Harzmagie. Jürgen H. Moch
Elisabeth sprintete allen weg. Sabrina rannte mit sorgenvoller Miene hinterher, wusste aber, dass sie froh sein konnte, überhaupt durchzulaufen. Doch nach einer Weile merkte sie, dass sie sich gar nicht schlecht schlug. Sie konnte sich im Mittelfeld halten, was aber jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte.
Als Sabrina, schnaufend wie eine Dampflok, am Waldrand ankam, grinste dort ihr Klassenkamerad Ojan sie gehässig an.
»Diesmal gibt es keine Lorbeeren für deine Zickenfreundin!«, rief er ihr zu.
Zunächst konnte sie sich keinen Reim darauf machen, aber er brachte sie aus dem Tritt. Nach weiteren fünfhundert Metern bekam sie Seitenstechen und musste gehen. Während sie durchschnaufte, um das Stechen loszuwerden, arbeitete ihr Verstand fieberhaft. Warum hatte Ojan an der Abzweigung gestanden? Es war doch klar, wo der Weg langging. Das Trassierband war auch überflüssig. Sie kam nicht drauf, und als eine weitere Läuferin sich ihr näherte, nahm sie wieder Laufschritt auf. Sie wollte nicht die Letzte werden.
Auf dem letzten Anstieg zurück zum Gymnasium gab Sabrina noch einmal alles. Den ganzen Weg über hatte sie die Sorge um Elisabeth angetrieben, die eindeutig nicht sie selbst gewesen war. Sie konnte sich noch immer keinen Reim auf Ojan machen.
Auf die Zielgerade lief sie bei Weitem nicht als Letzte ein. Sie sah verbissen nach vorne, als sie die vielen Menschen erblickte. Ihre Mutter winkte direkt vorm Ziel, schrie und feuerte sie auf ihren letzten Metern an. Theobald stand neben ihr und rief auch, aber er sah irgendwie bekümmert aus, ja er schaute an Sabrina vorbei, ganz so, als erwarte er jemand anderen. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Er war in der Mädchenumkleide gewesen. Der Trank! Er hatte vermutlich irgendwas daran gedreht. Als sie über die Ziellinie lief, hielt sie nicht an. Sie rannte an den ausgestreckten Armen ihrer Mutter vorbei, packte Theobald und schob ihn durch die Menge.
»Was hast du mit Elle gemacht?«, herrschte sie ihn an, während sie ihn hinter eine Hausecke schob. Theobald bekam so einen riesigen Schreck, als Sabrina wie eine Furie auf ihn eindrang, dass er erst kein Wort hervorbringen konnte. Sabrina ohrfeigte ihn, gleich dreimal hintereinander, bis er in Tränen ausbrach.
»Ja, ja, ich ergebe mich, hör auf. Ich mache mir doch auch schreckliche Sorgen.«
»Gib das mit dem Trank zu! Du warst in der Umkleide.« Energisch stemmte Sabrina ihre Hände in die Hüften. Der Schweiß rann ihr in Sturzbächen hinab, aber sie merkte es nicht, weil sie nur noch wütend war.
»Ja, doch, ich gestehe! Aber ich kann mir nicht erklären, was passiert ist. Ich habe doch alles mehrfach durchgerechnet und eine neue Variante meines Boosters mit Elles Trank gemischt. Es hätte wirken und sie kontrolliert stärken sollen. Sie hätte schon längst da sein müssen. Sie ist nicht angekommen, meine ich.«
Jetzt schwante Sabrina, was das blöde Grinsen vorhin von Ojan bedeutet hatte. Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
»Ich bin so blöd. Die haben sie auf den Waldweg nach Wildemann geschickt, diese Schweine. Ich muss zu Herrn Burglos. Elle läuft in die falsche Richtung und dreht vermutlich gerade durch oder bekommt einen Schock, weil sie ihren Trank nicht hat. Wenn ihr auch nur eine Kleinigkeit passiert ist, dann wirst du dafür bezahlen, Theobald Binsenkraut.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief los, um ihren Sportlehrer zu suchen. Theobald ließ sie wie ein Häufchen Elend in sich zusammengesackt an der Mauer zurück. Doch schon bald kam er ihr nach.
Als Sabrina Theobald entdeckte, blickte sie ihn wütend an, aber er kam auf sie zu und sagte: »He, es tut mir wirklich schrecklich leid. Lass mich auch helfen.« Dabei sah er so jämmerlich aus, dass sie gegen ihren Willen weich wurde.
Sabrina zögerte noch einen Moment, dann entschied sie: »Gut, wir brauchen jeden, der helfen will. Frau Wollner kommt gleich mit dem Auto, meine Mutter bleibt hier und Herr Burglos läuft die Runde mit einem Kollegen nochmal ab. Der kommt in fünf Minuten her, zieht sich nur noch schnell die Laufschuhe an. Ojan ist nicht da und Vinzenz und Alim sind auch verschwunden. Ich habe den Erwachsenen gesagt, dass Ojan sich vermutlich einen Spaß erlaubt hat, aber ich wette, die anderen beiden stecken mit ihm unter einer Decke – wie immer.« Dann wandte sie sich an ihre Mutter. »Mama, Theo und ich laufen die Strecke rückwärts ab, dann geht es schneller, falls sie den Weg wiedergefunden hat und von dort kommt. Ich nehme mein Handy mit.« Ihre Mutter, die immer noch telefonierte, nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Dann liefen beide los.
Der Testlauf – Elisabeth
Elisabeth schluckte ohne nachzudenken eine erhebliche Menge des Trankes, den ihr Sabrina gerade unter der Toilettentür durchgereicht hatte, bevor sie feststellte, dass der Geschmack nicht stimmte. Er war schon immer eklig gewesen, aber diesmal hatte er sie im Nachgeschmack an den Booster von Theobald erinnert. Und prompt hatte die Wirkung eingesetzt. Theobald musste ihren Trank mit einer neuen Variante seines Boosterzeugs gemischt haben. Er war schon die ganze Zeit darauf erpicht gewesen, mehr über den Trank zu erfahren, und letztens war doch eine weitere Flasche verschwunden, obwohl Elisabeth sich sicher war, sie nicht verloren zu haben. Die Wirkung übermannte sie. Jedes Geräusch um sie herum wurde übermäßig laut, so wie das Strömen des Wassers in den Rohren. Das Kribbeln schoss aus ihrem Magen in alle Körperteile und lies sie zittern und ihre Muskeln flattern.
Mistkerl! Sie wurde in einer Art wütend, die sie vorher nicht gekannt hatte. Von draußen hörte sie kurz darauf überdeutlich die Aufrufe zum Start. Der Lauf würde bald losgehen. Sabrina wartete sicher schon auf sie. Verzweifelt grub sie die Fingernägel in die Hände. Der Schmerz half ihr, den Kopf etwas klarer zu bekommen. Sie schlug gegen die Wand, Schmerz explodierte in ihrer Hand und die Haut platzte auf. Wieder und wieder drosch sie dagegen, bis die Fliesen sprangen und von der Wand fielen, doch jetzt hatte sie fast wieder einen klaren Kopf. Sie riss die Klotür auf und schlug sie hinter sich so heftig zu, dass sie aus den Angeln brach. Sie würde laufen und dann würde jemand leiden. Theobalds Gesicht erschien in ihrem Geist und sie kanalisierte ihre Wut auf ihn, ja sie würde ihn einholen und auf dem Weg zusammenschlagen, bis er wimmerte.
Hauser ging schnell zurück zu seinem Jeep. Sein Besuch bei Jennifer war aus mehrerlei Sicht schockierend gewesen. Das Haus verfiel zusehends, sie war sichtlich gealtert und trank viel. Er hatte es gerochen, als sie ihm die Tür aufgemacht hatte. Ihr Schock, ihn wiederzusehen, hatte prompt zu einem Kreislaufzusammenbruch geführt. Er hatte sie aufgefangen und hineingetragen. Dann hatten sie doch versucht zu reden. Aber am meisten hatte ihn getroffen, als sie ihm eröffnete, dass er ein Kind hatte. Er und Vater? Sie hatte es ihm nie geschrieben. Als er nicht so reagierte, wie sie es wohl gehofft hatte, hatte sie ihn nur noch beleidigt und angeschrien, wo er all die Jahre gewesen war. Vorsichtig hatte er versucht, ihr zu erklären, dass er jetzt ungewöhnlichen Geschichten nachjagte und darüber Artikel schrieb. Doch sie hatte das als Spinnerei abgetan. Er hatte von ihr nicht einmal erfahren, wie das Kind hieß. All das hatte er in der Folgezeit recherchiert. Diese Spur hatte ihn hierher geführt, an diese Schule. Sein Kind nahm an diesem Lauf teil und es erfüllte ihn mit Vaterstolz, zu sehen, dass es so sportlich war. Bis eben hatte er darüber nachgedacht, bis die Mädchengruppe losgelaufen war. Der Start des großen, blonden Mädchens, die als Letzte zu den Läuferinnen getreten war, hatte ihn in seinen Bann gezogen. Er würde an eine andere Stelle fahren und von dort nochmal beobachten.
Wie im Rausch rannte Elisabeth im Sturmlauf über den Parcours und nahm links und rechts nur vage Gestalten wahr. Sie hatte eine Beute und würde sie jagen. Als sie in den Wald kam, verlief das Absperrband nach rechts. Ojan stand einsam mit einer Art Lotsenkelle da und wies sie weiter. Dass er höhnisch grinste, registrierte sie nicht.
Ein Beobachter im Schatten der Bäume hatte gesehen, wie der Junge das Trassierband gelöst und mitten über den Laufweg gespannt hatte, nachdem die letzten beiden Jungen vorbeigelaufen waren. Der eine hatte ihm zugerufen, dass sie die Letzten seien, aber er sich beeilen solle. Jetzt kam eine einsame Läuferin näher. Es war sie. Sie lief schnell und elegant. Der Junge wies sie auf den falschen Weg und sie bog ab. Er führte nach Wildemann ins Tal und war viel länger als der andere Weg, den er selbst vorher inspiziert hatte.