Lehren und Lernen. Andreas Schubiger

Lehren und Lernen - Andreas Schubiger


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Handeln, ja macht Handeln überhaupt möglich. Im neutralen Sinne beeinflusst neues Wissen unser Handeln nicht, es ist sogenannt träges Wissen. Es ist wohl in Prüfungen abrufbar, aber hat keinen Einfluss auf die Praxissituation. Im negativen Fall kann das neue Wissen unser Handeln sogar stören oder behindern.

      Eine langjährige Ausbildung mit entsprechendem Wissenserwerb kann wenig bis keine Auswirkung auf das professionelle Handeln der Ausgebildeten haben. Dieses ernüchternde Bild zeigt sich in diversen empirischen Untersuchungen (Schubiger, 2010). Darin unterscheiden sich 14-jährige Schüler bei der Lösung eines pädagogischen Fallbeispiels weder signifikant von Studenten der Lehrerbildung im 1. Semester oder Prüfungskandidaten noch von Lehrpersonen mit mehrjähriger Erfahrung (Wahl, 2005).

      Studierende der Wirtschaftswissenschaften schnitten in einer Computersimulation einer Jeansfabrik nicht besser oder gar schlechter ab als Studierende wirtschaftsfremder Fakultäten. Den Wirtschaftsstudenten gelang es also nicht, ihr umfangreiches ‚Expertenwissen‘ in einer realitätsnahen Simulation wirksam umzusetzen (Gruber, Mandl & Renkl, 2000).

      Weitere Untersuchungen bei Lehrpersonen zeigen, dass trotz jahrelangen didaktischen Studiums alltägliches Planungshandeln in keiner Weise von didaktischen Prinzipien und Theorien geleitet wurde. Der Planungsprozess war meist routiniert und beschränkte sich im Wesentlichen auf die Stoffaufarbeitung und deren zeitliche Verteilung (Haas, 1998).

      Selbst wenn problemlösende Veränderungen für die Praxis in Weiterbildungsveranstaltungen erarbeitet wurden, beobachteten andere Untersuchungen eine nur unbedeutende Umsetzung in konkretes Handeln. Anscheinend genügte dafür die alleinige Absicht nicht (Mutzeck, 1988).

      Selbst in einer Domäne wie der schweizerischen Pflegeausbildung, wo dem Theorie-Praxis-Transfer besondere Beachtung geschenkt wird, stellte man fest, dass nach vierjähriger Ausbildung die erlernten theoretischen Konzepte in der Praxis nicht herangezogen wurden (Schwarz-Goevers, 2005).

      Allen untersuchten Ausbildungen lag letztlich das alte Wissensmodell des Nürnberger Trichters zugrunde. Sie erzeugten lediglich träges Wissen, welches in der Hoffnung vermittelt wurde, dass daraus eine kompetente Handlung resultiert. Vieles deutet darauf hin, dass handlungswirksames Wissen nur dann entsteht, wenn dieses situiert und mit Übungen im Bereich der angestrebten Handlung vermittelt wird.

      Damit neues Wissen einen wirkungsvollen Beitrag zur Ausprägung der Kompetenz leistet, sollte bei seinem Aufbau auf folgende Aspekte geachtet werden:

      •Neues Wissen soll an vorhandenes Wissen und gesammelte Erfahrungen geknüpft werden.

      •Es soll handlungsanleitend sein und Erklärungen geben, Voraussagen machen und klare Anweisungen (Methoden) für den Umgang mit der realen Praxis geben.

      •Es soll auf unterschiedlichste Art erfahrbar gemacht werden (Visualisierung, Erleben, Erzählen, Konstruieren etc.).

      •Es soll in unterschiedlichen Kontexten angewandt und reflektiert werden.

      •Es soll anhand konkreter Situationen und Problemstellungen aufgebaut werden.

      •Neues exemplarisches Wissen soll immer wieder verallgemeinert und damit in verschiedenen Situationen angewandt werden können.

      •Neues Wissen soll durch häufiges Üben automatisiert werden.

      3.1.2 Können

      Unter Können verstehen wir das mehr oder weniger geplante Handeln in der Praxis. Das Sprichwort «Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen» sagt nichts anderes aus, als dass wir unser professionelles Können nur über den vielfach beschwerlichen Weg des Übens erlangen. Es wird heute davon ausgegangen, dass wir vom Anfänger bis zum Experten verschiedene Stufen durchlaufen.

      Dreyfus und Dreyfus (1986) haben ein Stufenmodell des Kompetenzerwerbs bis zum Expertentum entwickelt, das für die Didaktik der Lehr-Lern-Prozesse fruchtbar genutzt werden kann.

      •Die Lernenden durchlaufen im Lernprozess Stufe um Stufe, diese können nicht übersprungen werden.

      •Die Stufen können nicht von allen Lernenden in jeder Domäne erreicht werden.

      •Pro Stufe bestehen qualitative Unterschiede zwischen den Individuen mit unterschiedlichen Begabungen.

      •Auf einer Stufe angelangt, können Lernende entweder bereits die nächsthöhere Stufe imitieren oder auf die nächstniedrigere zurückfallen.

      •Die besten Leistungen erreichen Lernende auf der jeweils aktuell angemessenen Stufe.

      Die unten stehende Grafik fasst die fünf Kompetenzstufen nach Dreyfus und Dreyfus (1986) zusammen: Novizenstadium – Stadium des fortgeschrittenen Anfängers – Kompetenzstadium – Stadium des gewandten Könners – Expertenstadium.

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      Abbildung 5 Kompetenzstufen nach Dreyfus & Dreyfus (1986)

      Folgende Differenzen zwischen Novizen und Experten sind bekannt:

      •Experten können mehr und Anfänger weniger als sie explizit wissen. Experten haben meist Schwierigkeiten zu erklären, was sie tun und warum sie es tun.

      •Experten nehmen Situationen ganzheitlich wahr und interpretieren, wogegen Novizen lediglich beschreiben.

      •Experten sehen in der Situation bereits die Lösung, respektive die Handlungsalternative. Sie verfügen über lösungsrelevantes Wissen, das die Relation zwischen Problemstellung und Lösungsvariante als Inhalt hat.

      •Experten verfolgen situationsangemessene konkrete Ziele. Das heisst, sie verfolgen konkrete Handlungsziele und passen diese der speziellen Situation an.

      •Experten verfolgen mehrere unterschiedliche Ziele gleichzeitig.

      •Experten nehmen die relevanten Daten zur Problemlösung selektiv wahr.

      •Experten wissen, wo sie sich im Problemlösungsprozess aktuell befinden.

      •Experten verfügen über mehr bereichsspezifisches Wissen, das sich u. a. in der Qualität ihrer Wahrnehmung von Problemsituationen und relevanten Daten zeigt.

      Der Weg vom Novizen zum Experten ist weit und mit grosser Anstrengung verbunden. Es ist wahrscheinlich eine Illusion, dass wir mit ein- bis dreijährigen schulischen Ausbildungen das Expertentum erreichen. Aber wir können den Prozess anbahnen, indem wir Lernumgebungen anbieten, die ein zielgerichtetes Üben, praktische Anwendungen, soziale Unterstützung und Kontrolle, Lernarrangements mit Experten sowie Reflexionen ermöglichen.

      Es stellt sich grundsätzlich die Frage, ob schulische Bildung in der Lage ist, Experten heranzubilden. Vielmehr gehen wir davon aus, dass dies eher im Praxisfeld geschieht. Schulische Bildung bereitet diese Entwicklung vor, indem sie die Lernenden mit ihren Ressourcen abholt, neues Wissen aufbaut und den Transfer in die Praxis anbahnt. Lernortkonzepte der beruflichen Bildung und der höheren Berufsbildung begünstigen die Entwicklung zur Expertin oder zum Experten, indem sie die Verzahnung von Praxis, Theorie und Reflexion curricular unterstützen.

      Novizenstadium

      In diesem Stadium findet einfaches, kontextunabhängiges Regellernen statt, das den Novizen Orientierungshilfe gibt. Das Wissen ist meist beschreibend oder erklärend, und wird nach und nach in konkreten Situationen in Prozesswissen übergeführt. Novizen sind noch nicht fähig, Expertenhandeln zu imitieren, weil die Problemsituation zu komplex ist. Deshalb sind Regelwerke, Checklisten, Anleitungen und Rezepte geeignete komplexitätsreduzierende und strukturierende Hilfsmittel. Novizen soll dabei bewusst gemacht werden, dass damit das Ausbildungsziel noch nicht erreicht ist, sondern lediglich eine Vorstufe. Für die Ausbildenden, meist Experten, ist es äusserst schwierig, solches Rezeptvorgehen didaktisch zu gestalten. Sie sind sich ihres Handelns nicht mehr bewusst oder sind nicht bereit, solch simplifizierende Anleitungen zu produzieren, die aus ihrer Sicht weder der Theorie noch der Praxis


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