Future Angst. Mario Herger

Future Angst - Mario Herger


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      •Frage Giovanni den Bombardier, wie die Mauer des Turms der Stadt Ferrara gebaut wurde.

      •Frage Benedetto Protinari, auf welche Weise man in Flandern auf dem Eis geht.

      •Frage einen Hydraulikspezialisten, wie man eine Schleuse, einen Kanal und eine Mühle auf lombardische Weise repariert.

      •Frage Maestro Giovanni Francese, den Franzosen, nach der versprochenen Bemessung der Sonne.

      •…

      •Untersuche einen Gänsefuß: Wenn er immer offen oder immer geschlossen wäre, dann könnte das Tier sich kaum fortbewegen.

      •Warum ist der Fisch im Wasser wendiger als der Vogel in der Luft, wenn es doch das Gegenteil sein müsste, da Wasser schwerer und dicker als Luft ist?

      •Beschreibe die Zunge des Spechts.

      Ein Sammelsurium an Fragen, die ihn beschäftigten, aber besonders der letzte Eintrag scheint uns ein Kuriosum zu sein. Eine Spechtzunge beschreiben? Wieso? Was ist daran interessant? Es handelte sich jedenfalls um kein Versehen, derselbe Eintrag findet sich auch Jahre später wieder.

      1508 machte er eine Reihe von anatomischen Studien, für die er eine Liste erstellte. Wie so oft hatte er den Bogen Papier dicht beschrieben und vollgezeichnet. To-dos, Einkaufsliste und Zeichenstudien waren bunt durcheinandergewürfelt. Auf der einen Seite der Liste befanden sich Darstellungen von Anatomiewerkzeugen, auf der anderen kleine Zeichnungen von Blutgefäßen und Nerven, die er im Hirn eines verstorbenen 100-Jährigen untersucht hatte. Und dazwischen eine Liste aus benötigten Werkzeugen und Dingen, die er erledigen wollte:

      •Lass Avicennas Buch von nützlichen Erfindungen übersetzen (Buch eines persischen Universalgelehrten aus dem 11. Jahrhundert);

      •Liste von benötigten Werkzeugen:

      imageBrille mit Hülle

      imageZünder

      imageGabel

      imageGebogenes Messer

      imageKohlekreide

      imageBretter

      imagePapier

      imageWeiße Kreide

      imageWachs

      imageGlasstücke

      imageFeinzahnige Knochensäge

      imageSkalpell

      imageInkhorn

      imageBleistiftmesser

      imageund einen Schädel

      •Finde heraus, wie die Zunge des Spechts funktioniert.

      Schon wieder die Zunge des Spechts und auf den nachfolgenden Seiten nochmals Einträge zu diesem Vogel:

      •Mache die Bewegung der Spechtzunge (Fa’ il moto della lingua del picchio);2

      •Beschreibe die Zunge des Spechts und den Kiefer des Krokodils (Scrivi la lingua del picchio e la mascella del coccodrillo).3

      Menschliche Zungen, Spechtzungen und Krokodilkiefer. In seinem Wissensdurst hatte Leonardo da Vinci über die Jahre Dutzende Leichen von Menschen, aber auch von Pferden und anderen Tieren seziert. Damals von der Kirche nicht gern gesehen und sogar unter Strafe stehend waren das die ersten Ansätze von Wagemutigen wie da Vinci, den menschlichen Körper besser zu verstehen. Als Ingenieur, Maler, Skulpteur, Architekt und erster moderner Wissenschaftler war er stetig bestrebt, seine Disziplinen zusammenzubringen. Ja, eigentlich sah er sie gar nicht als getrennte Disziplinen an.

      Um Gesichtsausdrücke und Körper in seinen Gemälden wirklichkeitsnah und lebendig darstellen zu können, musste er seinem Verständnis nach Muskeln und deren Wirkungsweisen verstehen. Das uns noch heute mysteriös erscheinende Lächeln der „Mona Lisa“ ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Studien und der Suche nach dem Funktionieren und Wirken der Natur. Er wollte verstehen, wie Muskeln die Lippen, Wangen oder Stirn bewegten.

      Die menschliche Zunge erschien ihm dabei als Ausreißer besonders interessant. Es handelt sich um den einzigen Muskel, der nicht durch Kontraktion, also durch Zusammenziehen wirkt, sondern durch Ausdehnung. Und weil er eben ein Universalinteressierter war, wollte er das beim Specht auch verstehen, vermutlich, um Erkenntnisse zur menschlichen Zunge zu erhalten. Immerhin war es leichter und weniger riskant in Bezug auf die Obrigkeit, an einen Tierkadaver zu gelangen als an eine menschliche Leiche.

      Was ihm natürlich erschien – nämlich verstehen zu wollen, wie Dinge funktionieren, und aktiv danach zu streben, diese Fragen zu beantworten und Experimente zu entwickeln und auszuführen –, erfordert eine ganze Menge an Energie. Es wäre einfacher, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind, und sie nicht weiter zu hinterfragen. Nicht aber Leonardo da Vinci. Sein ganzes Leben lang war er auf der Suche, die Welt zu verstehen und seine Arbeit aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse zu perfektionieren.

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       Abbildung 1: Bildnis der Ginevra de’ Benci, datiert zwischen 1474 und 1478

      Wie sehr sich das auf seine Kunst auswirkte, sieht man am Vergleich zweier Porträts. Das von Ginevra de’ Benci fertigte er als junger Künstler zwischen 1474 und 1478 an, das als Mona Lisa bekannte Porträt der Lisa del Giocondo 30 Jahre später.

      Da Vincis Ginevra ist technisch durchaus gekonnt und dem Stand der Zeit würdig. Allerdings ist eine nicht zu übersehende Leere im Gesicht, die das ganze Porträt wenig natürlich und lebhaft erscheinen lässt. Die ausdruckslosen Augen, die bleiche Haut, die wie angepappt wirkende Lockenpracht, die da Vinci als Lockenträger selbst so sehr liebte, lassen uns Ginevra als Zombie erscheinen.

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       Abbildung 2: Mona Lisa, datiert zwischen 1503 und 1506

      Ganz anders die bei den Franzosen als La Joconde bekannte Mona Lisa. Nicht nur hatte da Vinci eine viel feinere Maltechnik entwickelt, auch die Perspektiven, die Farben, die Schatten und letztendlich die Erfassung der Gesichtszüge zeigen bei der Mona Lisa eine bis dahin unerreichte Stufe der Porträtmalerei. In ihrem geheimnisvollen Lächeln, das uns sogar noch 500 Jahre nach ihrer Erschaffung fasziniert, manifestiert sich Leonardo da Vincis Können, das er nicht nur durch die Malpraxis und den unermüdlichen Drang nach neuen Erkenntnissen verbesserte, sondern auch in seiner Furchtlosigkeit, verbotenerweise Leichen zu sezieren, um die Funktionsweise und das Zusammenspiel von Muskeln und Gewebe zu verstehen.

      Was Leonardo da Vinci uns vorlebte,


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