Future Angst. Mario Herger
auf Technologie wichtig ist – von Ihrem Smartphone über Ihre Toilettenspülung bis hin zu Ihrem Lichtschalter in Ihrem Haus, den Sie sicher alle zu schätzen wissen –, ist nicht älter als 150 Jahre. Das Flugzeug, das Smartphone, richtig? Die Vollnarkose bei Operationen, die Hüftprothese, Dinge, die vielen von Ihnen am Herzen liegen, sind nicht älter als 150 Jahre. Und ich sage 150 Jahre, weil ich die Menschheit – Menschen, Homo sapiens – auf etwa 300.000 Jahre datiere. Wenn wir also 300.000 Jahre nehmen und auf 150 Jahre schauen, ist das wie nichts. Es ist wie eine Mikrosekunde. Wenn das nun der Fall ist, wenn wir all diese wichtigen Dinge in den letzten – fast ausschließlich, nicht ganz, der Großteil war in Europa –, aber fast ausschließlich in den letzten 150 Jahren erfunden haben, was bringen uns dann die nächsten 150 Jahre? Werden wir einfach aufhören, Dinge zu erfinden? Ganz ehrlich? Ich denke, wir befinden uns in einer sich beschleunigenden Kurve von großartigen neuen Erfindungen. Und wir stehen erst am Anfang.
Die teleologische Frage, die sich aus dieser Betrachtungsweise ergibt und die wir uns stellen sollten, lautet: Was ist unsere Aufgabe, unsere Mission in der Welt? Wollen wir ein relevanter Teil dieser nächsten 150 Jahre sein und einen positiven Beitrag dazu leisten oder wehren wir uns dagegen und verraten damit einen Teil unserer eigenen Geschichte?
Wie schön wäre Technik ohne Menschen
Wer in den USA mit dem Auto unterwegs ist, wird rasch bemerken, dass die Kreuzungen anders geregelt sind als in Europa. Besonders in der Nacht wird das deutlich, wenn die Ampeln auf der leeren Straße rasch auf Grün für die eigene Fahrtrichtung schalten. An den meisten Kreuzungen sind unter dem Asphalt Induktionsschleifen angebracht, die auf den einzelnen Fahrspuren erkennen, ob sich dort ein Auto befindet. Damit werden die Ampeln je nach Bedarf geschaltet und dies verringert die Wartezeit. Die Technik reagiert hier in eingeschränktem Maße auf das Verhalten und die Bedürfnisse von Menschen.
Plötzliche Verhaltensänderungen können ganze Systeme aus dem Gleichgewicht bringen, wenn sie nicht flexibel angepasst werden können. Viele Onlineplattformen, die künstliche Intelligenz zur optimalen Steuerung von Inhalten und Vorschlägen einsetzen, sahen sich 2020 mit dem Covid-Lockdown konfrontiert – und mit stark veränderten Verhaltensweisen der Menschen. Die Algorithmen, die durch große Datenmengen und viel Arbeit der letzten Jahre zu optimierten Vorschlägen führen sollten, konnten mit Bestellungen zu Klopapier, Desinfektionsmitteln oder der Bestellung von Gütern, die üblicherweise nicht online vorgenommen wurden, nichts anfangen und waren mehr als verwirrt. Und die Ampeln an den nun fast leeren Straßen fuhren tagsüber ihre langen Schaltzyklen nach wie vor so, als ob es das sonst übliche Verkehrsaufkommen gäbe.
Wir Menschen haben mehr Einfluss auf Technologien, als wir annehmen. Sehr zum Leidwesen der Ingenieure, die solche Technologien entwickeln. Für sie stehen wir im Mittelpunkt und dort stehen wir im Weg. Um einen Liedtext des seligen österreichischen Liedermachers und Humoristen Georg Kreisler über Wien und die Wiener etwas holprig umzumünzen und stattdessen das Wehklagen von Ingenieuren auszudrücken:
Wie schön wäre Technik ohne Menschen!
Wir vergessen leicht, dass Technologie von Menschen für Menschen geschaffen wird. Auch wenn wir manchmal denken, sie wird gegen unser Wohl eingesetzt, so ist sie zumeist zu unserem Wohle gedacht. Keine Ingenieurin, die ich kenne, kein Naturwissenschaftler, mit dem ich das Vergnügen hatte zu plaudern, kam in diese Profession, weil sie oder er Übles vorhatten. Kein Arzt ergreift den Beruf, weil er Menschen mit Impfstoffen töten möchte. Auch ich studierte Chemieingenieurwesen deshalb, weil ich besser verstehen wollte, wie Chemie die Umwelt negativ beeinflusst und was dagegen getan werden kann. Dass Technologie nicht immer das tut, wofür sie ursprünglich gedacht war, kann die Menschen zu der Ansicht verleiten, dass das Übel von Anfang an das Ziel gewesen war.
Das hat vielleicht auch mit dem Phänomen der „Unsichtbarkeit von gut funktionierender Technologie“ zu tun. Eine Kaffeemaschine oder ein Fahrstuhl, die ihre Dienste klaglos verrichten, nehmen wir nicht wahr. Wehe aber, sie tun einmal nicht das, was sie sollen. Es funktioniert überraschend viel Technologie so reibungslos, dass wir gar nicht wahrnehmen, wie sie unser Leben vereinfacht oder gar erst in dieser Qualität ermöglicht.
Dabei ist Technologie nicht etwas, das zu uns via Gottes Gnaden „herabsteigt“, unser Leben schonungslos bestimmt und unabänderlich ist. Das ist die Meinung und Furcht der Technikdeterministen.5 Für sie ruft Technologie soziale, politische und kulturelle Anpassungen hervor, die einen sozialen und kulturellen Wandel zur Folge haben, ohne dass wir Menschen Einfluss darauf oder ein Mitbestimmungsrecht haben. Technologie wird von Menschen geschaffen, bestimmt und durch Menschen beeinflusst.
Was die Technikdeterministen – also diejenigen, die an eine aktuelle oder kommende Vormundschaft der Menschheit durch Technologie glauben und davor warnen – gerne übersehen, ist, dass auf Technologie selbst sozialer, politischer und kultureller Einfluss ausgeübt wird. Technologie steht und entsteht nicht in einem Vakuum. Sie kann erst dann zum Ausdruck und zur Anwendung kommen, wenn diese Rahmenbedingungen es erlauben. Tun sie es nicht, dann muss entweder die Technologie angepasst werden oder die Rahmenbedingungen müssen sich ändern. Geschieht das nicht, dann setzt sich die Technologie nicht durch und verschwindet. Manchmal für immer, manchmal nur vorübergehend.
Nehmen wir als Beispiel die heilige Kuh in unserem Land, das Automobil. Dessen Erfindung und Einführung am Ende des 19. Jahrhunderts hat sicherlich zu vielen Veränderungen sozialer und kultureller Natur geführt. Wir, die wir damals nicht gelebt haben, können uns den Gestank und den permanenten hygienischen Ausnahmezustand in den Städten angesichts der Tonnen von Pferdekot und tagelang liegen gebliebenen toten Gäulen in den Straßen nicht vorstellen. Trotz seines Ölgestanks und Lärms galt da das Automobil als Verbesserung. Autos erforderten bessere Straßen, die zu mehr Verkehr und damit intensiveren Beziehungen zwischen Regionen und Städten führten. Die Transportkosten für Waren und Personen sanken drastisch, das Einzugsgebiet für Produzenten erweiterte sich stark. Das schuf Gelegenheiten für Unternehmer und brachte Arbeitsplätze, die wiederum zu vermehrtem Wohlstand und mehr Austausch zwischen Regionen und Ländern führten.
Doch der Feind des Guten ist nicht das Bessere, sondern zu viel des Guten. Die Probleme, die uns zu viele Autos gebracht haben, scheinen uns fast schon wieder als vorherbestimmt und damit unabänderlich. Zumindest dachten wir das bis vor Kurzem. Und dann kommt eine Krise, die uns einen neuen Denkansatz erlaubt. Plötzlich ergreifen Städte während einer Pandemie die Chance eines zum Erliegen gekommenen Autoverkehrs und gestalten Straßen zu Fußgängerzonen und Fahrradspuren um. Die Leute entdecken die Fahrbahnmitte und das Fahrrad wieder für sich. Wie es ein Fahrradhändler mir gegenüber ausgedrückt hat, weil es weltweit zu einer Fahrradknappheit gekommen war: „Fahrräder sind das neue Klopapier.“
Dieser und andere sich seit einiger Zeit abzeichnenden Trends zum Automobil zeigen, dass nicht die Technik allein bestimmt, wie wir leben, sondern ein komplexes Wirken aus sozialen, politischen, kulturellen und natürlich technologischen Faktoren unsere Lebensqualität schafft. Die Technikdeterministen und -warner setzen auf unsere Hilflosigkeit angesichts dieser Technologien, um sie für ihre Zwecke auszunutzen. Genauso wie die Profiteure von Technologien die Alternativen verhindern. Technologie wird immer weniger als etwas zum Menschsein Beitragendes und stattdessen als etwas uns davon Entfernendes betrachtet.
In der BBC-Dokumentation „The Pleasure of Finding Things Out“ („Das Vergnügen, Dinge herauszufinden“) aus dem Jahr 1981 schildert Physiknobelpreisträger Richard Feynman, wie die Wissenschaften zum Wissen beitragen und nicht davon ablenken oder sogar etwas wegnehmen:
Ich habe einen Freund, der Künstler ist und manchmal eine Ansicht vertritt, mit der ich nicht so ganz einverstanden bin. Er hält eine Blume hoch und sagt: „Schau, wie schön sie ist.“ Und ich stimme zu. Dann sagt er: „Ich als Künstler kann sehen, wie schön das ist, aber du als Wissenschaftler nimmst das alles auseinander und es wird eine langweilige Sache.“ Und ich denke, dass er irgendwie verrückt ist. Zunächst einmal ist die Schönheit, die er sieht, auch für andere Menschen zugänglich und für mich auch, glaube ich …
Ich kann die Schönheit einer Blume schätzen. Gleichzeitig sehe ich viel mehr von der Blume,