Future Angst. Mario Herger
die Möglichkeiten und Aktivitäten der Stadt zu diesen Technologien geben. Neben der meiner Meinung nach äußerst gelungenen Veranstaltungsreihe bleiben mir vor allem zwei Dinge im Gedächtnis.
Einerseits, wie oft Kieler mir sagten, wie hässlich Kiel sei. Die Stadt hatte im Zweiten Weltkrieg als Heimathafen der Marine massiv unter Bombardierungen gelitten, die die mittelalterliche Bausubstanz restlos zerstört hatten. Meine Rundgänge durch die Stadt hingegen offenbarten anderes. Ich entdeckte eine nicht unerhebliche Zahl an Ziegelbauten im Bauhausstil, die dem heutigen Kiel eine ganz eigene, moderne Form verleihen. Die Kieler sahen selbst nicht, was für architektonische Juwelen sie hatten.
Der wesentlich überraschendere Moment kam aber, als ich in eine Diskussion mit Besuchern der Digitalen Woche Kiel zu den Schadenersatzzahlungen von Volkswagen im Zuge des Dieselskandals geriet. VW hatte zu diesem Zeitpunkt bereits um die 29 Milliarden Euro an Strafen zahlen müssen. Nicht diese Zahl echauffierte die Teilnehmer, sondern dass die „Amerikaner“ damit den Deutschen eins „auswischen“ wollten. Die Quintessenz dieser Diskussion war, dass nicht so sehr Volkswagen am Skandal schuld gewesen sei, sondern die Amerikaner, die das ausnutzen würden, um der deutschen Wirtschaft zu schaden und der eigenen zu helfen. Dasselbe Argument wird einige Wochen später von Teilnehmern einer deutschen Delegation bei einem Besuch im Silicon Valley vorgebracht.
Ich verstehe jetzt besser, wie Verschwörungstheorien entstehen und dazu beitragen, vom eigenen Versagen abzulenken: Man sieht sich als Opfer, nicht als Täter. Nicht die eigene Schummelei sei die Verschwörung, sondern deren Aufdeckung durch die Beschummelten. Und das verhindert, dass wir unsere Fehler sehen und daran arbeiten.
Szenenwechsel: Eine 100-köpfige Delegation aus Baden-Württemberg unter Führung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann macht es sich zum Abendessen gemütlich, während ich einen Vortrag zu den Entwicklungen in der Automobilindustrie im Bereich des autonomen und elektrischen Fahrens aus der Sicht des Silicon Valleys halte. Anschließend erlebe ich einen offensichtlich geschockten Kretschmann, der mit den Händen vor dem Gesicht und den Ellbogen aufgestützt neben mir am Tisch sitzt. Er meint: „Ich wusste, dass wir mit Elektroautos im Rückstand sind. Die Menge an Teslas hier im Silicon Valley ist nicht zu übersehen. Was ich nicht wusste, ist, wie weit autonomes Fahren hier bereits ist. Wir verlieren diese Industrie.“ Der Rest des Abends widmete sich der Frage, was wir tun könnten, damit Deutschland diese wichtige Industrie nicht verliert.
Szenenwechsel: Ein Berliner Bekannter postet im Herbst 2020, als die Zahl von Corona-Infizierten erneut in die Höhe geschnellt war, folgendes Gespräch, das er am Frühstückstisch mit seiner 14-jährigen Tochter, die die 10. Klasse eines Gymnasiums besucht, geführt hatte:2
T:Ab Montag haben wir wegen Corona drei Tage Homeschooling.
Ich:Ah, cool, Unterricht via Zoom?
T:Das hatten wir im März genutzt, die Nutzung wurde aber leider wegen Datenschutz verboten.
Ich:MS Teams?
T:Da hat die Schule zwar eine Lizenz, die wurde aber noch nicht an alle weitergegeben.
Ich:Aha. Jitsi?
T:Hatten wir auch ausprobiert. Ist leider ebenfalls wegen Datenschutz verboten.
Ich:Und wie lernt ihr jetzt?
T:Wir haben vor den Ferien Aufgaben ausgedruckt bekommen. Die bearbeiten wir jetzt zu Hause.
Mein Bekannter stellte sich die Frage, warum acht Monate nach Beginn der Pandemie mit einem längeren Lockdown die Schulen sich so schwertaten, auf digitalen Unterricht umzustellen. Die Schuld daran liegt nur teilweise bei den Schulen. Auch die Länder sowie die Eltern haben einen Anteil daran. In einem Gespräch mit einer der Lehrerinnen erfuhr er, dass die Schule auf Initiative der Lehrer, die Videokonferenzplattformen Zoom und Jitsi zu verwenden, von den Eltern über 50 E-Mails erhalten habe. Darin beschwerten sie sich über die Unverantwortlichkeit der Lehrkörper, eine Software zu verwenden, die den Datenschutz verletze.
Angesichts der Tatsache, dass Kinder in diesem Alter ohnehin bereits eifrig in unterschiedlichen sozialen Medien unterwegs sind, sabotieren hier unter anderem die Eltern die Fortführung des schulischen Betriebs in einer Krisensituation. Der Datenschutz ist heiliger als die Schulbildung der Kinder. Angesichts der Todesfälle während der Pandemie in Europa und den USA im Vergleich zu China wird dies zu einem Problem mit tödlichen Konsequenzen. Wie Jürgen Gerhards und Michael Zürn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreiben, komme …3
… man nicht darum herum, Informationen über das Bewegungsverhalten der Bürger und ihre Kontakte zu erheben. Dies stellt einen zumindest temporären Eingriff in die Privatsphäre dar. Wie bei allen politischen Zielkonflikten wäre hier eine öffentlich diskutierte Güterabwägung zwischen den drei zentralen Zielen „Vermeidung hoher Infektionen und einer hohen Sterblichkeit“, „Vermeidung eines Lockdowns mit hohen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgeschäden“ und „Schutz der informationellen Privatsphäre“ nötig gewesen. Eine solche Diskussion hat faktisch nicht stattgefunden. Stattdessen wurde sehr früh die Privatsphäre als sakrosankt gegenüber staatlichen Eingriffen erklärt. Wie die Erfahrungen demokratischasiatischer Länder aber zeigen, lassen sich durchaus Möglichkeiten finden, das Tracking von Personen mit dem Schutz der Privatsphäre zu verbinden.
Die Autoren sparen nicht mit Kritik an dieser – wie sie schreiben – „eigenartigen Schieflage bei der Gefahreneinschätzung“:
Insbesondere das zweite Versäumnis [Informationen über das Bewegungsverhalten, Anm.] verweist auf eine eigenartige Schieflage bei der Gefahreneinschätzung im Zuge der Digitalisierung innerhalb des Westens. Der Missbrauch von Daten ist fraglos ein reales Problem. In Westeuropa und Nordamerika neigt man vor diesem Hintergrund dazu, dem Staat digitale Eingriffe in die Privatsphäre weitgehend zu untersagen, aber zugleich der Kolonisierung der persönlichen Daten durch private Digitalgiganten tatenlos zuzusehen. Das ist der falsche Weg. Es bedarf einer scharfen Kontrolle der Unternehmen bei gleichzeitiger Handlungsermöglichung des Staates, insoweit er Gemeinwohlzwecke wie Gesundheit oder Verbrechensbekämpfung verfolgt.
Woher kommt diese Skepsis vor Technologie und Fortschritt in einem Kulturkreis, der sich seiner Ingenieure rühmt und German/Swiss/Austrian Engineering zu einem Markenzeichen für hochpräzise, verlässliche Technologien aller Art gemacht hat? Von Schweizer Feinmechanik, deutschem Automobil- und Maschinenbau bis hin zu österreichischen Seilbahnen und dem Tunnelbau – um nur ein paar zu nennen – finden sich auf der ganzen Welt Technologie und Ingenieure aus unserem Kulturkreis im Einsatz. Mit deutschen Maschinen werden weltweit die Güter der Welt produziert.
Wie gelangten wir von einer Gründerwelle von vor eineinhalb Jahrhunderten, die unseren Kulturkreis ergriffen und das Bild des schläfrigen deutschen Michels korrigiert hatte, zu diesem Zaudern und Zögern, zu dieser Ängstlichkeit, ja sogar zu dieser offenen Feindseligkeit gegenüber Wandel und Fortschritt? Warum lassen wir uns von übertriebenen Gefahren und falschen und falsch verstandenen Argumenten einschüchtern, die uns in einer Art Massenhysterie zu Fortschrittsfeinden machen? Selbst dort, wo das Neue viel besser für uns und die Umwelt ist als das Alte, sehen wir nur die Fehler des Neuen. Ja, eine Digitalkamera ist in der Herstellung umweltschädlich, aber Fotos einer Analogkamera auf Filmpapier zu entwickeln war immer ein chemischer Prozess, der über die Lebensdauer viel weniger nachhaltig ist.
Im vorliegenden Buch werden wir dazu viele Beispiele aus der Vergangenheit und Gegenwart sowie Gründe dafür besprechen wie auch Vorschläge für eine ausgewogenere Position, weg von einer für Menschen außerhalb unseres Sprachraums recht hysterischen Sichtweise auf Technologie und Fortschritt hin zu einer, wie ich hoffe, realitätsnäheren.
Sebastian Thrun, der in den USA lebende ehemalige Stanford-Professor für künstliche Intelligenz und Gewinner der DARPA Grand Challenge für autonomes Fahren, antwortet in einem Interview mit der Zeitschrift Forbes auf die Technologieskepsis mit folgenden für deutsche Ohren ungewohnt optimistischen Worten:4
Nun, zuallererst, jeder, der pessimistisch ist, bitte nicht. Bitte seien Sie nicht pessimistisch. Natürlich sind die Zeiten immer unsicher, aber wir haben uns gerade