Das Osmanische Reich. Douglas Dozier Howard

Das Osmanische Reich - Douglas Dozier Howard


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auf eine Beschreibung der Beziehungen der osmanischen Völker zu den Osmanensultanen und deren ausgedehntem Haushalt hinaus. Deren praktische Ausgestaltung variierte im Lauf der Zeit, je nachdem, wie sich das Bild der Osmanenfamilie nach außen hin wandelte, und damit veränderte sich auch die Definition von Identität, Loyalität und Zugehörigkeit.

      Eine zweite Schicht der osmanischen Weltsicht ist ihr Verständnis von Wohlstand und Erfolg sowie der geeigneten Strategien, um beides zu erreichen. Das fiskalische Modell eines Imperiums ist wichtig, wie wir alle in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelernt haben. Doch als die osmanische Dynastie ihr Reich errichtete, betrachtete sie die „Wirtschaft“ nicht als unpersönliche oder unabhängige Kategorie, sondern als Ausdruck materiellen Erfolgs, der sich aus dynastischer Macht und geistigen Bindungen gleichermaßen speiste. Instinktiv wollten die Osmanen die Leute in Ruhe ihre eigenen Entscheidungen in Wohlstandsfragen treffen lassen. Die Bedingungen des ausgehenden Agrarzeitalters, in das die Blütezeit des Osmanischen Reiches fällt, seine bestehenden Transportkapazitäten und seine Kommunikationstechnologie erzwangen eine solche „Laissez-faire“-Haltung, aber sie war auch vernünftig. Von der imperialen Rhetorik einmal abgesehen, war „Absolutismus“ nicht etwas, das die Imperien des Agrarzeitalters leicht praktizieren konnten. Die osmanische Regierung brachte durchaus hochfliegende Ideen hervor und stellte manchmal unter Strafandrohung weitreichende Forderungen. Für Sultane und Staatsmänner im Siegesrausch war es eine große Versuchung, sich zu übernehmen. Je entlegener die Provinz, desto wahrscheinlicher war es, dass Geduld und Verhandlungsbereitschaft sich auszahlten. Es waren alte Länder, wo die Menschen wussten, wie man Dinge regelte.

      Die dritte Schicht der osmanischen Weltsicht ist das schon umrissene Geflecht aus spirituellen Überzeugungen. Die osmanische Literatur ist ein Mittel, um diese Überzeugungen zu verorten, und sie erhält in diesem Buch breiten Raum. Wie schon beim Betrachten der Fotografien Ara Gülers dauert es auch bei der Lektüre osmanischer Literatur nicht lange, bis man die alles durchdringende Melancholie spürt, die mit dem Verlust einhergeht, aber auch die verwunderte und heitere Hinnahme der Natürlichkeit dieses Verlusts. Hier auf diesem Erdenrund, unter den Himmelslichtern und Planeten, die über ihm im Gewölbe der sieben Himmel umliefen, bestand die Erfahrung des Menschseins in der Erfahrung von Wandel und des mit ihm einhergehenden Leids. Dieses Leid war teils das Ergebnis unerbittlicher Handlungen Gottes – Erdbeben, Seuchen, Dürre und Hungersnot, Stürme und Brandkatastrophen. Teils erwuchs es aus selbst zugefügten Wunden wie Krieg und Sklaverei, teils aus unergründlichen existenziellen Herausforderungen, unter denen die Erfahrung der Zeit zweifellos die rätselhafteste war. Und dennoch enthüllte die vergängliche Realität in all ihrer scheinbar willkürlichen Zufälligkeit für osmanische Autoren und ihre Leser letzten Endes eine vollständige Beschreibung des Göttlichen. Dinge, Erfahrungen und Ereignisse und vor allem jede Liebe und jeder Verlust – überwältigten in letzter Konsequenz die Sinne und trieben einen Menschen ins Dunkel, in die „Ruinenschänke“, wo er seine Lebensumstände bedenken und feststellen konnte, dass auch andere schon dort gelandet waren. Menschen fühlen sich in ihrem Schmerz oft getröstet, wenn ihr Leben dabei offensichtlich archetypischen Mustern folgt.

      Zum Aufbau dieses Buches

      Das Zeitempfinden einer Gesellschaft ist ein geeigneter Ausgangspunkt für den Einstieg in ihre Weltsicht. Daher erzählt dieses Buch die Geschichte der Osmanen in sieben chronologischen Kapiteln, entsprechend den Jahrhunderten des islamischen Kalenders, jener Zeitrechnung, die mit der Hidschra des Propheten Mohammed begann (622 n. Chr.). Zwar waren in den Ländern der osmanischen Dynastie und den von ihr beherrschten Gemeinschaften auch andere Kalender gebräuchlich, aber die Osmanen hielten sich an diesen islamischen Kalender und verwendeten ihn im gesamten Reich als Standard. Kapitel 1 beginnt mit dem Auftreten Osmans zu Beginn des achten islamischen Jahrhunderts, und Kapitel 7 endet mit dem Abgang der osmanischen Dynastie in der Mitte des vierzehnten. Somit vertritt das Buch zwei Thesen. Die eine lautet, dass das Dramatische an der Geschichte gerade in ihrer Chronologie besteht. Die Menschen wissen nie, was als Nächstes geschehen wird, sie wissen bloß, was gerade passiert ist, und auch das nur verschwommen. Da es der Historiker ist, der am Ende die Geschichte erzählt, ist die geschehende Geschichte von Natur aus anachronistisch. Dieses Paradox ist Teil des Vergnügens. Die andere These, die in der chronologischen Anordnung des Buches steckt, besagt, dass das Erleben von Zeit selbst eine Dimension der erzählten Geschichte ist. Keine Epoche ist wichtiger oder unwichtiger als eine andere. Ein kulturelles Konstrukt des Menschen, das ihm kosmologische Orientierung bietet und eine Struktur an die Hand gibt, innerhalb derer er den Sinn des Lebens begreifen kann, ist der Kalender.

      Der Aufbau des Buches ist der osmanischen Weltsicht noch auf zwei weitere Arten verpflichtet, nämlich durch den Gebrauch einheimischer Ortsnamen und den Gebrauch von Eigennamen. Ortsnamen benennen das Terrain, das die osmanischen Völker ständig durchquerten, geben den Schauplatz der Handlung vor und liefern zum Teil den Kontext der Ereignisse. Mehr noch, sie lassen die Gestalt der osmanischen Gedankenwelt erkennen; es kann gar nicht genug betont werden, dass die Osmanen die regionale Vielfalt als gegeben annahmen. Sie hatten ihre Freude daran. Sie hüteten sich davor, Pauschalurteile auf der Grundlage von Verallgemeinerungen zu fällen, wie etwa „der osmanische Balkan“ – so etwas gab es nicht – oder „Anatolien“, dessen heutige Definition ebenfalls ziemlich jungen Datums ist und nach dem Ende des Imperiums entstand. Osmanische Autoren sprachen von „diesen wohlbeschützten Herrschaftsbereichen“, über die sie mit eigentümlicher Betonung des Lokalen berichteten.

      Was die Eigennamen angeht, so sind viele von ihnen vielleicht nicht vertraut, doch sie sind trotzdem unverzichtbar. Dieses Buch handelt von Menschen und von den Entscheidungen, die sie trafen, von dem, was sie schrieben und sagten, wie sie mit Leid fertig wurden, welche Überraschungen sie erlebten und was sie glücklich machte. Die Osmanen liebten es, alles zu dokumentieren, weshalb die Quellen, auf denen das Buch beruht, tatsächlich Namen nennen. Natürlich kannten viele Angehörige der vergleichsweise kleinen osmanischen Herrschaftsschicht einander, besonders jene, die gemeinsam im Palast aufgewachsen waren, aber das reicht als Erklärung nicht aus, da es nicht nur die Herrschaftsschicht ist, deren Namen in den Dokumenten auftauchen. Auch einfache Leute erscheinen namentlich, Männer wie Frauen, Christen, Juden, Muslime und Fremde, in Beschwerden und Gesuchen, Gerichtsfällen, Verträgen, Tagebüchern, Geschichtswerken und ähnlichem. Vielleicht stellen diese Namen die Geduld des Uneingeweihten auf die Probe, aber wer gut vorbereitet ist, dem offenbaren osmanische Namen häufig wichtige Informationen – Geschlecht, soziale Identität, Herkunftsort –, ganz abgesehen davon, dass sie manchmal schillernd und kurzweilig sind. Wenn in diesem Buch viele dieser Namen enthalten sind, so ist das der Versuch zu wiederholen, was die historischen Aufzeichnungen der Osmanen überdeutlich machen: dass die osmanische Weltsicht am klarsten in der Achtung vor dem Einzelnen und vor den bedeutsamen wie den banalen Details seines Lebens zum Ausdruck kam.

      1. Osmanische Genese, 1300–1397

      Der Regen fiel heftig in diesem Frühjahr, und der Fluss Sangarios trat über die Ufer und suchte sich unter einer längst aufgegebenen Brücke hindurch sein altes Bett. Ein Sturzbach aus Matsch, Schlamm und Schutt ergoss sich über den Weg, und dort begann das Osmanische Reich, in den westlichen Grenzregionen der mongolischen Welt während der Morgenröte der Kleinen Eiszeit, im Monat März an der Wende zum achten islamischen Jahrhundert. Türkischen Hirten, die mit ihren Herden von den regengepeitschten Anhöhen flohen, gelang es, die durchbrochenen byzantinischen Verteidigungslinien am abgerutschten Flussufer zu umgehen.1 Ihre Vorhut überraschte eine byzantinische Streitmacht. Mit frischem Mut griffen die Türken an und brandschatzten. Es folgten zahlreiche weitere Raubzüge – eine wahre Flut. Von Konstantinopel rückte das reguläre Heer aus, das vom Kaiser den Befehl erhalten hatte, der türkischen Gefahr entgegenzutreten, doch auf der Ebene von Bapheus vor Nikomedia errangen die Türken einen großen Sieg.

      Osmanische Sultane des achten islamischen Jahrhunderts

Osman gest. 1324(?)
Orhan
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