Future Angst. Mario Herger
8.Design the Future
KAPITEL 1
„Alexa hört ja immer zu!“
Wenn Sie einen Moment in der Geschichte wählen müssten, um geboren zu werden, und Sie wüssten nicht im Voraus, wer Sie sein würden – Sie wüssten nicht, ob Sie in eine wohlhabende oder arme Familie, in welchem Land oder ob Sie als Mann oder Frau geboren würden –, wenn Sie blind wählen müssten, in welchem Moment Sie geboren werden möchten, würden Sie jetzt wählen.
Barack Obama, 2016
Ein Journalist eines deutschsprachigen Wirtschaftsmagazins fährt in meinem Auto mit. Er berichtet über digitale Trends und ist auf Erkundungstour im Silicon Valley. Als wir auf einer der Hauptverkehrsachsen einem der knapp 800 selbstfahrenden Autos, die hier getestet werden, begegnen, zücken wir beide unsere Smartphones, um es zu filmen. Irgendwie drücke ich im Eifer den falschen Knopf meines iPhone X, während ich als Fahrer auf den Verkehr achten muss, und merke erst im Nachhinein, dass ich kein Video aufgenommen habe. Mein Beifahrer allerdings schon – mit seinem iPhone 6. Das Video, das er mir nachher dankenswerterweise zusendet, ist von der Auflösung her so schlecht, dass ich es für meinen Blog nicht verwenden kann. Es ist Sommer 2018, zu diesem Zeitpunkt gibt es das iPhone X schon seit einem Jahr. Warum besitzt er, der über neueste Technologien berichtet, ein altes iPhone? In Autojahren entspricht das einem 30 Jahre alten Auto, das er nicht als Oldtimerliebhaber fährt, sondern mit der Einstellung: „Wozu brauche ich das neueste Zeugs?“
Im Herbst 2018 blättere ich durch die aktuelle Ausgabe von t3n, einem Magazin für Digitalos und Technologie-Enthusiasten. In einem Artikel werden prominente digitale Pioniere gefragt, was sie bei ihren Dienstreisen in ihren Rucksack packen. Der digitale Vorreiter eines großen deutschen Konzerns zählt auf: Laptop, Powerbank, Buch und – ich glaube, mich verlesen zu haben – sein iPhone 6. Wieder jemand, der ein digitaler Innovationsvorreiter in seinem Unternehmen sein sollte und alte digitale Werkzeuge verwendet.
Im März 2020 wurden meine Timelines auf den sozialen Medien mit Meldungen überflutet, in denen meine Kontakte von den Video- und Onlinekonferenzen mit ihren Mitarbeitern und Geschäftspartnern berichteten. Aufgrund der weltweiten Ausgangssperren durch den Coronavirus Covid-19 musste jedes Unternehmen die Mitarbeiter ins Homeoffice schicken und zur Weiterführung des Geschäftsbetriebs Online-Tools einsetzen. Aufmunternde Worte waren die Regel wie auch Tipps, wie diese Werkzeuge von Zoom, Skype, Google Hangouts, Microsoft Teams oder WebEx am besten zu verwenden wären. Ich war etwas baff. Spätestens seit meinem Umzug in die USA im Jahr 2001 gehörten solche virtuellen Konferenzen für mich zum Alltag. In meiner Zeit bei SAP war das die einzige Möglichkeit gewesen, mich mit meinen Kollegen in Deutschland, Israel, China und Indien auszutauschen und auf dem laufenden Projektstand zu bleiben. Zwei- bis dreimal täglich über Jahre hinweg wählte ich mich in solche Onlinekonferenzen ein und habe dabei alles miterlebt: von Verbindungsschwierigkeiten, irrtümlich der Videokonferenz beitretenden Kollegen bis zum kläffenden Hund in der Leitung.
Mir ist schon klar, dass ich mich damals als Mitarbeiter einer großen IT-Firma und dann noch speziell im kalifornischen Silicon Valley in einer technologischen Fortschrittsblase befand. Dennoch überraschte mich, wie sehr diese mindestens 20 Jahre alten Technologien für viele bei uns neuartige Technologie darstellten. Und da stellt sich mir die Frage, was in den letzten Jahren bei all den Konferenzen zu digitaler Transformation denn eigentlich diskutiert worden war? Ich war der Meinung gewesen, wir seien am Beginn, Technologien wie künstliche Intelligenz, Roboter, Chatbots, TensorFlow oder Blockchain auszuprobieren. Dann kristallisiert sich allerding heraus, dass ein simples Onlinevideokonferenzwerkzeug wie Zoom die Unternehmen und Mitarbeiter vor ungeahnte Herausforderungen stellt.
Wer glaubt, wir seien technisch bereits bestens gewappnet, den möchte ich darauf hinweisen, dass in derselben Krise Ärzte und Kliniken Informationen per Fax versandten und Schüler Hausaufgaben auf Papier ausgedruckt von der Schule abholen mussten.
Szenenwechsel: Las Vegas, Nevada. Am Vorabend der CES treffen sich drei Dutzend IT-Berater zu Vorträgen und zum Gedankenaustausch bei einem Dinner. Auf meine Frage, wer einen Sprachassistenten besitzt, bleiben alle Hände unten, dafür ertönt sofort aus dem Hintergrund der Vorwurf: „Alexa hört ja immer zu!“
Genau so funktionieren Sprachassistenten. Sie müssen zuhören. Das Zuhören der Technologie ist so wichtig, wie Licht uns sichtbar macht. Aber hier verbirgt sich die Angst, dass das Zuhören zum Ausspionieren verwendet wird. Diese Angst – ob berechtigt oder nicht – verhindert, dass sich diese IT-Berater damit auseinandersetzen, eine Voraussetzung dafür, dass sie die Funktionsweise und die heutigen Möglichkeiten begreifen, aber auch erkennen, wo diese Technologie aktuell noch scheitert. Und diese IT-Berater, die sich selbst ihren Kunden gegenüber als Technologievorreiter präsentieren und ihnen einen Schritt voraus sein sollten, um sie in die Zukunft zu führen, verwehren sich dem.
Szenenwechsel: Silicon Valley. Auf die Frage, warum manche immer noch ein fünf Jahre altes iPhone verwenden, erklärt ein Geschäftsführer, er habe schon einmal ein iPhone X bekommen, dieses aber ungebraucht einer Verwandten geschenkt, weil er mit seinem alten iPhone zufrieden sei. Als Autoliebhaber wäre er nie auf die Idee gekommen, ein 30 Jahre altes Auto zu fahren – das Äquivalent zur Entwicklungsgeschwindigkeit von Smartphones – sondern immer die neuesten Modelle.
Szenenwechsel: Ich befinde mich in Baden-Baden in Baden-Württemberg, der deutschen Innovationsschmiede vor 130 Jahren, wo Unternehmen wie Daimler-Benz, Bosch, Porsche, Steiff oder 1972 SAP gegründet wurden. Nach dem Vortrag zu Elektroautos und dem autonomen Fahren meldet sich eine Zuhörerin: „Woher soll nur all der Strom herkommen?“
Eine Frage, die mit Vorwürfen beladen ist und zu der die Fragende eigentlich keine Antwort haben will, sondern sie als Statement gedacht hat. Auf die Gegenfrage, ob sie wisse, wie viel Energie in die Bereitstellung von Flüssigkraftstoffen fließt (Hinweis: 2,8-mal so viel), schweigt sie und erbleicht, als wir uns die Zahlen genauer ansehen.
Szenenwechsel: Bad Nauheim in Hessen. Eine Veranstaltung der Automobilbranche, in der es um Lösungen rund um Schlösser, Klappen, Türgriffe und Scharniere geht. Von den 300 internationalen Teilnehmern heben weniger als fünf die Hand, als ich die Frage stelle: „Wer besitzt ein Smartphone mit Gesichtserkennung?“
Keiner von ihnen hat Erfahrung, wie Gesichtserkennung heute funktioniert und wie diese Technologie beispielsweise für den Zugang zu einem Auto verwendet werden kann. Auf mein Nachfragen, warum fast keiner so ein Smartphone hat, höre ich immer wieder als Antwort: „Ich will nicht, dass meine Daten bei irgendeiner amerikanischen Firma landen.“
Szenenwechsel: Eine Delegation mit dem deutschen Bundesminister für Wirtschaft und Energie besucht Start-ups und Firmen im Silicon Valley und trifft dabei auch deutsche Mitarbeiter und Gründer. Bei einer Veranstaltung bittet der Google-Innovationsevangelist Frederik Pferdt zu einer kleinen Übung. Die Delegationsteilnehmer sollen die Augen schließen und kleine Rechenaufgaben ausführen. „Eins plus eins ist zwei“, sagt Pferdt. Man hört nichts. „Zwei plus zwei ist vier.“ Alle sind konzentriert und mucksmäuschenstill. „Drei plus drei ist fünf.“ Der Bundesminister ruft laut: „Falsch!“ Pferdt macht unbeeindruckt weiter. „Vier plus vier ist acht.“ Und ein weiteres Mal: „Fünf plus fünf ist zehn.“ Keiner meldet sich.
Alle Augen gehen auf und Pferdt sagt: „Haben Sie bemerkt, dass von fünf Aufgaben vier korrekt waren, aber niemand hat dazu Lob ausgesprochen? Dafür war eine falsch und sofort wurde darauf reagiert und die Aufmerksamkeit messerscharf darauf fokussiert. Und genau das ist der Unterschied zwischen Deutschland und dem Silicon Valley: sich nicht mit einem Fehler aufzuhalten, sondern positiv zu denken, weiter neue Dinge auszuprobieren.“1
Szenenwechsel: Die Digitale