Future Angst. Mario Herger
nicht davor zurück, Informationen zu ihrem Zwecke zu fälschen, bewusst auszulassen oder gleich zu erfinden.
Erwähnungsumkehr
In der gesamten Menschheitsgeschichte hat es nie genug von den guten Dingen gegeben. Nicht genug Essen, nicht genug Bildung, nicht genug Freizeit.
Byron Reese15
Jetzt haben wir genug von allem, nur nicht gut verteilt.
Ab dem Jahr 1880 erschienen im Baedeker, dem gedruckten Reiseführer der vordigitalen Zeit, Einträge, die Reisende auf eine Innovation hinwiesen und zugleich den Luxus der erwähnten Hotels beschreiben sollten. In der Liste dieser Annehmlichkeiten eines Hotels tauchten vermehrt Fahrstühle auf – nicht nur als Fußnote, sondern oft an erster Stelle noch vor dem zeitgleich eingeführten elektrischen Licht oder dem Bad im Zimmer. Waren Lifte zuerst nur in den besten Hotels einer Region zu finden, so verfügten bald immer mehr Hotels über Aufzüge als Standardausstattung. In einem Reiseführer von Norditalien mit Ravenna, Florenz und Livorno aus dem Jahr 1911 wurden Aufzüge nicht mehr explizit erwähnt – mit einer Ausnahme: Bei Billighotels wurde beispielsweise mit dem Satz „bescheidene Ausstattung, ohne Aufzug und Zentralheizung“ auf das Fehlen von Aufzügen hingewiesen. Die Erwartungen der Reisenden hatten sich in wenigen Jahren bereits so geändert, dass Aufzüge in Hotels eine vorausgesetzte Ausstattung waren, während hingegen das Fehlen vom Reiseführerverlag als erwähnenswert betrachtet wurde.16
Was der Aufzug um 1900 war, ist die Internetverbindung 100 Jahre später. Hotelgäste erwarten auf den Zimmern eine WLAN-Geschwindigkeit, die das Streamen von Filmen ohne störende Unterbrechungen und in perfekter Auflösung erlaubt. Ein Sprecher der österreichischen Wirtschaftskammer meinte dazu:17
Ein Bett ohne Frühstück kann man verkaufen, ein Bett ohne WLAN kann man nicht mehr verkaufen.
Die Erwartungen gehen über Hotelzimmer hinaus. Gute Internet- und Datenverbindungen werden heutzutage im ganzen Land erwartet. Im internationalen Vergleich zeigt sich durch die Art der Diskussion, was als Standard erwartet wird. Was Deutschland angeht, wird nicht auf das Vorhandensein schneller Datenverbindungen hingewiesen, sondern das Fehlen vielerorts erstaunt Besucher und wird als explizit erwähnenswert betrachtet. Wären die Länder Hotels im Baedeker, dann wäre Deutschland ein Billighotel.
Von einer erwähnenswerten Neuheit zu einem nicht weiter erwähnenswerten, nun vorausgesetzten Standard. Damit ändert sich oft auch die Art, wie aus einer emotionalen Perspektive darüber gesprochen wird. Was zuerst Ängste auslöste wie beispielsweise das Fahrrad, von dem Moralunternehmer erwarteten, dass es Menschen in Verrückte, nach Geschwindigkeit Süchtige verwandelte, wird nun zu einer Lösung. Das Fahrrad hilft Menschen, fit zu bleiben und Entspannung zu finden.
Die Frage, die sich für uns stellt, ist: Zu welcher Kategorie gehören wir? Bleiben neue Technologien für uns aufgrund unserer Verweigerungshaltung so lange neu, dass wir jahrzehntelang nur die Probleme wahrhaben wollen, aber nie die Annehmlichkeiten der Lösungen erkennen? Wie lange reden wir eigentlich schon vom digitalen Wandel? Das begann vor gefühlten zwei Jahrzehnten und nach wie vor sehen wir ihn als Problem, nicht als Lösung.
Die digitale Malaise
Verstehen Sie sich nicht als Opfer von Problemen, sondern als Erfinder von Lösungen.
Carsten Maschmeyer
Was hatten Apple, Microsoft und Amazon im Jahr 2020 gemeinsam? Jedes einzelne Unternehmen war an der Börse mehr wert als alle 30 im DAX gelisteten Unternehmen zusammen. Während diese drei Unternehmen jeweils nicht älter als 45 Jahre waren, hatten von den 30 deutschen Unternehmen bereits 24 mehr als 100 Jahre auf dem Buckel. Als im Jahr 1997 Steve Jobs wieder das Steuer bei Apple übernahm, war es drei Milliarden Dollar wert, weniger als ein Zehntel von Siemens. Mitte 2020 war Apple 18-mal so viel wert wie Siemens.
Alle 100 im Technologie-Index NASDAQ 100 gelisteten Unternehmen mit der höchsten Marktkapitalisierung sind Mitte 2021 mit 15 Billionen Dollar zusammen mehr wert als alle in Europa öffentlich gehandelten Unternehmen.18
Unternehmen in den deutschsprachigen Ländern konzentrieren sich dabei auf Maschinen- und Anlagenbau, die Automobilindustrie sowie den Chemie-, Pharmazie-, Werkstoff- und Medizintechniksektor, um nur einige zu nennen. Mit unseren Maschinen werden unter anderem die Produkte weltweit gefertigt, werden wir bewegt und dank dieser auch von Wehwehchen geheilt. Natürlich tut man mit dieser Aufzählung vielen anderen Sektoren unrecht, in denen unsere Hersteller ebenfalls erfolgreich tätig sind – beispielsweise im Lebensmittel- und Sportartikelbereich oder im Energiesektor. Gerade im letzteren haben wir eine Wende geschaffen, die zu nachhaltigeren Energieformen geführt hat und als Vorbild für viele andere Länder dient.
Doch auch wenn Unternehmen wie SAP und Infineon und viele kleine Softwarehäuser sehr rege sind, so kommt aus unserer Mitte kein digitaler Riese, der angesichts der Größe des Sprach- und Kulturraumes hätte entstehen müssen. Nun ist unser Reflex auf diese Fakten oft einer, der die Börsenbewertung als abgekoppelt von den „tatsächlichen“ Werten eines Unternehmens und dessen Wirken auf die Gesellschaften abkanzelt. Bei nüchterner Betrachtung stehen wir aber nicht einfach vor statistischen Anomalitäten, mit denen wir dieses Phänomen einfach wegerklären und die eigene Wirtschaft schönreden können.
In den Vorstandsetagen ist man sich darüber im Klaren, doch wirken sowohl das Management als auch die Belegschaft hilflos. Trotz eines Exportbooms und Gewinnen ist man sich schmerzlich der Tatsache bewusst, dass man die neuen Technologien weder beherrscht noch den Funken einer Chance zu haben scheint, diese anzuführen und zu dominieren.
Dies ist ein Paradebeispiel, wie die Wirtschaft unserer Länder von den Technologien des 21. Jahrhunderts abgehängt wird. Die Wirtschaft der Länder wandelt sich von einer von materiellen Werten dominierten hin zu einer, deren immateriellen Werte immer größere Bedeutung erlangen.
Wie sehr diese Schere auseinandergeht, sah man bei der Coronakrise. Während dieselben digitalen amerikanischen Konzerne enorme Wachstumsschübe erfuhren und sich beinahe schon für die Gewinnsteigerungen entschuldigten, mussten deutsche Unternehmen teils massive Verluste hinnehmen.
Digitale Technologie wurde zur Rettungsleine für die Bevölkerung, die wegen der Ausgangsverbote in Seuchenzeiten nur dank E-Commerce, Cloud-Lösungen, Videokonferenzwerkzeugen und Videostreaming-Dienstleistern sich mit dem Lebensnotwendigsten versorgen und teilweise die Arbeit und die Schule von zu Hause fortsetzen konnte. Und da wurde den Bürgern klar, wie sehr man Breitbandinternet und leistungsstarken Mobilfunk bislang vernachlässigt hatte. Unternehmen, für die die digitale Transformation nur ein Lippenbekenntnis war, hatten einige Mühe, die Infrastruktur zur Aufrechterhaltung des Betriebs einzurichten.
Nicht nur Unternehmen, auch die Regierungen und Behörden waren überfordert. Zwar gibt es seit Jahren, teilweise seit mehr als einem Jahrzehnt großspurige Digitalisierungsinitiativen und Digitalisierungskonzepte, aber getan hat sich wenig. Beispiel gefällig? Aus der Schweiz mussten wir vernehmen, dass
[d]ie vom Innendepartement (EDI) erlassene Verordnung über die Meldung von Beobachtungen übertragbarer Krankheiten des Menschen verlangt, dass Meldungen ans BAG [Bundesamt für Gesundheit] per Post, Kurier oder Fax gemacht werden müssen.19
Das BAG war so überfordert gewesen mit der eintrudelnden Papierflut, dass sie mit dem Zählen nicht nachkam. Man hatte auch tagelang übersehen, dass das Papier im Faxgerät zu Ende gegangen war, und so keine Meldungen mehr erhalten.20 Man weiß bis heute nicht, wie viele auf diese Weise nicht erfasst worden waren. Wie löste man das Zählproblem? Mit ganz modernen Mitteln: Einerseits bezog man die Zahl der Todesfälle von Wikipedia, andererseits legten die Mitarbeiter den Stapel an Formularen der gemeldeten Fälle auf eine Waage, um auf diese Weise die Fälle abzuschätzen. Es ist nicht bekannt, ob es sich um eine Digitalwaage handelte.
In England war man nicht besser vorbereitet. Dort fielen fast 16.000 Fälle unter den Tisch, weil man die Tabellenkalkulation Microsoft Excel verwendet