Future Angst. Mario Herger

Future Angst - Mario Herger


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selbst für die unscheinbarsten Phänomene aufrechterhält.

      Das steht im Kontrast zur digitalen Anti-Renaissance des modernen Menschen. Seit einiger Zeit stelle ich dem Publikum auf Konferenzen in oder Delegationsteilnehmern aus Europa ähnliche Fragen:

      •Wer verwendet ein Smartphone mit Gesichtserkennung?

      •Wer hat einen Sprachassistenten zu Hause?

      •Wer hat schon einmal einen Ridesharing-Anbieter wie Uber verwendet?

      •Wer spielt Pokémon Go?

      •Wer hat schon einmal eine Spechtzunge skizziert?

      Man muss dabei berücksichtigen, dass die Leute, denen ich diese Fragen stelle, nicht die Otto Normalverbraucher sind. Es handelt sich bei ihnen um Innovationsmanager, Produktentwicklungsleiter, Vorstände, IT-Berater, digitale Evangelisten, Journalisten zu digitalen Themen und Trends. Menschen, zu deren Aufgabe unter anderem zählt, ihre Organisationen und Gesellschaften in die Zukunft zu führen.

      Die vorgebrachten Ausreden habe ich alle gehört: Das iPhone ist zu teuer. Ich brauche mein iPhone X nicht, ich habe es weitergeschenkt. Der Sprachassistent hört immer zu. Und überhaupt: Wer braucht so etwas?

      Gleichzeitig besitzen aber fast alle der Anwesenden mit Autos eine Technologie, bei der der Preis (fast) keine Rolle spielt und die pro Jahr in Deutschland 3.500 Menschen tötet. Und Autos besitzt man doch, obwohl der öffentliche Verkehr in Europa gut ausgebaut ist. Alexa hat meines Wissens nach noch nie jemanden umgebracht und kostet weniger als ein paar Dutzend Euro. Meine erhielt ich auf einer Konferenz sogar gratis mit dem Teilnehmerticket. Aber den angeblichen Innovationsvorreitern Europas tropft der Angstschweiß von der Stirn, weil ein technisches Gerät zuhört oder so viel kostet wie ein Konferenzticket.

      Diesen Argumenten hängt der Geruch nach Ausflüchten an. Sie zeigen einen erschreckend großen Mangel an Neugier und Willen, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Ich möchte nochmals unterstreichen, dass ich hier weder vom Durchschnitt der Bevölkerung spreche noch das iPhone X oder Alexa als Dinge, die man unbedingt besitzen muss, bewerben will. Es handelt sich hier um Symptome einer tiefer liegenden Sorge. Dieselben Personen, die ihre Unternehmen und ihr Land in die Zukunft bringen sollen, sind an der Welt merkwürdig desinteressiert. Mit neuen Trends will man sich, wenn überhaupt, dann nur theoretisch, aber nicht praktisch beschäftigen. Somit können sie in ihrer Bedeutung kaum erkannt werden. Das führt dazu, dass die Initiative und Entwicklung nicht aus unseren Reihen kommen.

      Man kann einfach nicht das Pingpongspielen lernen, indem man nur ein Buch darüber liest. Man lernt nicht das Autofahren, indem man zahlreiche Videos auf YouTube schaut. Man lernt auch „Digital“ nicht, indem man lediglich Konferenzen zu digitaler Transformation besucht. Man muss schon selber den Pingpongschläger in die Hand nehmen und aktiv werden, sich hinter das Steuer eines Autos setzen und das neueste Smartphone oder einen Sprachassistenten und Ähnliches selbst verwenden – und das regelmäßig und für längere Zeit.

      Diese aktive Neugier, die Leonardo so sehr vereinnahmte, scheint uns zumindest teilweise abhandengekommen zu sein. Und das hat vermutlich mit unserer Erziehung und dem nachhaltigen Einfluss der Religion zu tun. Der Philosoph Michel Foucault schrieb, die Tradition lehre uns, der Neugier – insbesondere der Neugier auf die Schöpfung – dürfe man nicht ungestraft frönen:4

      Neugier ist ein Laster, das abwechselnd vom Christentum, von der Philosophie und sogar von bestimmten Auffassungen der Wissenschaft stigmatisiert wurde. Neugierde, Vergeblichkeit. Das Wort jedoch gefällt mir. Für mich suggeriert es etwas ganz anderes: Es evoziert „Besorgnis“; es evoziert die Sorgfalt, die man für das, was existiert und existieren könnte, aufbringt; eine Bereitschaft, das, was uns umgibt, seltsam und einzigartig zu finden; eine gewisse Bereitschaft, unsere Vertrautheit aufzubrechen und ansonsten die gleichen Dinge zu betrachten; eine Inbrunst, das, was geschieht und was vergeht, zu klassifizieren, eine Lässigkeit in Bezug auf die traditionellen Hierarchien des Wichtigen und Wesentlichen.

      Ohne die digitale Anti-Renaissance abzuschütteln und sich für das moderne Äquivalent der Spechtzunge zu interessieren, werden wir weder unsere Unternehmen noch Europa in die Zukunft bringen, geschweige denn diese Zukunft mitgestalten können. Wir müssen selbst experimentieren und ausprobieren und uns nicht nur Konferenzwissen aneignen. Wir müssen die Angst vor dem Unbekannten abschütteln und neugierig sein. Leonardo beschäftigte sich mit Dingen, die uns trivial erscheinen mögen, aber selbst im Trivialen sind Erkenntnisse verborgen, die weitreichende Bedeutung haben.

      Vor einiger Zeit besuchte ich eine lokale Messe in der kalifornischen Stadt Fresno. Hier, mitten in dieser von Agrarland umgebenen Kleinstadt, hält die aus Laos eingewanderte Hmong-Bevölkerung alljährlich ihre einwöchige Kulturfeier mit vielen Ausstellern ab. In einer Halle gab es den Stand eines örtlichen Fortbildungsinstituts, bei dem eine Lehrerin demonstrierte, wie man mit einem Lockenstab unterschiedliche Arten von Locken in das lange Haar des Models machen kann. Ich war fasziniert. Noch nie hatte ich das beobachtet. Eine leichte Drehung hier, ein längeres Pressen da – und die Locken waren entweder kurz und eng oder lang und voluminös. Werde ich das Wissen darüber je brauchen? Bei meinem Kurzhaarschnitt eher nicht. Aber wer weiß heute schon, wo diese Erkenntnis einmal praktisch oder als Metapher zum Einsatz kommen kann. Zumindest hier in diesem Buch konnte ich sie schon einmal als Beispiel anführen.

      Das Funktionsdilemma

      Die Bedeutung deines Lebens ist etwas, das du schaffst.

      Noam Chomsky

      Es ist ein regnerischer Novembertag, als ich mich auf den Weg zu einem Vortrag vor Studenten und Absolventen der Technische Universität München ins neu eingeweihte Werksviertel mache. In diesem Stadtentwicklungsgebiet, von dem aus die Pfanni-Knödelfabrik jahrzehntelang die Bundesrepublik mit Fertigknödeln belieferte, befinden sich heute Bürogebäude, schicke Container mit Weinbars sowie gleich neben einem Partydach Schafe und Hühner auf einer „Dachalm“. Dass die Tiere dort überhaupt sein dürfen, war nicht dem Münchner Veterinäramt zu verdanken, das sich nicht dazu äußern wollte, ob sich Hühner und Schafe überhaupt miteinander vertragen. Das Amt übertrug die Verantwortung den Betreibern, sie dort anzusiedeln. Bei jeder Party auf dem begrünten Dach der ehemaligen Fabrik kommen die Schafe neugierig an die Partyzone heran, staunen und lauschen.

      Genauso lauschten und staunten vermutlich die Studenten bei meinem Vortrag über die Technologietrends in der Automobilbranche. Fahrerlose Autos navigieren heutzutage sicher durch die Straßen der San Francisco Bay Area. Ein Physikabsolvent hob nach dem Vortrag die Hand und erklärte überzeugt:

      Ich habe ein Haus in den Bergen und im Winter ist das immer zugeschneit. Da muss ich zehn Kilometer über schneebedeckte Straße fahren, um dorthin zu gelangen. Das wird ein autonomes Auto nie können.

      Das war im Jahr 2019, genau 50 Jahre nach der ersten bemannten Mondlandung. Das war einige Tage, nachdem die Voyager-2-Sonde unser Sonnensystem verlassen und endgültig in den interstellaren Raum vorgedrungen war. Das war Jahre, nachdem Menschen in 10.000 Metern Tiefe mit U-Booten und Tauchrobotern im Meer die Welt erkundet haben, nachdem wir Raumsonden auf andere Planeten und Monde in unserem Sonnensystem gesandt haben und wir mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit auf unserem eigenen Planeten fliegen können.

      Dennoch ist ein Physiker der TU München felsenfest davon überzeugt, autonome Autos würden nie eine zehn Kilometer lange schneebedeckte Strecke zurücklegen können – von derselben TU, dessen Hyperloop-Team viermal in Folge den Wettbewerb zum schnellsten Hyperloop-Pod gewonnen hat und sogar eine eigene Teststrecke um München erhalten wird.

      Ich könnte diese Behauptung als einen statistischen Ausreißer ignorieren. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Ein Physiker macht noch keine TU. Doch ist dies kein Einzelfall, denn gerade aus dem deutschsprachigen Raum kommen zu selbstfahrenden Autos immer wieder solche Reaktionen. Kritischer sehe ich solche Aussagen, wenn sie von Ingenieuren stammen. Menschen, die ausgebildet wurden, Probleme zu identifizieren und Lösungen zu finden, die dem Wohl der Menschheit dienen.

      Wer erinnert sich nicht an die Prüfungsfragen


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