Das Osmanische Reich. Douglas Dozier Howard
auf Arabisch vorgelegte „Kompendium der Turksprachen“ (Diwan Lugat al-Turk). Sein Autor, ein karakhanidischer Türke namens Mahmud al-Kaschgari, leitet sein Werk wie folgt ein:
Als ich sah, dass Gott der Allerhöchste die Sonne des Glücks im Wendekreis der Türken hatte aufgehen lassen …, [da sah ich ein, dass] jeder vernünftige Mann sich ihnen anschließen muss oder aber sich ihren herabregnenden Pfeilen aussetzt. Und keinen besseren Weg gibt es, sich ihnen zu nähern, als durch das Sprechen ihrer eigenen Sprache, wodurch man ihr Ohr gewinnt und ihr Herz bewegt …
Ich hörte es von einem der verlässlichen Auskunftgeber unter den Imamen von Buchara und von einem weiteren Imam aus dem Volk von Nishapur; sie beide berichteten die folgende Überlieferung, und beide wussten eine Kette von Zeugen, die zurückreichte bis zum Gesandten Gottes, möge Gott ihn segnen und ihm Frieden verleihen. Als er über die Zeichen der Stunde und die Prüfungen am Ende der Zeit sprach und das Auftreten der oğusischen Türken erwähnte, da sprach er: „Lernt die Sprache der Türken, denn ihre Herrschaft wird lang sein.“ Wenn nun aber dieser Hadith verlässlich ist und die Beweislast auf diesen beiden liegt – ja, dann ist es eine Glaubenspflicht, sie zu lernen; und wenn er nicht verlässlich ist, so verlangt es gleichwohl die Weisheit.
Ich habe ihre Städte und Steppen bereist und habe ihre Dialekte und Verse erlernt: die der Türken, der Turkmen-Oğusen, der Tschigilen, der Yaghma und der Kirgisen. Außerdem bin ich einer der Sprachgewandtesten unter ihnen und im Sprechen der Beredteste, der mit dem am weitesten zurückreichenden Stammbaum und der, der am tiefsten durchdringt, wenn man die Lanze schleudert. So habe ich den Dialekt einer jeder ihrer Gruppen perfekt erlernt und habe ihn in ein umfassendes Buch, in ein wohlgeordnetes System gebracht.a
Abb. 1.3: Englische Übertragung von Kaschgaris Karte der Turksprachen. Oben ist Osten; die Oğusen befinden sich links in der Mitte der Karte. Beim Original handelt es sich um eine kräftig kolorierte Illumination zu einer Handschrift. Diese Version der Karte entstand für die englische Übersetzung von Kaschgaris Buch, die Robert Dankoff und James B. Kelly 1982–85 in Harvard publiziert haben.
aMahmud al-Kaschgari: Compendium of the Turkic dialects, hrsg. und übers., mit einer Einleitung und Registern versehen von Robert Dankoff und James B. Kelly, Harvard: Harvard University Press, Bd. 1, S. 7
Das spirituelle Vokabular der gewaltsamen Umwälzung
In einem Jahrhundert, als Bulgaren, Byzantiner, Franken, Normannen, Alanen, Petschenegen, Serben, Genuesen und Venezianer einander allesamt mit praktisch denselben Methoden und Folgen bedrohten, waren die Türken schwerlich ein einmaliges Phänomen. Sie waren nicht die einzigen Krieger, denen es auf Raubzüge, Plünderungen und Versklavung ankam, und sie waren auch nicht die einzigen, die das Ergebnis als gottgewollt rechtfertigten. Allerdings fand diese gemeinsame Sichtweise ihren je eigenen kulturspezifischen Ausdruck.
Im lateinischen Europa beispielsweise war das Ideal des Kreuzfahrers noch sehr lebendig. Johannes Kantakuzenos erinnerte sich an das Aushandeln einer Allianz gegen die Türken mit Papst Clemens VI., der „der Ansicht war, dass es den größten Gewinn bringe, im Kampf für eine solche Sache zu sterben“.63 Und während die türkische Variante dieser landläufigen Einstellung zwar durchaus gewisse Elemente der koranischen Vorstellung vom Dschihad einschloss, ähnelte sie doch stärker dem heiligen Krieg in der Tradition der zentraleurasischen Steppe, der großen Wert auf die Dynastie legte, die durch Gottes besondere Gunst zur Eroberung der Welt bestimmt war.
Von daher war die Bevorzugung einer einzigen religiösen Überlieferung bei Mongolen und Türken nicht unvereinbar mit der Realität religiöser Unterschiede. Mit der Eroberung gingen keine Erwartungen einer Massenbekehrung einher.64 In einem Brief von 1246 überhäufte der mongolische Großkhan Güyük Papst Innozenz IV. mit Fragen: „Wie könnte jemand aus eigener Kraft gegen das Gebot Gottes erobern oder töten? […] Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang sind alle Lande mir untertan geworden. Wer könnte das gegen den Befehl Gottes vollbringen?“65 Und doch war das Mongolenreich an religiöser Vielfalt und Toleranz schwerlich zu überbieten. Güyüks Nachfolger Möngke beschied Wilhelm von Rubruk: „Wir Mongolen […] glauben, dass es nur einen Gott gibt, durch den wir leben und sterben, und vor ihm haben wir ein aufrechtes Herz. […] Aber genau wie Gott der Hand verschiedene Finger gegeben hat, so hat er den Menschen verschiedene Wege gegeben.“66 Genauso bemerkte Gregorios Palamas über Orhan: „Während es die Pflicht des Dieners oder eines jeden gewöhnlichen Menschen ist, von einem einzigen Glauben höchstens rudimentäre Kenntnisse zu besitzen, ist es für denjenigen, der viele Völker unter seiner Herrschaft hat, notwendig, von allen Glaubensrichtungen genaue Kenntnisse zu besitzen.“67
In Kleinasien drückte der Begriff gaza diesen Aspekt der gemeinsamen türkisch-mongolischen Weltsicht in einem naturalisierten islamischen Idiom aus.68 Gaza bedeutete Kriegführung zur Ausdehnung des weltlichen Reiches muslimischer Herrscher. Jemand, der gaza betrieb, war ein gazi. Durch die Teilnahme an der gaza spielten die Türken eine führende Rolle im großen Drama der Heilsgeschichte, der Ausdehnung der islamischen Souveränität. Die Gazis waren es, die jenen Krieg führten, welcher Gottes Herrschaft über die ganze Welt bekräftigte. Diese Vorstellung war bei den Türken lange Zeit populär, auch in türkischen Gesellschaften, die untereinander so verschieden waren wie das mamlukische Ägypten und das Indien der Mogul-Herrschaft.69 Djihad dagegen war ein Begriff aus dem Koran, der „Kampf“ bedeutet. Im Koran erscheint er fast durchweg in der Wendung jihad fi’s-sabil Allah, „(mühsamer) Kampf auf dem Wege Gottes“. Dschihad war geistliche Kriegführung, ein facettenreicher Kampf gegen die Feinde der Herrschaft Gottes in der Seele des Menschen wie draußen in der Welt. Ein Mensch, der sich am Dschihad beteiligte, wurde mujahid genannt.
Da sich die Bedeutungen beider Begriffe in gewissem Sinne überschnitten, bildete man aus gaza und Dschihad im alltäglichen Sprachgebrauch oft ein poetisches Paar. Sultan Orhan, der zweite Osmanensultan, nannte sich auf einer berühmten Inschrift in Bursa „Sultan der Gazis, Gazi und Sohn eines Gazi“ sowie Mujahid fi sabil Allah, „Kämpfer auf dem Wege Gottes“. Die Grabinschrift des Evrenos, eines türkischen Vasallen Orhans und später Murads, pries ihn als „König der Gazis und Mudschahid“.70 In islamischen Katechismen, die an den türkischen Höfen Kleinasiens sowohl in Übersetzungen aus dem Arabischen wie auch als türkische Originalausgaben beliebt waren, finden sich Abschnitte, die den Unterschied zwischen Gaza und Dschihad erläutern, passende Bedingungen für den Kampf festlegten und das dabei geltende Kriegsrecht ausführten.71 So wurde die Gaza ein potenzielles Mittel für den Brückenschlag von der türkischen und mongolischen Steppentradition zur islamischen Tradition, deren Ansprüche auf universale Souveränität 1258 bei der mongolischen Plünderung Bagdads zusammen mit dem letzten Kalifen aus der seit 750 regierenden Dynastie der Abbasiden praktisch zu Grabe getragen wurden.72
Obwohl Kriegführung für die türkischen Eroberer der kleinasiatischen Küstenregionen ein zentrales Anliegen war, erschöpfte sich ihr geistlicher Wortschatz keineswegs in Begriffen wie Gaza und Dschihad. Türkische Muslime hatten sehr viel weitläufigere Interessen. Ibn Battuta stieß auf einen unverwechselbar türkischen Islam, der mittels öffentlicher Wohltaten verbreitet wurde, welche die Grundlage für eine Wiederbelebung des Glaubens schufen.73 Überdies haben sich Berichte über eine bemerkenswerte Reihe muslimisch-christlicher Dialoge unter Teilnahme von Gregorios Palamas erhalten, die Frucht seiner fast einjährigen türkischen Gefangenschaft. Des Weiteren zeugt auch die religiöse Architektur der siegreichen türkischen Herrscher davon, wie sehr sie bereit waren, andere Religionen weitgehend einzubeziehen.
Gregorios Palamas und der glaubensübergreifende Dialog
Palamas’ interreligöse Begegnung nahm ihren Anfang, als sein Schiff auf dem Weg nach Konstantinopel, wo er bei der Beilegung des byzantinischen Bürgerkriegs als Vermittler fungieren sollte, kurz nach dem Marmara-Erdbeben vom März 1354 von osmanischen Soldaten geentert wurde. Man brachte seine kleine Mönchsgruppe vor Sultan Orhan in