Neueinsteiger» angemeldet. Wenn mich die Schule für Gestaltung nicht genommen hätte, hätte ich mich an anderen Schulen um eine ABU-Stelle bemüht. Ich war überzeugt, dass dies für mich ein Beruf sein könnte. Im Herbstsemester 2007 fing ich mit Unterrichten an, 2008 begann ich schon das Studium. Für mich war klar, wenn ich da einsteige, dann will ich auch die Ausbildung machen: Nägel mit Köpfen. Wenn ich etwas mache, will ich mir auch die theoretischen Grundlagen dazu erworben haben.
Am Anfang ist man erschlagen von dieser ganzen Breite der Materie, von diesem hochkomplexen Konstrukt ABU. In keinem der Länder, deren Schulsysteme ich kennenlernen durfte, ist mir etwas Komplexeres begegnet, nicht in Deutschland, wo ich eine Weile die Schule besuchte und später als Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes ein Forschungsjahr an einer Universität verbrachte, nicht in der Türkei, auch nicht in Österreich, wo ich mit Begabtenförderstipendien zu Forschungsaufenthalten war.
Es ist nicht einfach, sich auf diesem Terrain zu orientieren. Es ist zu vielfältig, es möchte alles abdecken. Das ist allerdings illusorisch. Zur Arbeit am nächsten Rahmenlehrplan sollten unbedingt mehr Leute aus der Praxis beigezogen werden, nicht bloss Bildungspolitiker.
Die Gruppe der ABU-Lehrerinnen und -lehrer ist ja in einem gewissen Sinne multikulturell, im Hinblick auf die Werdegänge, da gibt es Juristen, Biologen, Germanisten, Mathematiker, Ethnologen, Anglisten usw. Diese Vielfalt ist sehr inspirierend. Alle haben sie ein Studium abgeschlossen, aber das heisst ja nun nicht, dass man auch unterrichten kann. Diese Leichtfertigkeit verstehe ich nicht so richtig. Dass man jemanden, der zwar ein Studium abgeschlossen hat, aber noch nie vor einer Klasse stand, zutraut, in einer Berufsfachschule zu unterrichten. Dort zu unterrichten, ist etwas vom Anspruchsvollsten, das kann ich vor dem Hintergrund meiner langjährigen Erfahrung sagen. Es geht ja nicht allein ums Fachliche – Fachwissen trägt einen im ABU nicht sehr weit. Man kann sich darauf nicht stützen, oder nur zum Teil. Methodik und Didaktik sind entscheidend, mit der Fachdidaktik steht und fällt es.
Das Fachwissen selbst, das kann man sich aneignen. Ich musste mir das alles auch erarbeiten, ich hatte doch keine Ahnung, wie das schweizerische politische System funktioniert, als ich in die Schweiz kam. In der Türkei kennt man die Schweiz als Land der Uhren und des Käses. Dass wir auch dasselbe Zivilgesetzbuch haben, wissen die wenigsten Türken.
Hatten Sie eigentlich einen Bezug zum dualen schweizerischen System der Berufsbildung, dieser Kombination von Schulischem und Praktischem? Zu den Betrieben?
Ich habe im ersten Jahr als ABU-Lehrerin viele Betriebe besucht, und das würde ich jeder Lehrperson empfehlen, auch den älteren. Die Betriebe verändern sich, die Technologien verändern sich, Arbeitsabläufe verändern sich, neue Maschinen werden verwendet. Wer also seit zwanzig, dreissig Jahren ABU unterrichtet, sollte unbedingt mal wieder Betriebe besuchen.
Auch die Lernenden bei der Arbeit zu sehen, hat mein Blickfeld erweitert. Sie sind dort erwachsene Personen, in der Schule verhalten sie sich weiterhin wie Schüler mit sechzehn.
Ist das nicht ein eigenartiger Graben? Man erwartet von den jungen Leuten bei der Arbeit sehr viel Selbstständigkeit, dass sie sich im Betrieb wie Erwachsene verhalten, und in der Schule werden sie in einer Art Unmündigkeit gehalten?
Die Diskrepanz ist riesig. Deswegen fühlen sie sich ja auch in den Betrieben viel wohler, weil sie dort in der Rollenfindung in dieser neuen Lebensphase mehr Spielraum haben. Das ist für sie die Perspektive, auf die sie sich hinbewegen. In der Schule setzen wir sie zurück auf die Schulbank.
Im Betrieb sind sie selbstständig, sie produzieren etwas, sie übernehmen Verantwortung. Sie sind Teil eines Ganzen, mit dem sie sich schnell identifizieren. Das «Wir», dieses «Unser Betrieb», die erste Person Plural, das kommt in ihrer Sprache sehr schnell. Und aus dieser