Harzmagie. Jürgen H. Moch

Harzmagie - Jürgen H. Moch


Скачать книгу
der Junge das Trassierband wieder ab und brachte es in die alte Position. Sie isolierten sie. Der Beobachter erhob sich und lief ihr hinterher, allerdings durch den Wald und das Unterholz, doch das kümmerte ihn nicht. Er war schnell genug.

      Elisabeth lief und lief. Während sie durch den Wald rannte, ging es ihr immer besser und die übermäßige Wut verebbte langsam. Sie schnappte während des Laufens Gerüche auf, die so intensiv auf sie wirkten, wie sie es vorher noch nie gerochen hatte. Geräusche drangen an ihre Ohren. Und da ein Knacken. Jemand lief oberhalb von ihr durch den Wald. Sie reduzierte ihr Tempo etwas, um besser hören zu können, doch schon war es wieder weg. Vielleicht ein Reh. Sie lief weiter und wunderte sich, dass sie die Jungengruppe immer noch nicht eingeholt hatte.

      Als sie an die nächste Kreuzung kam, stand bereits jemand dort. Ein Mann, etwas über dreißig, so wie ihre Mutter. Er sah extrem gut aus, aber das irritierte Elisabeth viel weniger, als dass er bis auf eine Art Tüte, die er sich vor seine Hüften hielt, nackt da stand. Ein Verrückter? Sie stoppte verwirrt, denn er versperrte ihr den Weg.

      »Äh ... alles in Ordnung?«, rief sie ihm zu.

      »Ja, schon, ich war nur im See schwimmen und ich habe meine Klamotten am Ufer nicht mehr gefunden!«, erklärte er lächelnd.

      Es sollte wohl unschuldig aussehen, doch dafür schien er es zu sehr zu genießen. Sein Blick hatte etwas Verwegenes. Das irritierte sie noch mehr.

      »Ist auch nicht so wichtig, das passiert mir öfter. Du bist von dem Schullauf, richtig? Da bist du aber vom Kurs abgekommen. Die Leute haben heute den oberen Weg gesperrt, der im Bogen nach Clausthal zurückführt. Hier kommst du ins Tal nach Wildemann.«

      Elisabeth blickte den Mann fassungslos an.

      »An deiner Stelle würde ich mich sputen. So schnell, wie du bist, kannst du die noch einholen, aber du musst den schmalen Pfad hier direkt den Hang hochnehmen. Na los, lauf schon!«

      Elisabeth warf ihm noch ein »Danke!« zu, dann bog sie ab und nahm den Pfad, der kaum mehr als ein Wildwechsel zu sein schien. Sie war ihm wirklich dankbar für diese Hilfe, auch wenn ihr das Bild seines Körpers, die Augen und diese Stimme nicht mehr aus dem Kopf wollten. Es hatte etwas magisch Anziehendes an sich gehabt. Woher wusste der Mann nur, wie schnell sie laufen konnte, überlegte sie weiter. Er hatte sie ja nur einen kurzen Moment gesehen. Aber dann schoss ihr eine andere Frage durch den Kopf: Warum war sie eigentlich vom Weg abgekommen? Dann dämmerte es ihr, dass Ojan etwas damit zu tun haben musste. In diesem Moment begriff sie, warum er so dämlich gegrinst hatte. Die Wut kochte wieder in ihr hoch und sie rannte, so schnell sie konnte.

      An der Kreuzung schnüffelte der Mann. Was für ein ungewöhnlicher Geruch!, dachte er bei sich. Definitiv interessant! Hinter dem Mädchen steckte mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Sie galt es weiter im Auge zu behalten. Er sprang wieder ins Gebüsch und fiel nach vorne. Wenige Sekunden später huschte ein Schatten durch das Unterholz und folgte ihr mühelos den Pfad bergauf.

      Elisabeth nahm die letzten Meter durch die Büsche und sprang wieder auf den Weg. Hier hing der Geruch von Schweiß in der Luft. Sie war wieder auf dem Rundweg. Vor ihr, keine fünfzig Meter, sah sie Vinzenz und Alim gemächlich dahinjoggen. Sie stieß einen Schrei aus und rannte ihnen hinterher. Alim drehte sich daraufhin kurz um und stolperte fast, als er sie sah. Er stieß Vinzenz an und nun schaute auch er. Sie konnten es beide nicht fassen und liefen plötzlich schneller. Elisabeth holte spielend auf.

      Als sie die beiden fast erreicht hatte, höhnte Vinzenz: »Na, eine Extratour gedreht, Süße?«

      »Ich bin nicht deine Süße,« kam es zurück, »und nach dem Rennen sprechen wir uns unter vier Augen, aber jetzt lasst mich vorbei!«

      Die Jungs gaben sich ein Zeichen und wichen beide nach links aus, sodass rechts am Hang eine Lücke entstand. Elisabeth steuerte darauf zu, als Vinzenz Alim plötzlich mit einem übertriebenen »Uups!« stieß und dieser wiederum in Elisabeth prallte.

      Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte den Hang hinunter. Panisch versuchte sie noch, Halt zu finden, doch es ging zu schnell. Sie überschlug sich mehrfach und krachte weit unten gegen einen Baum. Dann wurde alles dunkel.

      Der Beobachter sah aus der Ferne die Szenerie. Die beiden Jungen hatten offenbar nicht damit gerechnet, dass das Mädchen komplett abstürzte, aber bei dieser Geschwindigkeit hatte man kaum Möglichkeiten abzubremsen. Sie war entweder schwer verletzt oder tot. Die Jungen gerieten in Panik und flohen den Weg weiter. Sie ließen sie zurück.

      Was für niederträchtige Wesen, dachte der Beobachter bei sich. Er lief los und huschte schnell über den Weg, bevor die ersten Läuferinnen um die Ecke biegen konnten. Er musste nachsehen, wie es dem komisch riechenden Mädchen ging.

      Reinhard Kreitz ging mit seinem Yorkshire Terrier ›Poggi‹ im Wald spazieren. Er war alleine in den Harz gefahren. Seine Frau hatte er in Hildesheim gelassen, weil sie sich vor ein paar Wochen an der Okertalsperre den Fuß verknackst hatte. So ganz unglücklich war er nicht darüber, denn so konnte er in Wildemann essen gehen und dabei ausgiebig dem Wein zusprechen, ohne ihre mahnenden Worte wegen der Autofahrerei ertragen zu müssen. In dem urigen Restaurant hatte er wieder einmal vorzüglich gespeist und der drallen Bedienung ein saftiges Trinkgeld gegeben.

      Er schlenderte auf dem Weg zurück zu seinem Auto auf dem Waldweg entlang, der östlich von Wildemann unterhalb eines Hanges verlief, als Poggi plötzlich anschlug. Der Hund tat das oft, doch diesmal zerrte er wie wild an der Leine und strebte auf ein Fichtendickicht zu, das oberhalb lag. Kreitz versuchte erfolglos, seinen aufgebrachten Hund zu beruhigen. Als sein Herrchen in die Tasche langte, um ihn mit einem Leckerli abzulenken, was üblicherweise immer funktionierte, riss sich der Hund los und rannte ins Gestrüpp. Kreitz hörte ihn wild kläffen, doch der Hang war zu steil, um zu folgen. Er rief nach Poggi, der plötzlich zu winseln begann. Dann erklang ein Knurren, das eindeutig nicht von seinem Hund stammte. Die Fichten wackelten. Noch immer konnte Kreitz nichts sehen, doch die nächsten Geräusche ließen ihn zusammenfahren und verstummen. Ein Grollen, ein panisches Geheule von Poggi, dann ein Reißen und Schmatzen. Kreitz wurde bleich, sein Puls raste und er bekam Schweißausbrüche. Dann brach ein Schatten aus dem Unterholz und sprang vor ihm auf den Weg. Es war ein heller, fast blonder Wolf mit blutverschmiertem Maul. Er war riesig, größer noch als eine Deutsche Dogge, eher wie ein kleines Pony. Er kam direkt auf ihn zu.

      Lange Jahre mit Übergewicht, intensivem Alkoholgenuss und ein sehr beschauliches Leben mit wenig Sport forderten ihren Tribut. In diesem letzten Moment blieb das Herz des Mannes stehen. Er griff sich an die Brust und rang noch einige Male um Luft, dann kippte er um und blieb reglos liegen. Der Wolf ignorierte ihn und rannte vorbei.

      Eine ganze Weile später trafen sich die zwei laufenden Suchtrupps auf halbem Weg. Manfred Burglos hatte noch Herrn Stetter, den Physiklehrer, dabei. Keiner hatte etwas gesehen. Sie verschnauften gerade an einer Stelle, wo es steil den Abhang hinunter ging, als sie unten im Tal einen Krankenwagen näherkommen sahen. Der Wagen fuhr mit Blaulicht und Sirene von Langelsheim herauf. Eine weitere Sirene in der Ferne kündigte noch mehr Unterstützung an. Sabrinas Handy schrillte. Sie hatte es laut gestellt, damit sie es auch auf jeden Fall hörte. Ihre Mutter war dran.

      »Sabrina, ich bin es. Wo bist du?«

      »Wir und die Lehrer sind am Steilhang oberhalb von Wildemann. Auf dem Weg war sie nicht!«

      »Gerate bitte nicht in Panik. Ich sitze inzwischen bei Frau Wollner im Auto und fahre nach Wildemann. Es ist ein Notruf angekommen, dass etwas passiert ist. Gib mir Herrn Burglos!«

      Sabrina riss die Augen auf und gab das Telefon an den Lehrer weiter. Mittlerweile sahen sie den Krankenwagen ganz dicht an die Stelle fahren, oberhalb derer sie standen.

      Manfred Burglos wurde bleich und sagte nur: »Ja! Ja, selbstverständlich. Wir bringen die Kinder hinunter!« Er legte auf.

      Dann rief Theobald, der die ganze Zeit den Hang hinab gespäht hatte: »Seht mal! Da unten


Скачать книгу