Das geschenkte Mädchen. Martin Arz
das Viertel benannt ist, verläuft schon seit Jahrzehnten unterirdisch. Selbst der kleine vereiste Abhang, der zum Alten Südlichen Friedhof hinauf führt und den sie sonst bei winterlichen Straßenverhältnissen mied, weil sie schon zweimal dort ausgerutscht und böse hingefallen war, schreckte sie diesmal nicht. Bald bin ich reich, reich, reich, dachte sie bei jedem Schritt, alles wird gut, gut, gut.
Auf dem Weg, der, eingesäumt von den hohen Mauern, die die beiden Teile des Friedhofs trennen, den direkten Durchgang von der Pestalozzistraße zur Thalkirchner Straße ermöglicht, spielten ein paar Kinder. Wie immer, wenn Helene diesen Weg ging, und sie ging ihn möglichst oft, denn es gehörte zu einer Art Ritual, ständig mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden, blieb sie kurz vor der Gedenktafel für die im Krieg gefallenen Soldaten stehen. Zielsicher fiel ihr Blick auf das untere rechte Eck, auf dem die in den Kolonialkriegen Gefallenen geehrt wurden. Bisher war sie nach einer kurzen Pause immer stumm weitergegangen. Diesmal öffnete sie den Mund und hauchte »Danke« in die frostige Nachmittagsluft.
05 Eisiger Wind peitschte den Schneeregen über die Straße. Der Wetterdienst hatte Fön und Sonnenschein mit »für die Jahreszeit zu warmen Temperaturen« vorausgesagt. Von wegen! Pfeffer schlug den Kragen seines Mantels hoch, als sie sich dem Haus näherten. Es war noch früh am Morgen und er war schon seit Stunden auf den Beinen. Frühstück für die Kinder machen, eine halbe Stunde Joggen und ins Büro hetzen – so sah seit Monaten sein Sportprogramm aus – dann den Tagesablauf mit den Kollegen absprechen und die paar Personen abklappern, deren Namen in Westphals Filofax zu finden waren. Außer zwei Tassen Espresso und einem halben Päckchen Zigaretten hatte er noch nichts gefrühstückt. Wie fast jeden Morgen. Auch eine Möglichkeit, schlank zu bleiben.
Pfeffer zündete sich eine neue Zigarette an und sah zwei Gestalten nach, die durch die Graupelschauer die Straße hinunterwankten. Sie waren als Afrikaner verkleidet, schwarze Trikots mit Baströckchen und Lockenperücken. Vermutlich gab es die Kostüme beim Schnäppchenmarkt zum Sonderpreis. Die beiden erinnerten Pfeffer daran, dass Faschingszeit war. Das war an ihm bisher völlig vorbeigerauscht. War Weihnachten nicht erst vorgestern gewesen?
Er hatte sich noch nie etwas daraus gemacht, auch damals nicht, als er noch eine funktionierende Familie gehabt und seinen kleinen Kindern beim Kostümebasteln geholfen hatte. Nun fanden seine halbwüchsigen Söhne Fasching krass ätzend und konkret uncool. Gott sei Dank, dass sie nicht im Rheinland lebten, wo man dem Grauen nicht entgehen konnte.
»Gehst du mit deiner Irene auf Fasching?«, fragte er seinen Kollegen Freudensprung, während er auf die Klingel am Tor des gutbürgerlichen Einfamilienhauses drückte.
»Nö«, antwortete Freudensprung schlecht gelaunt.
»Nicht? Du bist doch mit deiner Frau all die Jahre immer …«
»Dieses Jahr eben nicht«, raunzte Freudensprung.
»Entschuldige, dass ich mit dir spreche«, sagte Pfeffer gereizt und klingelte noch einmal. »Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen, Paul? Seit Tagen bist du unausstehlich.«
»Nix ist mir über die Leber gelaufen«, brummelte Freudensprung und fuhr sich durchs Haar, das auf seinem Kopf immer mehr die Flucht nach hinten antrat. Seine Frau Irene hatte ihm regelmäßig alle möglichen und unmöglichen Haarwachstumsmittelchen mitgebracht. Kollegin Annabella Scholz nannte seine Geheimratsecken stets »dramatisch«. Freudensprung konnte Anspielungen auf seine schwindende Haarpracht nicht leiden. Genauso wenig konnte er es leiden, wenn er wegen seines Namens »Gaudihupf« oder der Kürze halber meist nur »Gaudi« genannt wurde. Bella zog ihn damit ständig auf. »Na los, Frese-Mayer, mach endlich die Tür auf! Mir frieren die Eier ab.«
Wie auf Kommando krächzte eine Stimme aus der Gegensprechanlage: »Ja bitte?«
»Frau Sabine Frese-Mayer? Können wir bitte kurz mit Ihnen sprechen? Kripo München.«
»Was wollen Sie? Ist meinem Mann etwas passiert, oder hat er wieder etwas angestellt?«, quäkte die Stimme.
»Keine Sorge«, sagte Pfeffer betont freundlich. »Wir haben nur ein paar Fragen an Sie und Ihren Mann. Lassen Sie uns bitte für einen Moment rein.« Pfeffer spürte, wie seine Zehen vor Kälte taub wurden.
»Warten Sie«, antwortete die Frauenstimme. »Mein Mann ist nicht da und ich muss zu einem Businesstermin nach Berlin. Ich komme gleich raus, mein Taxi müsste jeden Moment da sein.«
»Scheiße!«, fluchte Freudensprung und hüpfte von einem Bein auf das andere.
Es dauerte noch einige Minuten, bis sich endlich die Eingangstür öffnete und eine perfekt gestylte Frau im dunklen Kaschmirmantel auf den Waschbetonweg trat. Ein kuscheliger Pelzkragen umschmeichelte ihr Gesicht. In den warm behandschuhten Händen trug sie einen kleinen Koffer und eine Aktentasche aus Krokolederimitat.
»Worum geht es?«, fragte sie die beiden Kriminalbeamten und winkte mit einem »Jajaja« gelangweilt ab, als Pfeffer ihr seinen Ausweis- unter die Nase hielt.
»Frau Frese-Mayer, kennen Sie einen Doktor Sönke Westphal?«
»Nicht, dass ich wüsste. Sollte ich?«, entgegnete sie leicht schnippisch. Der Wind brachte keine Strähne ihres betont auf lässig frisierten Haares durcheinander.
»Er war Experte für afrikanische Kunst«, sagte Freudensprung.
»War?« Frau Frese-Mayer zog eine Augenbraue hoch. Es sah nach einer lange und sorgfältig einstudierten Mimik Marke »Sag mir lieber gleich, was du zu verheimlichen versuchst« aus.
»Er wurde gestern tot aufgefunden, Frau Frese-Mayer. Ermordet, um genauer zu sein.« Pfeffer bemühte sich genauso gelangweilt zu reden wie sein Gegenüber.
Keine Reaktion bei der Frau. »Bedauerlich«, sagte sie mit einem Schulterzucken. »Doch leider kann ich Ihnen beim besten Willen nicht weiterhelfen. Ich kannte ihn nicht. Ah, da kommt ja endlich mein Taxi.« Ein zartbeiger Mercedes hielt an.
»Und Ihr Mann? Könnte er Doktor Westphal gekannt haben?«, fragte Pfeffer und half der Frau beim Verstauen des Koffers auf der Taxirückbank.
»Schon möglich. Georg kennt die seltsamsten Menschen. Aber das müssen Sie ihn selbst fragen.« Sie stieg in den Wagen.
»Wann ist Ihr Mann denn mal zu Hause?« Pfeffer musste sich beherrschen, um nicht noch »Lassen Sie sich halt nicht alles aus der Nase ziehen« hinzuzufügen.
»Mein Mann ist gestern für zwei Tage zum Skifahren nach Zürs gefahren. Da müssen Sie sich also noch ein wenig gedulden. Und wenn er wieder da ist, dann erreichen Sie ihn am besten bei seiner Großtante. Da kann er sich durchschmarotzen und nach Herzenslust besaufen. Seine beiden Lieblingsbeschäftigungen.« Sie zog mit einem Ruck die Autotüre zu. Pfeffer wollte sie schon fast wieder aufreißen, als Frau Frese-Mayer das Fenster einen Spalt herunterließ und »Emmy Frese, Palmstraße 7. Glockenbachviertel. Schönen Tag noch!« rief, während das Taxi losfuhr.
»Jetzt schließ endlich das verdammte Auto auf, ich habe schon Frostbeulen«, grummelte Paul Freudensprung.
»Hör zu, Paul«, sagte Pfeffer, als sie endlich im warmen Wagen saßen. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Freudensprung sah seinen Chef verwundert an. »Deine Laune geht uns allen auf den Sack. Entweder du sagst mir jetzt, was los ist, oder ich werde dich auf irgendeinen popeligen Fall ansetzen. Dann kannst du dich alleine am Schreibtisch austoben und vermiest uns anderen nicht das Leben.«
Freudensprung verschränkte auch die Arme, lehnte sich zurück und schwieg.
»Wie lange kennen wir uns jetzt?« Pfeffer bemühte sich um einen versöhnlichen Ton und zündete sich eine Zigarette an. »Wir sind schon zu lange befreundet, als dass wir uns noch was vormachen könnten, oder? Du hast mir damals sehr geholfen, als ich vor den Trümmern meiner Ehe stand. Du weißt alles über mich, ich weiß mit Sicherheit viel über dich, oder irre ich mich? Was ist los mit dir?« Freudensprung schwieg. »Du kannst mir zigmal erzählen, dass du nur schlecht geschlafen hast. Mann, ich sehe doch, dass es dir beschissen geht. Ist es wegen Irene? Habt ihr Krach?«