Das Yoga-Lexikon. Wilfried Huchzermeyer

Das Yoga-Lexikon - Wilfried Huchzermeyer


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für unverzichtbar hielt.

      Ein zusätzliches Element im Integralyoga ist die schon erwähnte „Herabkunft des Supramentalen“, eines globalen, gnostischen Wahrheitsbewusstseins, das alle Teilung, z.B. auch jene der Religionen, in einem grenzenlosen Einheitsempfinden aufhebt. Die Dualität und Gegenüberstellung von Geist (Spirit) und Materie soll auf dieser Ebene endgültig überwunden werden: Materie ist Geist-Stoff.

      Der Mensch kann dieses Bewusstsein nicht durch sein Ego anstreben, sondern sich nur durch allmähliche Aufgabe oder Umpolung des Egos und die Sehnsucht der innersten Seele ihm öffnen, es hereinlassen. Voraussetzung da­für ist eine gründliche Vorbereitung des Wesens, eine geduldige Sā­dhanā, so dass die mentale, vitale und physische Na­tur unter den Einfluss des Lichts kommt und allmählich transformiert wird. Hilfreich bei dieser Arbeit sind innere Haltungen wie Aufrichtigkeit, Hingabe an das Göttliche und Gleichmut

      Das Streben nach ganzheitlicher Entwicklung bleibt nicht auf den Einzelnen beschränkt. Es kann zu spirituell orientierten Gemeinschaften führen, die kollektiv auf das Ziel der Transformation hinarbeiten. Im politischen Bereich wäre das Ziel eine auf Einheit und Harmonie ausgerichtete Weltgemeinschaft, die im wesentlichen von Kräften des Lichts regiert wird, was gewiss eine ferne Vision ist.

      Als Sri Aurobindo am 5. Dezember 1950 die (physische) Erde verließ, war sein Körper 111 Stun­den in ein supramentales Licht gehüllt, das jede Zersetzung verhinderte und von vielen Anhängern gesehen werden konnte. Sri Aurobindo hatte beschlossen, we­gen starker Widerstände im Erdbewusstsein von der subtilphysischen Ebene weiterzuarbeiten, wäh­rend die Mutter den Yoga der Transformation im Körper fortsetzen würde.

      Das bedeutendste literarische Werk Sri Aurobindos ist neben dem Titel Das göttliche Leben sein spirituelles Epos Savitri, eine mantrische Dichtung in englischer Sprache, die den Sucher auf einer langen Reise durch das Universum führt, durch seine sichtbaren und unsichtbaren Welten, seine Evolutionsgeschichte, seine spirituellen Gipfel und tiefen Abgründe. Der gesamte Text – fast 24.000 Zeilen in Blankvers – liegt auch in zwei deutschen Übertragungen vor.

      Siehe auch Mutter, Die; Auroville, Evolution (Abs. 2-3); Seele (Abs. 3).

      Auroville eine internationale Gemeinschaft, die im Jahr 1968 von der Mutter (Mira Alfassa) in Südostindien nahe der Stadt Puducherry (Pondicherry) und dem Sri Aurobindo Ashram gegründet wurde, um ein kollektives Experiment für den Fortschritt der Menschheit zu unternehmen.

      Ziel des Projektes ist es, durch das gleichberechtigte Zusammenleben von Menschen aller Nationen ein urbanes Modell menschlicher Einheit und gelebter Völkerverständigung zu schaffen, wobei jeder einzelne die Möglichkeit für ein freies spirituelles Wachstum haben soll.

      Die Arbeit der Aurovillianer führte zu vielfältigen interkulturellen, architektonischen, ökologischen und sozialen Ansätzen. Dabei hat sich auch das äußere Bild der Region geändert: Ein ursprünglich völlig ausgedörrtes Gebiet wurde in eine grüne Oase mit über 1,5 Millionen Bäumen und Büschen verwandelt, und es wurden zahlreiche Häuser, Gärten, Sportstätten, Betriebe und Schulen errichtet. Die Unesco hat ihre Mitgliedsstaaten in mehreren Resolutionen zur Förderung des Projekts eingeladen.

      Das spirituelle Zentrum Aurovilles ist das Matrimandir, „die Seele Aurovilles“ in Form einer sphärischen (oben und unten leicht abgeflachten) Kugel, errichtet auf einem Grundgerüst von vier Pfeilern. Im Inneren findet sich ein großer Meditationssaal mit einem großen, in Deutschland gefertigten Kristall im Zentrum.

      Avadhūta m ein Asket, der jede Bindung an weltliche Dinge abgeschüttelt hat (ava-dhūta) und sich mit extremer Entsagung ganz seinen spirituellen Praktiken widmet. Der bereits vollkommene Ava­dhūta wird auch Pa­ramahamsa genannt, der noch unvollkommene Parivrāj, Wanderer.

      Avadhūtagītā f ein Werk des späten Vedānta, das den Lebensstil des entrückten Asketen beschreibt, der sich ganz von der Welt gelöst hat.

      Āvarana [āvaraṇa] n Verbergen, Verhüllen, Verschleiern; Schlei­er der Unwissenheit.

      Avasthā f Zustand, Bewusstseinszustand. Dieser Begriff wird zum einen gebraucht, um den Status des Yoga-Aspiranten auf seinem Weg zu beschreiben, zum anderen (in der Tradition des Vedānta), um vier grundlegende Bewusstseinszustände des Menschen zu bezeichnen, d.h. Wachen, Träumen, Schlafen und den „Vierten“, reines Bewusstsein. Diese werden ausführlich in der Māndūkya-Upa­nishad erläutert.

      Siehe auch Ārambhāvasthā, Gha­tā­vasthā, Paricayāvasthā, Nishpattyavasthā, sowie Jāgrat, Svapna, Su­shupti, Turīya.

      Avatāra m Herabkunft, Avatār (von der Wurzel ava-tṛ, herabkommen). Bezeichnet die Inkarnation des Göttlichen auf Erden, die jenseits aller karmischen Zwänge erfolgt mit dem Ziel, die Menschheit in ihrer Evolution und spirituellen Entwicklung voranzubringen. So sagt Krishna in Vers 4.7 der Bhagavadgītā: „Immer wenn Dharma verfällt und Adharma zunimmt, manifestiere ich mich.“

      Die Purānas beschreiben die zehn Inkarnationen Vishnus, zu denen neben Krishna auch Rāma, Bud­dha und Kalki gehören – letzterer soll am Ende des Kali Yuga, des dunklen Zeitalters, auf einem weißen Schimmel reitend erscheinen und für die Menschheit ein neues Zeitalter des Lichts einläuten.

      Auch viele Yogīs der Vergangenheit und Gegenwart wurden von ihren Anhängern als Avatār bezeichnet.

      Siehe auch Amshāvatāra, Pūrnā­vatāra.

      Avidyā f Nicht-Wissen (a-vidyā), Nichterkenntnis. Im spirituellen Kontext die Unfähigkeit, zwischen dem vergänglichen Unwirklichen und der unvergänglichen Realität zu unterscheiden. Yogasūtra II, 3-4 erklärt, dass Avidyā als erster der fünf Kleshas oder Leidfaktoren ursächlich für die anderen vier sei. In Sūtra 5 heißt es: „Unwissenheit ist es, wenn man das Nicht-Ewige, Unreine, Schmerzliche und das Nicht-Selbst für das Ewige, Reine, Freudvolle und das (wahre) Selbst hält.“

      Avyakta adj und n nicht-offenbar (a-vyakta), unmanifestiert. Bezeichnet im Sānkhya die Urnatur, Prakriti, in ihrem noch unentfalteten Zustand.

      ayam ātmā brahmā „dieser Ātman ist Brahman“, ein großer Lehrsatz (Mahāvākya) der Upanishaden.

      Ayodhyā f im Epos Rāmāyana die Hauptstadt im Reich des Königs Rāma; eine der sieben heiligen Städte des Hinduismus. Wörtlich „die Unbezwingbare“.

      Āyurveda m die Wissenschaft vom Leben (oder: vom langen Le­ben), āyur-veda. Der älteste über­­lieferte Text, die Caraka-Samhitā, geht wahrscheinlich auf das 2. Jh. zurück und ist ein bemerkenswertes Zeugnis des Genius der altindi-schen Medizinwissenschaft, die gleichzeitig auch eine Lebenslehre war. Ein spiritueller Kontext wird hergestellt, indem es in der Einleitung heißt, dass Freiheit von Krankheit die Basis für die Verwirklichung der vier Lebensziele des Menschen (Purushārtha) sei, deren höchstes Moksha ist, spirituelle Befreiung.

      Der Āyurveda basiert auf dem System der drei Doshas, d.h. Humore oder Körpertemperamente. Wenn sie aus dem Gleichgewicht geraten, entstehen gesundheitliche Störungen und Erkrankungen.

      Die Therapien des Āyurveda beinhalten Anwendungen wie Massage, Ölguss, Wasserbad und pflanzliche Heilmittel, welche einzelne Doshas stärken und das Gleichgewicht wieder herstellen sollen. Doch gleichzeitig wird der Patient auch ermutigt, eine gesunde geistige Grundhaltung in Form von Gleichmut und Frohsinn zu kultivieren, da negative Gemütszustände die körperliche Gesundheit in Mitleidenschaft ziehen können.

      Traditionell bestand eine enge Verbindung zwischen Āyurveda und Yoga. Aktuell widmen einige Buchtitel sich der Frage, wie die Erkenntnisse des Āyurveda eingesetzt werden können, um z.B. Āsanas optimal auf die individuelle Konstitution des Üben­den abzustimmen.

      B

      Babaji [bābājī] Von Hindī bābā, Vater, Großvater, mit der Silbe jī, die Liebe und Respekt ausdrückt. Das Wort bezeichnet allgemein Yogīs und Asketen, steht aber insbesondere für den Mahāvatār Babaji, der erstmals 1946 von Paramahansa Yogananda in seiner Autobiographie eines Yogī als Meister und Urheber des Kriyā-Yoga vorgestellt wurde. Als weitere wichtige Quelle gilt Marshall Govindans Buch


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