Das geschenkte Mädchen. Martin Arz

Das geschenkte Mädchen - Martin Arz


Скачать книгу
sich Dosen und Einweckgläser, offene und noch verschlossene. Vermutlich lebte in einigen der Inhalt, Helene wagte gar nicht daran zu denken.

      »So, Frau …« Die Alte war fast lautlos hinter Helene getreten, obwohl sie sich beim Gehen auf einen Stock mit Silberknauf stützte.

      »Marwitz. Helene Marwitz ist mein Name.«

      »Frese. Emmy Frese ist mein Name«, erwiderte die Alte und schüttelte Helene herzlich die Hand. »Komisch. Marwitz, hm? Ich kann mich gar nicht entsinnen, dass ich diesen Namen auf meiner Liste habe.« Emmy Frese nahm umständlich am Küchentisch Platz und griff sich eine aufgeschlagene Zeitung, die den Abschluss einer Getränkeverpackungspyramide bildete. Dabei segelte ein kleiner weißer Zettel auf den Boden. Die Alte bemerkte es nicht. »Komisch, wo ist denn der Zettel mit den Namen? Na, wie dem auch sei, Frau Marwitz, Sie sind die Erste und soll ich Ihnen was sagen? Sie gefallen mir. Ich hätte zwar kein so junges Ding erwartet, und noch dazu ein so hübsches Ding, aber Sie gefallen mir!«

      Helene fühlte sich wie das Opfer von Versteckte Kamera. Was ging hier vor sich? »Ich verstehe nicht ganz«, sagte sie leise.

      Emmy Frese schlug mit dem Handrücken auf die Zeitung. »Sie wollen sich also bei mir als Haushaltshilfe bewerben?« Ihr Blick schwirrte wie eine aufgescheuchte Motte durch die Küche. »Oh Gott, ich weiß, was Sie jetzt denken! Die Alte lebt hier mitten im Müll und braucht nun eine Doofe, die das Ganze mal auf Vordermann bringt. Geben Sie’s ruhig zu.«

      Helene gab es nicht zu, obwohl sie genau das dachte und ihr allmählich dämmerte, worum es hier ging.

      »Neinneinnein«, fuhr die Alte fort. »Ganz so ist es nicht. Sehen Sie, ich habe nur damit angefangen, mal die Küche auszumisten. Alles raus, was ich nicht brauche oder was längst unbrauchbar ist. Da käme mir natürlich schon eine Hilfe recht. Aber Sie müssen nichts machen, was nicht auch in der Zeitungsannonce steht. Da bin ich ganz korrekt.« Emmy Frese bedeckte ihr Gesicht mit der Zeitung.

      Helenes Verwirrung war perfekt. Wollte die Alte jetzt ein Nickerchen machen?

      »Hier ist ja meine Annonce«, sagte die Greisin und hielt sich die Zeitung weiterhin ohne Abstand vor das Gesicht. Blind wie ein Maulwurf, erkannte Helene. »Suche Haushaltshilfe, 2-3 x wöchentlich, f. Einkaufen und leichte Hausarbeiten. Kein Putzen. Ja, genau. Eine Putzfrau habe ich nämlich.«

      Helene musste sich zurückhalten, um nicht in die Knie zu sinken und ein paar Ave Maria zu beten. Die Chance, auf die sie ihr Leben lang gewartet hatte, war ganz unverhofft da. Sie wollte lachen oder weinen. Vor Erleichterung und Glück, dass ihr der Zufall so leicht die Tür geöffnet hatte. Sie musste Emmy Frese nicht unter fadenscheinigen Vorwänden plumpe Fragen stellen. Durch eine gütige Fügung des Schicksals würde sie als Haushaltshilfe das Vertrauen der Alten gewinnen und könnte im Laufe der Zeit alles herausfinden, was sie wissen wollte. Die Alte brauchte nicht zu erfahren, dass Helene die Annonce nie gelesen hatte. Sie hatte es geschafft. »Strike« oder »Full House« oder wie sie in den amerikanischen Filmen bei solchen Gelegenheiten immer zu sagen pflegten.

      Alle gedanklichen Planspiele, die sie wieder und wieder insgeheim geprobt hatte, waren hinfällig. Dabei hatte sie an nichts anderes mehr gedacht, seit sie vor drei Tagen von ihrem Chef gebeten worden war, ihm doch bitte schnellstmöglich die Akte Prestl zu bringen.

      »Wird sofort erledigt«, hatte sie zurückgesäuselt und sich damit einen abschätzigen Blick ihrer Kollegin Gitti eingehandelt, die an diesem Tag zum ersten Mal von ihrer Beschäftigung (Fingernägellackieren) aufgesehen hatte. Helene kannte ihre Kollegin genau. Schleimerin, hatte Gitti sicher in dem Moment gedacht. Doch Helene pflegte nie zu schleimen, sie hatte sich nur zur Angewohnheit gemacht, besonders freundlich zu sein, wenn sie schlechte Laune hatte. Wie an diesem Tag. Also hatte sie gesäuselt, als sie Kaffee servierte, als sie Klienten Termine zuwies und als sie gebeten wurde, die Akte Prestl schnellstmöglich herauszusuchen. Und säuselnd hatte sie ihren Tag zu Ende bringen wollen, der ewig kaugummikauenden Gitti zum Trotz. Helene war zum Aktenschrank gegangen, hatte die Schublade mit den Hängeregistern »Pa – Se« herausgezogen und Prestl gesucht. Die Akte war nicht zu finden gewesen. Jedenfalls nicht unter »Pr«, dort hatte sich die Akte »Frese« befunden. Gitti und ihre Ablage. Da hatte sie vermutlich wieder mal nur die neueste Farbpalette für Fingernagellack im Kopf und sich gedacht: »Pr« oder »Fr«, wo ist da der Unterschied? Klingt doch total ähnlich, da kann man sich schon mal vertun.

      Frese. Ausgerechnet Frese. Helene hatte die Akte gebannt angestarrt. Der Mädchenname ihrer Großmutter, der Name, der in allen Geschichten ihrer Mutter eine zentrale Rolle gespielt hatte. Frese. Nun, es gab in München einige Träger dieses Namens, wenn auch vergleichsweise wenige, wenn man mal an Schmidt oder Müller dachte. Wenn sich Helene jemals wirklich dahinter geklemmt hätte, wäre sie früher oder später auf den Richtigen oder die Richtige gestoßen, sofern er oder sie überhaupt noch lebte. Sie hatte es nie getan, sich nie wirklich auf die Suche begeben, es immer verschoben auf ein andermal.

      Aber wenn das Schicksal schon mit Zaunpfählen um sich schmiss, musste man was tun. Zum Beispiel den Akt öffnen und nachschauen, ob es vielleicht der richtige Frese war. Ein paar Blätter Schriftverkehr zwischen der Anwaltskanzlei Beck und Emmy Frese, Palmstraße 7, München, aus den achtziger Jahren. Ein versiegelter Umschlag, das Testament. Und dann die Kopie einer Geburtsurkunde für Emmy Wilhelmine Bertha Frese, geboren am 23. März 1904 in Buëa, Deutsch-Kamerun; Vater: Leopold Konrad Frese, Kaufmann und Plantagenbesitzer aus München; Mutter: Bertha Sieglinde Frese, geborene Wartmann, Krankenschwester und Kaufmannsgattin aus Berlin; Eltern des Vaters, Eltern der Mutter, etc. Helene war für einen Augenblick schwindelig geworden. Kein Zweifel, das war die richtige Frese. Sie lebte offenbar noch, denn das Testament war noch nicht geöffnet worden, und sie lebte gar nicht so weit von Helene entfernt. Ebenfalls im Glockenbachviertel. Vielleicht waren sie sich sogar schon im Supermarkt begegnet.

      Jetzt, drei Tage später, wusste Helene, dass sie sich noch nie an der Käsetheke gesehen hatten. Die kleine Alte mit dem verwitterten Gesicht wäre ihr sicherlich aufgefallen.

      »Kreislaufprobleme?«, hatte Gitti gefragt, als Helene sich kurz gegen den Schreibtisch gelehnt hatte, um sich vom positiven Schock ihrer Entdeckung zu erholen.

      »Geht schon wieder«, hatte Helene geantwortet und Gitti hatte sich nahtlos weiter ihren Fingernägeln gewidmet.

      Helene lächelte Emmy Frese, geboren 1904 in Buëa, Deutsch-Kamerun, freundlich an. Sieht ja noch ganz schön fit aus, dabei ist sie schon fast hundert Jahre alt, dachte sie sich. In dem Alter zählte man sicher nur noch die Tage. Zeitverlust konnte sie sich also nicht leisten.

      »Wissen Sie«, sagte Helene deshalb, »ich arbeite als Rechtsanwaltsgehilfin. Aber ich dachte mir, ich könnte noch ein kleines Zubrot verdienen. Ein paar Stunden die Woche. Sie wissen ja«, Helene seufzte melodramatisch, »München ist ein ganz schön teures Pflaster.«

      Emmy Frese seufzte solidarisch mit und winkte mit ihrer welken Hand wissend ab. »Wem sagen Sie das. Und eine junge, so hübsche Frau wie Sie hat bestimmt viele Verehrer, für die Sie sich schön machen wollen. Oh, ich weiß, was all die Sachen kosten, die wir Frauen so brauchen.« Sie zwinkerte verschwörerisch.

      Verehrer! Was für ein schönes Wort für die Flops, die Helene in der letzten Zeit um sich gehabt hatte. Mal kürzer, mal länger. Einzige Ausnahme war Bert, mit dem sie fünf Jahre in trauter Zweisamkeit gelebt hatte, bis sie dann herausfand, dass die Zweisamkeit schon seit längerem eine Dreisamkeit war. Trotzdem hatte sie ihn geliebt und war nach der Trennung monatelang mit Grabesmiene herumgelaufen, wobei sie im Beruf zu einer neuen Höchstform im freundlichen Säuseln aufgelaufen war. Nun gut, über Bert war sie endlich hinweg, trotzdem war er im Vergleich zu den anderen Flitzpiepen der reinste Gott gewesen. Helene hätte der Alten da Geschichten erzählen können – von wegen Verehrer. Seit der Trennung von Bert hatte es nur zwei One-Night-Stands gegeben.

      »Anwaltsgehilfin, so, so«, sagte Emmy Frese.

      Beschwingt machte sich Helene auf den Nachhauseweg. Dreimal die Woche für jeweils zwei Stunden in der Nähe von Emmy Frese, einkaufen, aufräumen, ihr Vertrauen gewinnen und alles erfahren, was Helene wissen wollte. Dazu noch etwas Geld verdienen, auch wenn sie es nicht brauchen würde, wenn


Скачать книгу