Neubayern. Florian F. Scherzer
Ich bin dann nach der Schule mit ihm nach oben gegangen. Über den unteren Goaßweg. Wir haben uns beeilt, damit die Traublinger-geschwister nicht hinterher kommen.
Wir haben uns an einen der Fischweiher vom Kiener gesetzt und als die Traublingergeschwister vorbei waren, habe ich zum ersten Mal mit dem Benno über sein angebliches Viechfieber und was alles so passiert ist, reden können. Am Anfang haben wir beide nicht so recht gewusst, was wir sagen sollen. Aber irgendwann habe ich dann angefangen zu fragen.
Der Schwammerlrausch
Bericht von Joseph Kiener.
Ich konnte die beiden Buben von meiner Seite des Karpfenweihers aus gut sehen und hören. Ich lag am Ufer, dort wo ich immer lag. Die Stelle, wo ich alles überblicken konnte. Den Weg, die Felder, die Wiese vom Traublinger, den Überlauf, wo im Sommer die Kinder und die Mägde schwammen. Der Sailler sah mitgenommen aus und war zuerst sehr schweigsam. Die beiden warteten, bis die Geschwister Traublinger am Weiher vorüber waren. Irgendwann fing der Schwarz zu sprechen an:
»Der Traublinger sagt, dass du die ganze Zeit geschlafen hast.«
Benno Sailler schwieg und spuckte in das Weiherwasser.
»Der sagt auch, dass du das Viechfieber hast und dass wir uns alle von dir fern halten müssen, damit wir das nicht auch kriegen.«
Der Sailler zeigte keine Regung.
»Und dass die Kinder vom Viechfieber dumm werden können, hat er erzählt. Und dass die dann nicht mehr in die Schule kommen dürfen und daheim auf dem Hof eine Last sind und den Bauern Geld nur noch kosten. Nicht einmal mehr mitarbeiten können sie.«
Immer noch keine Reaktion vom Sailler.
»Hast du jetzt das Viechfieber oder nicht?«
Ich konnte sehen, dass der Saillerbub weinte. Seine Schultern hoben und senkten sich. Endlich sagte er etwas:
»Was weiß denn ich …«
Der Schwarz schien einerseits erleichtert zu sein, dass sein Freund überhaupt etwas sagte, wusste aber scheinbar nichts mit Bennos Gefühlsausbruch anzufangen. Ihm war sichtlich unwohl.
Dann, nach ein paar betretenen Momenten, beugte sich der Schwarzbub zum Weiher hinunter und spritzte seinem Freund eine Handvoll dreckiges Wasser ins Gesicht. Das brach endlich das Eis zwischen den beiden und Benno begann sich langsam wieder zu beruhigen. Aber es war deutlich zu sehen, dass er immer noch große Angst hatte und sich nicht wirklich traute, mit seinem Freund über alles zu sprechen.
»Ich habe jedenfalls keine Perchtln gesehen, oben auf dem Wachten, wenn du das meinst. Wie soll ich mich da angesteckt haben? Also weiß ich auch, dass ich kein Viechfieber habe. Und ich weiß auch, dass ich geschlafen habe. Fast eine Woche. Ungefähr. Zwischendrin bin ich immer wieder aufgewacht. Aber dann hat mir der Doktor einen Saft gegeben und ich bin wieder eingeschlafen. Ich war die ganze Zeit nicht ein einziges Mal auf dem Klo.«
»Du wirst halt ins Bett gepieselt haben. Wie die Oma vom Traublinger.« Der Schwarz schaute seinen Freund an. Er erwartete, dass dieser über den Witz lachen würde. Aber der war so gefangen von seinen Gedanken, dass er nicht darauf einging.
»Ich weiß nicht einmal mehr genau, wie ich überhaupt beim Doktor gelandet bin. Und zwischendrin, wenn ich wach geworden bin, war immer auch der Schandi da.«
»Geh, der Voigt. Von dem habe ich gehört, dass der der Elsi ganz gerne woanders hin pieseln würde.«
Der schmutzige Witz brachte bei Benno endlich die letzten Mauern zum Einstürzen und die beiden lachten ein bisschen.
»Von davor weiß ich nicht mehr viel. Ich war oben auf dem Wachten und habe meinem Vater die Brotzeit gebracht. Ich bin dann besonders langsam heimgegangen, weil ich wollte, dass der Alois die Stallarbeit zu Ende macht und ich erst daheim bin, wenn schon alles erledigt ist. Ich bin sogar extra einen Umweg gelaufen. Über den oberen Goaßweg. Bis zu der Stelle, wo man bis zum Grat sehen kann. Weißt du, wo ich meine? Wo die Höhlen in der Wachtenwand sind. Dann habe ich doch Angst gekriegt, dass ich so viel zu spät heimkomme, dass es einen Ärger gibt. Deshalb habe ich mich beeilt. Und dann bin ich beim Doktor wieder aufgewacht.«
Der Saillerbub stocherte mit einem Ast im Weiherufer. Aber alles in allem wirkte jetzt viel selbstbewusster und fuhr fort: »Ich weiß auch noch, dass ich eine seltsame Sache gesehen habe. Genau an der Stelle, wo die Wand auf die Wiese trifft. Schon von unten. Ganz rot. Ich bin dann hin und habe das angefasst und aufgehoben. Aber ich weiß nicht mehr, was das war. Ich habe noch immer so ein seidiges Gefühl in den Fingern, wenn ich über die Sachen, die ich angefasst habe, nachdenke. So glatt und fein.«
Der Sailler schien sich wirklich nicht genau zu erinnern. Aber ein Rest, ein Gefühlsfetzen schien noch da zu sein.
»Das hat sich vollkommen perfekt angefühlt. So perfekt wie nichts anderes. Ich habe so etwas noch nie angefasst. So gleichmäßig und glatt. Und das, was ich angefasst habe, war rot. Nur noch heller. Als würde das Rot von selber leuchten. Nicht so wie das Gewand vom Pfarrer oder das Brauereischild beim Wirt oder die Bilder in den Schulbüchern. Von selber rot. Von innen heraus. Verstehst du?«
Der Schwarz schüttelte den Kopf. Der Sailler erzählte weiter.
»Und dann weiß ich noch, dass ich gerannt bin. Weil plötzlich ein Teufel da war. Hinter mir her. Der hat geschrien und gespuckt. Und er hat ein rotes Licht in die Luft geschleudert und mich in der Teufelssprache verflucht. Und dann weiß ich erst wieder, wie ich beim Doktor aufgewacht bin.«
Beide Jungen schwiegen und saßen eine ganze Weile einfach nur da. Bis der Schwarz weiter fragte: »Und dass die dich nach München bringen?«
Jetzt wurde der Sailler bleich. Da war plötzlich so etwas wie Panik in seinem Gesicht. »Nach München? Ich habe doch nichts getan. Ich habe das nur angefasst und nichts genommen. Und dann ist der Teufel hinter mir her und ich bin beim Doktor aufgewacht. Die können einen doch nicht nach München bringen, wenn man nichts mit Absicht gemacht hat, oder? Nur weil ich nicht in den Stall wollte. Ich mache nächstes Mal hundert Stunden Stallarbeit. Freiwillig. Tausend Stunden. Nur nicht nach München.«
Die Anmerkung mit München hatte den Sailler komplett aus der Fassung gebracht. Er weinte und war auch vom Schwarz nicht mehr zu beruhigen.
Die beiden sind dann irgendwann später heimgegangen. Über die Äcker. Und ich bin zurück ins Dorf.
Am Abend saß ich beim Wirt und hörte den Dorfdeppen beim Besoffenwerden zu. Wen die alles vögeln wollten, wenn sie nicht daheim die Frau und die Kinder hätten und so weiter. Und wem alles mal ein paar aufs Maul gehörten und warum die anderen sich nur her trauen sollten, weil man es denen schon zeigen würde und dass die Knechte heute eh alles nur faule Hunde wären und heutzutage keiner mehr wüsste, was eigentlich Arbeit wäre. Und die Drecksunterpfaffinger, die Arschlöcher, die sollten sich nur umschauen, wer meinten die denn, dass die seien. Und die Scheißegenkofener mit ihrem Himmelskreuzeln. Das wäre doch nicht normal sowas. Das seien doch alles Narrische. Das Übliche halt. Ich saß wie immer alleine an meinem Tisch, aß eine Suppe und irgendeine Fleischspeise. Kalter Braten, glaube ich. Dazu kamen im Laufe des Abends drei Seidel Bier und einen Schnaps und noch ein bisschen was vom vierten Seidel. Ich vertrage nicht viel, also war ich schon ganz gut bedient.
Als schon fast niemand mehr in der Gaststube war, setzte sich die Elsi vom Wirt zu mir an den Tisch, um selbst ein Bier zu trinken. Aus Langeweile oder weil ich ihr imponieren wollte, erzählte ich ihr, was ich heute von den Buben am Weiher gehört hatte.
Die Elsi weiß alles in Oberpfaffing, Unterpfaffing und Rieding. Oder halt das Meiste. Sie ist eine der wenigen aus dem Dorf, die manchmal bis nach Rieding kommen. Mit dem Brauereifahrer sogar bis in die Stadt, heißt es. So weit kommt sonst eigentlich nur der Kramer. Ich hätte sie bestimmt nicht gefragt, wenn ich nicht schon die