Neubayern. Florian F. Scherzer

Neubayern - Florian F. Scherzer


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Abend und der war noch nicht einmal der versoffenste von allen.

      Trotzdem war meine Nacht um halb vier vorbei. Ich musste zu den Fischweihern. Die Schwarzbäuerin nahm meine Forellen und Karpfen mit zum Markt nach Rieding und wollte mit den geräucherten, den lebendigen und den ausgenommenen Fischen um halb fünf los. Damit sie um sechs auf dem Markt stehen konnte. Zum Glück waren die Forellen schon geräuchert und in Zeitungspapier verpackt. Nur noch das frische Fischzeug fehlte. Die kühle Luft und die vertrauten Gesten halfen mir beim Wachwerden: Netz ins Wasser, Fisch raus, Prügel auf den Fisch, aufschlitzen, Innereien raus, Katzen verscheuchen, Netz ins Wasser, lebenden Fisch ins Fass. Zweimal das Ganze. Bei den Forellen und den Karpfen.

      Um halb fünf stand die Schwarzbäuerin am Weg und nahm meine Fische in Empfang. Finster und verschlafen sah ich den Hansi, den Schwarzbuben, auf dem Bock sitzen. Ich rollte die Fässer mit den ausgenommenen Fischen auf den Wagen und bat Hansi, mir bei den drei Tonnen mit den lebenden Forellen und Karpfen zu helfen. Das waren ganz schöne Trümmer und die Schwarzbäuerin stellte sich immer sehr dabei an. Man konnte dem Buben ansehen, dass ihm die Geschichte mit seinem Freund die ganze Nacht lang keine Ruhe gelassen hatte.

      Die Schwarzbäuerin fuhr los, ich schaute an mir hinab, riss mir die Fischschürze herunter und lief dem Wagen hinterher.

      Das Wollreh

      Bericht von Joseph Kiener. Fortsetzung

      Ich war zuvor noch nicht oft in Rieding gewesen. Es hatte auch selten Anlässe dafür gegeben. Ein paar Mal zum Markt. Ein paar Mal als Kind mit dem Vater und den Geschwistern zur Riedinger Dult. Wir Oberpfaffinger mögen die Riedinger nicht. Hochnäsige Markterer. Aber wir mögen die Unterpfaffinger genauso wenig. Und die sind keine Markterer. Ich glaube nicht, dass die Riedinger überhaupt wissen, dass es einen Ort namens Oberpfaffing gibt.

      Auf dem Wagen schlief ich fast sofort ein. Ich hatte eigentlich gehofft, ein paar Worte mit dem Schwarzbuben zu sprechen. Der aber schaute nur finster und der Wagen schaukelte so regelmäßig und mein Platz zwischen den Kartoffeln, dem Kopfsalat, den Radieschen und den Lagergelberüben war gemütlicher als gedacht. Erst als wir nicht weit vor Rieding in Schoham waren und die Ochsen stehen blieben, um am Wegrand zu fressen, schreckten die Bäuerin, der Bub und ich auf.

      Der Verkehr wurde dichter und uns begegneten immer mehr Fuhrwerke. In Schoham kreuzte der Pfaffinger Weg die größere Bacherner Straße und den Weg aus Hinterneukirchen. Die Menschen marktfein herausgeputzt. Mir wurde bewusst, dass ich immer noch mein blutiges und stinkendes Fischgewand trug und aussah und roch wie der letzte Bauerndepp. Außerdem hatte ich kein Geld dabei. Ohne Geld auf den Markt zu gehen, war keine gute Idee. Vielleicht konnte ich mir den Fischlohn von der Schwarzbäuerin vorschießen lassen.

      In Rieding war viel los. Markttag halt. Ich half der Schwarzbäuerin beim Abladen und sie zahlte mir die Fische im Voraus aus. Widerwillig. Ich wusch mich an einem Brunnen abseits des Marktplatzes und kaufte ein neues Hemd an einem der Kramerstände. Wenn ich die Fischhose über die Stiefel zog, sah ich nicht mehr ganz so Fischdandlerhaft aus. An einem schon geöffneten Marktstand gab es Schmalznudeln. Ich aß eine zum Frühstück.

      Rieding war für einen Oberpfaffinger etwas Besonderes. Der Marktplatz mit dem Königsmonument, der große Brunnen, die vielen Menschen, die bürgerlichen Häuser, mit den Malereien an den Fassaden, die so gar nicht nach Bauerndorf aussahen. Es war immer noch nicht die Stadt. Aber die kannte ich eh nur aus Erzählungen.

      Der Markt in Rieding war bekannt und beliebt. Im Laufe des Vormittags erwartete man sogar einige Stadterer, die mit dem Zug nach Rieding kamen, um hier einzukaufen und sich umzuschauen. Käse, Geräuchertes und die Leinenstoffe aus den Arnrieder Webereien.

      Ich hatte bis Mittag Zeit in Rieding. Viel zu viel Zeit für den Ort. Also ging ich über den Markt und schaute mir die Stände an: die Bauern mit ihrem Gemüse, dem Geräucherten und dem Käse. Der Papiermüller aus Kräuth mit seinen farbigen Tapetenbögen, den Schulheften und bedruckten Einwickelpapieren. Der Eisenbahnerschmied, der neben seiner Arbeit bei der Bahn Eisenwaren herstellte und verkaufte. Töpfe, Pflugscharen und Messer. Der Wagner, der Bader, der Glasmacher, die Tucher und wie sie noch alle hießen.

      Dabei bemerkte ich zum ersten Mal, dass die Fassaden der rechten Häuserzeile am Marktplatz voll mit Wandmalereien waren. Auf jedem Haus über der Türe, zwischen den Fenstern im ersten Stock, ein Bild. Wenn man tagaus tagein nur in Oberpfaffing lebt, beeindruckt einen das schon noch mehr. Auch muss ich gestehen, dass mich die Farben und die ausdrucksstarken Gesichter der Menschen auf den Gemälden sehr berührten. Ich kam ja nicht wirklich oft mit Abbildungen von Menschen oder Malerei im weitesten Sinne in Berührung. In Oberpfaffing gab es fast keine Bilder. Die paar Drucke von hohen Persönlichkeiten im ›Bayerischen Merkur‹, in die ich meine Räucherfische einpackte oder die Erinnerungen an die Bilder in der Schulfibel oder die schmutzigen Schmierereien von nackten Frauen an der Pfafflbrücke. Mehr gab es in Oberpfaffing nicht. Ich versuchte ja manchmal selbst, Menschen und andere Sachen zu zeichnen. Mit einem hellen Stein auf dem großen dunkelgrauen Fels in der Pfaffl unterhalb von meinem Haus. Das klappte manchmal besser, manchmal schlechter. Tiere und Gesichter gingen eigentlich am Besten. Und sobald es regnete, war alles wieder weg und ich musste mich nicht über missglückte Schmierereien ärgern. Einmal ist mir der Wirt so gut gelungen, dass ich das Bild gerne behalten hätte. Ich habe es daheim noch einmal auf einem Fetzen Papier versucht. Ist aber nicht so gut geworden wie auf dem Stein. In letzter Zeit hatte ich sogar darüber nachgedacht, auf den Zetteln zu zeichnen, die wir früher in der Familie Supersol genannt hatten. Das waren ursprünglich große Bögen gelblichen Papiers, auf denen sechzig Mal das Wort ›Supersol‹ stand. Darüber war eine Sonne abgebildet. Mein Bruder hatte immer wieder welche aus dem Auffanggitter im Pfafflabfluss gefischt, weil sie ihn verstopft hatten. Niemand wusste, wo sie herkamen. Er hatte die Bögen getrocknet und jeden in neun Teile geschnitten. Obwohl die Zettel stockfleckig und ausgeblichen waren, hätte der Bruder sie nie benutzt, um damit etwas banales anzustellen, wie Fenster abdichten oder Räucherfeuer anzünden. Die Zettel waren ihm heilig und wir anderen Kinder bekamen sie nur zu Gesicht, wenn unsere Namenstagsgeschenke darin eingeschlagen wurden. Ich hatte genau neun Mal ein Geschenk in einem Supersol verpackt bekommen. Diese neun Bögen hatte ich besser aufbewahrt als die Geschenke selbst. Aber ich traute mich nicht, darauf zu zeichnen. Was, wenn die Zeichnungen nichts wurden? Dafür waren die Zettel eine zu wertvolle Erinnerung an den Bruder.

      Mir gefielen die Malereien auf den Markthäusern so gut, weil ich die viele Arbeit dahinter und das handwerkliche Geschick der Maler zu schätzen wusste: Die Sengerquerung mit den vor Anstrengung verzerrten Gesichtern der Siedler. Die Flößer von Fontan mit ihren muskulösen Körpern. Man konnte jede Sehne an den Armen sehen. Der Schmied von Trelef mit ernstem, entschlossenem Gesicht und seinem Walliserprügel mit den Nägeln dran. Der König der Bayern, wie er mit entblößter Brust einen Berglöwen erlegt. Und das für mich beeindruckendste Bild: unser König, wie er die Riedinger besucht, die sich ehrfürchtig vor ihm verneigen. Dieses Gemälde berührte mich besonders. Der König mit seinem gnädigen, väterlichen Blick. Man wusste nicht, ob er einen anblickte oder ob er leicht über einen hinweg sah. Mir schnürte es vor Ergriffenheit fast die Kehle zu. Ich blieb sehr lange vor dem Bild des gütigen Landesvaters stehen. Ich traute mich nicht wegzugehen. Warum bewegte mich das so? Ich hatte schon Bilder des Königs in den Schulbüchern gesehen oder in der Zeitung. Aber hier? Seine scharfen Gesichtszüge, die gütigen Augen, die schützende Geste? Er wirkte fast wie mein Vater im Sarg. So ruhig. Ich konnte den Blick kaum abwenden. Verschämt wollte ich mir die feuchten Augenwinkel abwischen, als ich bemerkte, dass ich nicht der einzige war, der in den Bann des Königs geraten war. Der Schwarzbub kniete nur einige Fuß hinter mir und weinte. Als würde er den König anflehen. Wie beim Gebet. Ich riss mich vom Anblick des Buben und der Wandmalereien los und ging weiter.

      An einem etwas niedrigeren Haus am Ende des Marktplatzes war ein Bild übermalt worden. Ob es einfach abgeblättert war und deshalb die Stelle übertüncht worden war oder ob es so schlecht gewesen ist, dass die Besitzer es nicht mehr sehen wollten?


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