Das geschenkte Mädchen. Martin Arz
näherte sich Pfeffer vorsichtig der Frau, die in der Ecke auf einem Stuhl zusammengekauert saß und einen Becher Kaffee mit den Händen umkrallte.
»Frau …«
»Yilmaz, Fetmeh«, unterbrach ihn die Frau mit schriller Stimme und sah zu ihm hoch. Sie mochte Ende dreißig sein, vielleicht Pfeffers Jahrgang, doch sie sah älter aus. Sie trug eine blaue Kittelschürze und ein farblich mutiges Kopftuch. Ihre Augen waren gerötet, aber trocken. Sie schluckte. »Sie können aber Aische zu mir sagen.« Ihr Deutsch war fast perfekt.
»Danke, Frau Yilmaz, ich glaube nicht.« Pfeffer ging in die Hocke, um mit der Sitzenden auf einer Augenhöhe zu sein. Psychologisch nie verkehrt. Bei Augenkontakt auf einer Höhe lügt es sich schlechter. Das mit dem In-die-Hocke-Gehen hatte er immer bei seinen beiden Söhnen gemacht, als sie ihn dabei noch nicht körperlich überragt hatten – lange her. »Frau Yilmaz, ich bin Kriminalrat Max Pfeffer von der Münchner Mordkommission.« Er hielt ihr pro forma seinen Ausweis unter die Nase. Gewohnheit. »Erzählen Sie mir bitte alles, was Sie wissen. Wann und wie haben Sie den Toten …«
»Doktor Westphal«, rief Fetmeh Yilmaz dazwischen.
»Wann und wie haben Sie Doktor Westphal gefunden. Lassen Sie bitte nichts aus.«
Sie ließ nichts aus. Pfeffer bereute beinahe, dass er sie dazu aufgefordert hatte. Nun, sie habe einen Schlüssel, weil sie meistens ganz früh zum Putzen komme, bevor der Laden aufmache. Ab und zu auch abends, nach Geschäftsschluss, gegen halb acht, denn Doktor Westphal würde selten länger als sieben seine Galerie offen haben. Je nachdem, wie es ihre anderen Putzstellen zuließen. So wie heute. Und da sei er gelegen und alles voller Blut, so entsetzlich viel Blut. Wie sie das nur je wieder wegkriegen solle! Nein, über das Geschäft und die Kunden von Doktor Westphal wisse sie nichts, gar nichts. Ja, Doktor Westphal sei nicht verheiratet gewesen. Keine Frau, keine Freundin, jedenfalls keine, von der sie wisse.
»Wissen Sie, Herr Kriminalrat«, sagte die Putzfrau, »man soll nie etwas Schlechtes über die Toten sagen und ich schäme mich auch dafür, aber Doktor Westphal war kein sehr guter Mann. Verstehen Sie?« Pfeffer verstand nicht. »Ein guter Mann hat eine Frau und eine Familie, für die er sorgt. Für ihn gibt es die Frau und keine andere Frau.«
»Und Herr Westphal hatte also andere Frauen? Obwohl er nicht mal eine hatte?« Pfeffer versuchte sich in die Argumentationslogik der Zugehfrau hineinzuversetzen. Klar, der Tote war ein Schürzenjäger.
»Er hatte nur andere Frauen.« Fetmeh Yilmaz richtete sich gerade auf, drückte das Kreuz durch und klemmte die Hände mit dem Becher zwischen ihre Beine. Tratschposition. »Er hat sogar mir nachgestellt, aber ich bin eine anständige Frau! Aber meine Vorgängerin, Aische, die hat hier nicht mehr arbeiten wollen, weil er sie so sehr belästigt hat. Und Aische ist sehr hübsch. Sie ist meine Nichte. Die Tochter meines zweitältesten Bruders Mehmet und die Schwester von Levent Demir. Sie wissen schon, der TV-Star.« Pfeffer wusste nicht, aber er nickte. »Da habe ich die Stelle übernommen. Meine Familie …«
»Ist Ihnen aufgefallen, ob was fehlt?«, unterbrach Pfeffer sie schnell, bevor sie auch noch ihre Familienverhältnisse detailliert vor ihm ausbreiten konnte. Sie hatte bestimmt eine große Familie mit Namen, die sich Pfeffer nicht würde merken können, selbst wenn er es gewollt hätte.
»Was fehlt?« Die Putzfrau starrte ihn verwundert an. »Oh, ich weiß, dass die Sachen hier viel wert sind. Auch wenn ich nicht verstehen kann, dass jemand für diese alten, hässlichen und schmutzigen Figuren viel Geld ausgibt.« Pfeffer nickte zustimmend und unterdrückte ein Lachen. »Ich habe Doktor Westphal ja immer angeboten die Sachen zu waschen, ich hätte sie richtig sauber bekommen. Picobello, so sagt die eine Frau immer, für die ich auch putze. Picobello sauber. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was picobello bedeutet, aber ich hätte die schmutzigen Figuren hier richtig picobello sauber gemacht. Doch Doktor Westphal hat ständig ›Unterstehen Sie sich‹ gerufen. Aische hat immer gesagt …«
»Danke, Frau Yilmaz, Sie haben mir sehr geholfen«, verabschiedete sich Pfeffer hastig. »Wenn Ihnen vielleicht doch noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.« Er überreichte ihr seine Visitenkarte und ließ Fetmeh Yilmaz in seine rehbraunen Kuschelaugen fallen. Wenn es etwas an ihm gab, das bei Frauen nie seine Wirkung verfehlte, dann waren es seine dunklen, samtigen Augen. Und sein volles Haar, das, obwohl er die Vierzig noch vor sich hatte, bereits vollständig ergraut war. Sein Friseur versuchte seit Jahren, ihm eine »Auffrischung« der alten Haarfarbe unterzujubeln. Angeblich ganz natürlich. Keine Tönung, nur ein Mittel, das die Farbpigmente wieder reaktiviert. So wie es der Kanzler macht. Doch Max Pfeffer stand zu seinem Grau, das im krassen Kontrast zu seiner beinahe faltenlosen Haut stand. Der Kriminalrat war nicht ganz Einsfünfundachtzig und nicht unbedingt der Allerattraktivste, da machte er sich nichts vor. Manchmal, ziemlich selten, litt er ein wenig darunter. Im Sommer konnte er vielleicht einen gewissen Frauentyp mit knapper Kleidung beeindrucken, die seine sehr athletische Figur und vor allem seinen wirklich präsentablen Hintern betonte. Aber egal welches Wetter und wie dick die Kleidung – der Kuscheleffekt seiner dunklen Augen wirkte auf Frauen immer, und sei es nur, dass er sie verwirrte. Nur, dass Pfeffer sich so rein gar nichts aus Frauen machte.
03 »Ich habe sein Filofax gefunden«, rief Freudensprung mit Triumph in der Stimme und versuchte in dem ledergebundenen Kalender zu blättern. Weil er noch die dünnen Einmalhandschuhe trug, um keine Spuren zu vernichten, konnte er nur Seitenblöcke umblättern.
»Sehr gut«, lobte Pfeffer und kam sich dabei vor wie ein Oberlehrer. Dann verteilte er die Aufgaben an sein Team. Besonders wichtig war ihm, dass eine Inventur gemacht wurde. Vielleicht Raubmord, was heißt vielleicht – Pfeffer nahm sich nacheinander ein paar Figuren aus einer Vitrine, drehte sie um und musterte die Preisschildchen. Da standen Worte wie »Dogon«, »Ewe«, »Idoma« oder »Tschokwe« – Worte, die Pfeffers Miene zu einer Maske des blanken Unverständnisses erstarren ließ, jenem Gesichtsausdruck, den er sonst nur angesichts seiner Stadtwerkeabrechnung aufzusetzen pflegte. Die Summen auf den Etiketten reichten von zwei- bis zehntausend Euro. Eine kleine Terracotta-Figur, die ein kryptisches »Nok« auf dem Preisschild stehen hatte und die Pfeffer stark an die comicartigen Töpferarbeiten seines jüngsten Sohnes erinnerte, sollte gar mehr als zwölftausend Euro kosten. Viel Geld, also mit ziemlicher Sicherheit Raubmord.
»Das wäre doch was für unsere Frau Scholz. Bella, machst du das?« Pfeffer warf seiner jungen Kollegin die Tonfigur zu. Annabella Scholz fing die kleine Kostbarkeit mit einer Hand auf. »Alle Figuren zählen. Und herausfinden, was uns die Figur in der Blutlache sagen will, sofern sie was zu sagen hat und nicht nur zufällig da herumsteht.« Pfeffer deutete auf die Holzpuppe neben der Leiche. »Versuch jemanden aus Westphals Familie aufzutreiben. Irgendwelche Verwandtschaft wird er ja wohl gehabt haben. Eltern, Geschwister, Cousins. Lieferscheine checken, Kontoauszüge, Geschäftsverbindungen, das ganze Pipapo eben.«
Annabella Scholz, die immer etwas zu salopp und jugendlich-cool gekleidet war, um in Paul Freudensprungs Augen wirklich attraktiv zu sein, nickte und fuhr sich durch ihre blondierte Mähne. Dann warf sie Pfeffer die Nok-Figur zurück.
Er brauchte beide Hände, um die Preziose sicher zu fangen. Der Kriminalrat fühlte sich auf einmal so unendlich müde. Das ganze Pipapo eben. Immer Routine, immer ein Toter, immer im Dreck wühlen. So viel Motive gab es nicht. Geld oder Liebe. Ausnahmen bestätigten die Regel. Pfeffer wünschte sich manchmal was richtig Kniffliges, einen Fall, der größere Dimensionen hatte. Etwas zum Festbeißen und Routinevergessen. Natürlich machte ihm jeder Fall irgendwo Spaß, sofern man bei Mord von Spaß reden konnte. Sicherlich war jeder Fall für ihn eine Herausforderung, mal dauerte es länger, bis sie den Täter schnappten, meist ging es jedoch recht schnell. So, wie es in diesem Fall sein würde. Vermutlich reichte es schon, den Kalender des Toten zu filzen. In spätestens zwei bis drei Wochen würden sie dann bestimmt herausfinden, dass entweder eine eifersüchtige Gespielin zum Messer gegriffen hatte, die ihnen dann schluchzend gestehen würde: »Ich konnte nicht anders, dieses Schwein …«, oder sie würden einen Verwandten in Geldnot verhaften, der beim Klauen einer wertvollen Figur, die er dann an einen Hehler verschachern wollte, von Doktor Westphal überrascht worden war. Pfeffer gähnte innerlich.
»Schau nicht so gelangweilt