Vom seidenen Faden zum gemeinsamen Strang. Eberhard Schmidt
diesem Jahr sah alles anders aus. Am nächsten Morgen fuhr ich zunächst zu zwei Baustellen, bevor ich mich wieder ins Büro begab. Es war Freitag, der 22. März 2015. Zerknirscht setzte ich mich an meinem Schreibtisch. Die Baustellenbesichtigungen und die Gespräche vor Ort hatten es wieder einmal klar gezeigt: Ich hatte es nicht geschafft. Es ging den Bach runter. Warum? Die Frage konnte ich in diesem Moment noch nicht beantworten. Und wie immer blieb mir kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn schon ging wieder die Tür auf und Bodo Beyer, der Fertigungsleiter, schneite herein. Er schaute mich kaum an, reichte mir einen Briefumschlag und sagte: »Alles Gute, Frau Jordan.« Er sagte tatsächlich »Frau Jordan« und nicht »Chefin«, wie es bei uns üblich war. War das zynisch gemeint? Ich weiß es bis heute nicht. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, so schnell war er wieder weg. Meine Reaktion wartete er erst gar nicht ab, sondern zog die Tür hinter sich zu und verschwand. Wohin auch immer. Ein einziger Blick in den Brief genügte, um den Boden unter meinen Füßen gefährlich wanken zu lassen. »Betreff: Kündigung« stand da und in mir machte sich die Gewissheit breit: Das war's. Jetzt geht das Schiff samt Kapitänin unter. Es fehlte nicht viel und ich hätte losgeheult. So sehr hatte ich mich noch nie als Versagerin gefühlt. Das war jetzt die vierte Kündigung innerhalb von drei Monaten. Und es waren nicht irgendwelche Aushilfskräfte, die kündigten. Alle waren in führenden oder jedenfalls wichtigen Positionen, unentbehrlich für mich. Ja, unersetzbar, denn Fachkräfte waren so rar wie vom Aussterben bedrohte Meeresschildkröten. Bei diesem Gedanken spürte ich einen leichten Stich in der Herzgegend. Das ganze Wochenende über vergrub ich mich im Büro, versuchte wenigstens einen Teil dessen abzuarbeiten, was unter der Woche liegen geblieben war. Aber am Ende fühlte ich mich um keinen Deut besser, sondern hatte nur das Gefühl, der Stapel Unerledigtes verhalte sich wie die Algen im Atlantik, die sich immer stärker vermehrten und das klare Wasser mit einem braunen Teppich überzogen.
In der Nacht träumte ich, in der Seniorenresidenz Waldesruh zu sein, einer von uns gebauten Anlage. Vater und Mutter lebten dort gemeinsam und freuten sich über meinen Besuch. Wir spazierten durch die weitläufige Parkanlage und begegneten Johannes Barth, der seinen alten Chef und dessen Frau besuchen wollte. Vater und er begannen sofort zu fachsimpeln und wollten unbedingt drinnen gemeinsam Pläne begutachten. Als wir alle im Fahrstuhl waren, sagte Johannes Barth: »Jetzt zeige ich Ihnen mal, wo die Zukunft liegt. Wir müssen noch höher hinaus.« Er drückte auf einen Knopf und plötzlich schoss der Aufzug in die Höhe, schoss krachend durch die Decke und landete auf dem Dach des Gebäudes. Wir stiegen aus, niemand war verletzt und Johannes Barth winkte sofort den Kranfahrern zu, die rund um das Gebäude herum bereitstanden, um neue Fertigbauteile aufs Dach zu setzen. »Wir müssen so schnell es geht weiterbauen«, sagte er, »wir haben einen Vertrag.« Dann wachte ich schweißgebadet auf.
»Herr Barth«, begann ich am Montag das Gespräch mit dem Mann, der seit über vierzig Jahren in der Firma arbeitete und quasi zum Inventar gehörte. Johannes Barth hatte unter meinem Vater hier gelernt, kannte jede Maschine, jeden Prozess, jeden Mitarbeiter wie seine Westentasche. Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen gewesen. Wenn er nur nicht so unbesonnen wäre, dachte ich oft. Er stürmte voran, ohne nach rechts und links zu schauen. Er wollte immer, dass wir investieren, uns als Vorreiter in der Branche präsentieren, ohne auf die Kosten zu schauen, ohne auf das, was leistbar war mit einem immer mehr zusammenschrumpfenden Team. Johannes Barth wäre durch Wände – oder eben durch Decken – gegangen, wenn ich ihn gelassen hätte. So jedenfalls kam es mir vor. Tatsächlich waren wir in fast allen Dingen unterschiedlicher Meinung und doch konnte ich ohne ihn nicht auskommen.
»Herr Barth, haben Sie noch einen Moment für mich?«, hielt ich ihn auf, gerade als er sich gegen Abend bereit machte, nach Hause zu fahren. »Ich habe von Ihnen geträumt«, fuhr ich fort. Die ungewohnt vertrauliche Mitteilung ließ seine Hand auf der Türklinke abrupt erstarren. Langsam drehte er sich um.
»Na, da bin ich aber gespannt«, erwiderte er.
»Setzen Sie sich bitte.« Ich zeigte auf den freien Stuhl. »Hören Sie zu. Das war nicht irgendein Traum. Das war eine Botschaft.« Und ich erzählte ihm von meinem Traum.
Als ich geendet hatte, schaute Herr Barth mich entgeistert an und sagte: »Unfassbar. Wissen Sie, was ich in der Nacht zum Samstag geträumt habe? Ich war im Fahrstuhl der Rehaklinik am Baldeneysee. Die Klinikbetreiber waren ungehalten, weil einige Räume und Anlagen immer noch nicht benutzbar waren. Wir wollten in den zentralen Serverraum hinunterfahren, da ich ihnen dort das Steuerungs- und Sicherungssystem der Toranlagen erläutern sollte. Aber nachdem die Kabinentür sich automatisch geschlossen hatte, ging nichts mehr. Nichts bewegte sich, kein Knopf reagierte. Wir waren gefangen.«
Ich war fassungslos. Unsere Träume passten wie ein Chromosomenpaar zueinander, so gegengleich verhielten sich die geschilderten Ereignisse. »Und?«, fragte ich neugierig. »Was war die Ursache?«
Er knurrte: »Sie, Chefin.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Sie hatten meine Übergabe verhindert, weil noch irgendwo eine Zierleiste fehlte, was Sie schon Tage zuvor beanstandet hatten. Ich fühlte mich wie auf Eis gelegt.«
Es schien, als würde etwas in mir zerbrechen. So hatte noch nie ein Mitarbeiter mit mir gesprochen. Wagte Johannes Barth das, weil es ein Traum war? Wie so oft in letzter Zeit spürte ich eine Enge in der Brust. Das Gefühl, dass etwas geschehen müsse, ließ mich schon lange nicht mehr los, aber in diesem Moment erschien mir alles so bedrohlich, dass ich meine Rolle als Chefin vergaß. Plötzlich war ich nicht mehr die starke Frau, sondern eher das kleine Mädchen, das die starke Hand des Vaters sucht. Nur – die einzige Hand, die da war, war die von Herrn Barth, meinem ungeliebten Betriebsleiter. Und der nahm, wie ein strenger Lehrer zu Großvaters Zeiten, ein Lineal in seine Hand und schlug mir damit auf die Finger. So jedenfalls kam es mir vor, als er nun jeden einzelnen Grund für seinen Frust wie einen Hieb aufzählte: meinen Perfektionismus, meine ständige Angst, Mitarbeiter könnten etwas falsch machen. Er nannte es »Kontrollwahn«. Meine Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, mein notorischer Sparzwang, wie er es nannte. Das konnte ich keinesfalls auf mir sitzen lassen. Was erdreistete sich der Mann? Ich schlug zurück, nannte alles, womit er mir tagtäglich das Leben schwer machte: seine ewigen Neuerungswünsche, die immer mit Kosten verbunden waren. Ständig war er unzufrieden, meinte, wir müssten mehr für die Entwicklung tun, um konkurrenzfähig zu bleiben. Sein mangelndes Verständnis für die Konsequenzen. Ich musste ihm immer wieder vor Augen führen, dass ich wirtschaftlich denken und entscheiden musste. Noch nie zuvor hatte ich so mit einem fremden Menschen gestritten. Aber es hatte auch etwas von einem reinigenden Gewitter. Nach den persönlichen Vorwürfen kamen andere Dinge auf den Tisch. Probleme, die nicht mit ihm oder mir zu tun hatten, zumindest nicht offensichtlich: allen voran Achim Hagedorn, der mit jedem in Streit geriet und alles zu sabotieren schien. Dann Bodo Beyer, der schon oft gesagt hatte, dass zu viel an ihm hängen bliebe, er wollte, dass ein zweiter Mann an seine Seite gestellt würde, dass die Aufgaben besser verteilt werden müssten und der sich jetzt einfach aus dem Staub gemacht hatte. Klaus Färber, der Leiter Holz- und Fertigteilebau, war unzufrieden, weil seine Werkzeuge veraltet waren. Wenke Schneider, die Planungsleiterin, kam andauernd und nervte mich mit irgendwas, wozu sie mein Go brauchte: neue Bildschirme, immer wieder Aufträge für eine unserer Zulieferfirmen. Ich sollte wegen einer Verlängerung der Lieferfrist für das Reha-Zentrum verhandeln usw. Alle hatten sich schon mal mehr oder weniger laut über das allgemeine Chaos beschwert und darüber, dass sie nie ausreichend informiert waren. Das Ausmaß an Problemen, so wurde mir bewusst, überstieg bei Weitem das, was ich mir bis dahin einzugestehen bereit gewesen war.
Als alles gesagt war, schwiegen wir. Lange saßen wir uns stumm gegenüber. Ein bisschen konnte ich ihn sogar verstehen. Aus seiner Sicht hatte er ja Recht mit vielem. »Was sollen wir tun?«, fragte ich schließlich leise. Johannes Barth machte ein paar Vorschläge, aber schon kamen wieder meine Bedenken. Immer das Gleiche: Er preschte vor, ich musste bremsen, aus welchen Gründen auch immer. So kamen wir nicht weiter. Egal, um welche Frage es ging – wie wir Mitarbeiter auftreiben könnten, wie wir Bodo Beyer vorübergehend ersetzen könnten, welche Terminverschiebungen wir mit welchen Mitteln erreichen könnten und und und –, der Berg an Problemen schien unüberwindbar. Und unsere gegensätzliche Haltung ebenfalls. Als ich die Hoffnungslosigkeit auch in seinen Augen sah, wollte ich ihm wenigstens etwas Nettes sagen: »Ich weiß, dass Sie damals ziemlich unter