Harzmagie. Jürgen H. Moch
Präsenz. Eine Stimme klang in ihrem Kopf.
Eine Kleinigkeit wäre da noch. Lass mich nur machen.
Mit aufgerissenen Augen sah Sabrina, wie sich ihre Hände bewegten. Sie konnte gar nichts tun. Die Hände zogen die Handschuhe aus und öffneten die Kommodenschublade. Sabrina sah sich selbst einen Cutter entnehmen, den sie sonst zum Schneiden von Papier verwendete. Sie schnitt sich dann in beide Hände. Es tat höllisch weh und das Blut tropfte auf den Boden. Eilig zogen die Hände die Handschuhe wieder an. Während das Blut in die Handschuhe sickerte, spürte Sabrina plötzlich, wie eine kalte Macht von ihnen ausging. Sie waren jetzt wirklich wie Haut.
Sie gehören jetzt ganz und gar dir, Sabrina!, klang die Stimme in ihrem Kopf. Du kannst damit jeden körperlosen Geist fangen, festhalten und abwehren. Aber sie könnten noch viel mehr. Sie werden dir helfen, bis du so mächtig geworden bist, dass du sie nicht mehr brauchst. Und damit genug für heute. Ruf mich immer im Spiegel und nenne mich Wilhelmine. Sollte dir leicht fallen, den Namen nicht zu vergessen.
Plötzlich war ihre Präsenz nicht mehr spürbar. Sabrina stand immer noch vor dem Spiegel. Das Handtuch war heruntergerutscht, doch sie merkte es nicht. Was war sie da eben eingegangen? Hatte sie eine Wahl gehabt?
Dann ging die Tür auf und ihre Mutter blickte herein. Sabrina quietschte erschrocken, hob eilig das Handtuch auf und scheuchte sie raus. Oh, was dachte ihre Mutter bloß von ihr? Sie kam immer im unpassendsten Moment herein und schon wieder trug sie diese Handschuhe.
Der Testlauf – Sabrina
Es waren zwei weitere Wochen ins Land gegangen und der Oktober zeigte sich von seiner schönen Seite. Sabrina hatte keine ungebetenen Besuche mehr gehabt, weder mit noch ohne Spiegel, und war dankbar dafür.
Manfred Burglos war wieder zurückgekehrt. In Geschichte war er richtig witzig, fand Sabrina. Er wusste so viele Anekdoten zu den Ereignissen zu berichten, dass sie im Unterricht richtig mitfieberte. Neben Theobald tat sich auch Elisabeth hervor und entwickelte sich langsam zu einer richtigen Streberin. Herr Burglos schien im Besonderen sie dranzunehmen, war Sabrina aufgefallen. Wann immer ihre Freundin sich meldete, kam sie relativ zuverlässig zu Wort. Theobald und sie konnten meist noch etwas ergänzen, aber es schien, als wenn der Lernknoten bei Elisabeth langsam platzte.
Dagegen wurden die drei Jungs in der letzten Reihe immer stiller. Vinzenz schien noch abwesender als sonst. Er hatte dicke Ringe unter den Augen und nickte oft ein. Zumindest war das im Unterricht so, doch auf dem Pausenhof ließen er und die Zwillinge die Coolen heraushängen. Sie rauchten heimlich und terrorisierten ihre Mitschüler mehr denn je. Ojan hatte Sabrina nach den Sprints versucht aufzuziehen, aber diese tat das nur mit einer Handbewegung ab. Ihr war Sport sowieso egal, behauptete sie, nur um sich die Woche darauf selbst zu widerlegen.
Im Sportunterricht kamen Ballwurf und Kugelstoßen dran. Endlich eine Disziplin, bei der Sabrina wirklich glänzen konnte. Sie schaffte auf Anhieb die zweitgrößte Weite der Mädchen, ganz knapp hinter Elisabeth, die in allem ein Naturtalent zu sein schien, was Sport hieß. Sehr zum Leidwesen ihrer Widersacher bekam sie in der Klasse dafür viel Anerkennung.
An diesem Tag stand der Testlauf an, den Manfred Burglos nicht nur für die AG, sondern für den gesamten Jahrgang und die Oberstufe angesetzt hatte. Fast alle Schüler und einige Lehrer machten mit. Insgesamt gingen an die zweihundert Läufer und Läuferinnen an den Start. Burglos hatte die Devise ausgegeben: Wachst über euch hinaus!
Der Weg führte vom Gymnasium aus Richtung Zellerfeld, über den Höhenkamm nach Wildemann und im Bogen an der Langlaufloipe entlang zurück zur Schule. Herr Burglos war schon seit dem Morgengrauen auf den Beinen. Er hatte einige Nichtläufer als Helfer dabei, um die Wegweiser aufzustellen. Ojan befand sich unter ihnen.
Viele Eltern waren ebenfalls gekommen, wie Sabrina bei ihrer Ankunft feststellen musste. Emilia Wollner befand sich jedoch nicht darunter. Elisabeth hatte kürzlich eine Flasche verloren und sich, wie Sabrina wusste, kräftige Schelte eingefangen. Sabrinas eigene Mutter war aber da und Anna Binsenkraut brachte mehrere Paletten mit Sportdrinks vorbei, verschwand aber gleich wieder in die Apotheke.
Ihre beste Freundin war aufgeregt, noch aufgeregter als sonst. Burglos hatte alles noch schlimmer gemacht, als er Sabrina und Elisabeth vor der Umkleide abgefangen und gesagt hatte, dass er mit einem Start-Ziel-Sieg von Elisabeth rechnete. Sicher, sie lief schnell, aber unter diesem Druck hibbelte sie hin und her und verschwand schließlich auf die Toilette, obwohl es bald losgehen sollte.
Zuerst sollten die Jungen starten, später die Mädchen. Sabrina wanderte umher, doch nach einer Weile ging sie wieder hinein, um Elisabeth dort zu suchen. An der Tür der Mädchenumkleide prallte sie mit Theobald zusammen. Er lief rot an und versuchte, sich schnell an Sabrina vorbeizudrücken.
»Theo, was machst du denn hier drin? Du hast hier nichts verloren.«
Ganz untypisch für ihn stammelte er nur, er habe sich in der Tür geirrt, weil er noch auf die Toilette müsse. Sie sah ihm kopfschüttelnd nach, wie er eine Tür weiter in die Jungenumkleide ging.
In diesem Moment wurde sie abgelenkt, als eine Lehrerin auftauchte, die schnell noch einen Tisch für die Kaffeetafel holen wollte. Da die Jungen fast alle am Start standen, packte Sabrina mit an und brachte den Tisch nach draußen.
Dort vor dem Schulgebäude waren mit Trassierband eine Startlinie und ein Zieleinlauf aufgebaut. Die Läufer wurden gerade aufgefordert, sich bereit zu machen. Vinzenz und Alim standen mit in der Startgruppe. Theobald kam erst im allerletzten Moment aus dem Gebäude und stellte sich zu der Läufergruppe dazu. Sabrina zeigte ihm den gehobenen Daumen zum Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Er grinste verschämt, wurde rot und blickte weg. Einen Moment später erklang der Startschuss. Die Eltern und einige Geschwister feuerten die Läufer an, aber schon bald waren auch die letzten davon um die Ecke verschwunden.
»Start der Mädchengruppe in fünf Minuten!«, verkündete Manfred Burglos laut.
Wo blieb Elisabeth nur? Als Sabrina sich überall umsah, fiel ihr ein Mann auf, der abseits von allen anderen Eltern etwas erhöht stand und der Laufgruppe der Jungs mit einem Feldstecher nachsah. Es gab schon merkwürdige Typen hier im Harz, dachte sie noch bei sich, bevor sie zurück in die Umkleide zu den Toiletten lief.
»Elle, wo bist du? Wir sind gleich dran.«
»Hier hinten!«, kam es hinter einer Tür hervor. »Kannst du mir meinen Trank bringen, ich bin so schrecklich nervös. Er ist in meinem Rucksack in der kleinen Bauchtasche, die ich sonst immer mit mir trage.«
»Ist gut, ich weiß schon!« Sabrina lief zu den Taschen und fand die Bauchtasche sogleich. Sie lag oben auf und stand offen. Die Flasche schaute schon heraus. Mit ihr lief sie zurück und reichte sie unter der Tür hindurch.
»Danke! Du bist eine echte Freundin, Brina! Ich weiß, ich kann das, aber jetzt spinnen meine Nerven. Ich komme gleich, geh schon mal vor.«
So ging Sabrina wieder zum Start zurück. Sie hatte Elisabeth genug beobachtet und ahmte jetzt ihre Aufwärmübungen nach, doch immer wieder schaute sie zum Eingang der Schule zurück. Der merkwürdige Typ stand noch da und schien jetzt die Mädchen zu beobachten. Sabrina richtete sich auf und runzelte die Stirn. Sie hatte ihn noch nie hier gesehen. Was wollte der hier?
Schließlich, als alle anderen schon aufgefordert wurden, sich bereitzumachen, kam Elisabeth aus der Schule gejoggt. Sie hatte den Kopf gesenkt und schien nur auf ihren Weg zu schauen.
»Was hast du noch so lange gemacht?«, wollte Sabrina wissen. Elisabeth sah sie nicht an, auch sonst niemanden. »Alles in Ordnung mit dir?« Sie berührte ihre Freundin locker am Arm, doch diese schob sie mit der Faust weg. Da sah sie, wie Elisabeth überall leicht zitterte. »Hast du deine Medizin nicht genommen?«, flüsterte sie.
»Doch!«, kam es aus gepressten Lippen und knurrend zurück, »Und nach dem Lauf bringe ich jemanden um! Und ich weiß auch schon ganz genau, wen.« Die Stimme klang so verzerrt, dass Sabrina sie