Harzmagie. Jürgen H. Moch
wollen. Aber das war nach hinten losgegangen, weil er es gemerkt hatte.
Wenn Theresa nicht komplett falsch gestoppt hatte, was beim manuellen Messen schon mal 0,5 Sekunden ausmachte, dann war da jemand gerade mindestens weiblichen Weltrekord gelaufen und wusste es nicht einmal. Der lag irgendwo bei 10,49 Sekunden auf hundert Meter, wie er noch wusste. Er musste unbedingt mit Elisabeth sprechen.
Inselzuflucht
Die Sonne ging langsam über dem Horizont unter. Sie warf ein malerisches Licht in Orange, Rot und Gelb an die Wolken. Der frische Wind aus Nordwesten roch nach Salz. Ein letzter Fahrradfahrer radelte die Strecke vom Leuchtturm auf Wangerooge zurück zum Ort. Er kam an der alten Frau auf der Bank vorbei und grüßte mit einem fröhlichen »Moin!«. Die Alte nickte nur und blickte weiter hoch zu den Möwen, die sie schon die ganze Zeit beobachtete. Als der Mann schließlich vorbeifuhr, holte die Frau einen Kristall aus ihrer Tasche und fuhr vorsichtig über die leicht beschädigte Oberfläche. Sie hätte ihn im Teutoburger Wald fast verloren, aber es war nur ein kleiner Splitter abgeplatzt. Der Zauber, der die Energie ins Innere band, funktionierte immer noch einwandfrei. Seit mehreren Tagen hatte sie ihren Standort gewechselt und war nie länger als vier Stunden an einer Stelle geblieben. Sie hatte haufenweise Alarmzauber und Fallen hinterlassen. In den ersten Tagen waren die Jägerinnen ihr ständig auf der Spur gewesen, doch nie wieder war ihr jemand so nah gekommen, wie diese verfluchte Anna Binsenkraut. Aber sie befand sich nicht mehr unter den Jägern. Dafür hatte Borga schon vor langer Zeit gesorgt. Ihre Verbündete im Hohen Rat hatte sie gleich nach dem Vorfall wieder in den Harz zurückgeschickt, um sie von ihr abzulenken. Dennoch würde sie weitere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssen.
Der formschöne Kristall in ihrer Hand war fast vollkommen leer. Sie seufzte. Dieser und der zweite, den sie schon aufgebraucht hatte, waren ihre besten Stücke. Er würde sich aber schnell wieder füllen, denn die Kraftquelle, mit der ihn der Zauber verband, war ungewöhnlich stark. Doch das würde einige Stunden dauern.
Auf der Insel war sie vor den meisten Ortungszaubern auf natürliche Art und Weise geschützt. Die letzte falsche Spur, die sie gelegt hatte, führte nach Rumänien. Ein beliebter Zufluchtsort für gesuchte Kreaturen. Dort würden die Jägerinnen eine Weile lang beschäftigt sein. Doch eine Sache gab es noch zu tun. Sie nahm den Kristall in die Hand und ließ die gefangene Energie in sich strömen. Es erfrischte sie, als die magische Energie ihre eigenen Kräfte verstärkte. Dann rief sie die Möwen zu sich herunter. Der Zauber, den sie wob, war nicht einfach, aber er würde ihr Dutzende zusätzliche Augen verschaffen. Mochten die Jägerinnen sich auch noch so gut wappnen, bei so vielen kleinen Helfern würde es fast unmöglich sein, sich unbemerkt auf die Insel zu schleichen.
Als der Zauber vollendet war, testete sie ihn, indem sie die Augen schloss und in den Geist einer Möwe wechselte. Der Blickwinkel war anders als der von Menschen, doch sie kannte das breitere Sichtfeld bereits von früheren Experimenten. Dann wechselte sie die Möwen durch. Es klappte. Zufrieden mit sich legte sie den Kristall in ihre Tasche zurück, wo noch eine ganze Reihe anderer lagen. Dann erhob sie sich und ging zu dem alten unscheinbaren Schuppen, der etwas abseits des Weges stand. Er sah von außen nicht aus, als wäre hier mehr als nur etwas Gerätschaft untergebracht. Die Verfolger waren weit genug weg. Sich mit Magie wach zu halten, ging zwar, aber man regenerierte sich nicht und das merkte sie jetzt. Sie würde nach vielen Tagen endlich einmal sich hinlegen können. Schlaf! Dieser Körper brauchte endlich Schlaf!
Rund um die Okertalsperre
Das Wetter war einmal ausnehmend schön. Es hatte einige Zeit gedauert, bis Elisabeth und Sabrina wieder joggen gehen durften. Erst als Frau Schubert sich bereiterklärt hatte, sie jeweils zum Joggen zu fahren und wieder abzuholen, hatte auch Emilia Wollner endlich zugestimmt. Theobald hatte nicht so ein Glück gehabt. Seine Mutter hatte ihm haufenweise Arbeit aufgehalst, die ihn daran hinderte, mitzukommen. Aber so ganz unrecht schien es ihm nicht zu sein, denn er hatte nach dem Sprinten in der Schule immer noch Probleme mit seinen Waden.
»Richtig glücklich wirkst du gerade nicht«, bemerkte Elisabeth zu Sabrina, die langsam neben Elisabeth hertrabte und offensichtlich kämpfen musste.
»Ich habe dir doch das Kleid gezeigt, in das ich einmal hineinpassen will. Es ist so wunderschön, aber der Riss geht tief. So gut kann ich nicht nähen und du auch sicher nicht. Ich habe die Reparaturkosten gestern bei der Änderungsschneiderei Gerster schätzen lassen. Das werden so hundertachtzig bis zweihundert Euro. Dafür muss ich lange sparen.«
»Sie es mal so: Jetzt hast du gleich zwei Gründe, um abzunehmen. Kein Geld mehr für Süßigkeiten ausgeben und mit mir laufen. Die AG bei Herrn Burglos ist diese Woche ja ausgefallen, genauso wie sein Unterricht.«
Sabrina nickte. »Die Schramm sagte, er müsse schon wieder zu einem Seminar nach Bonn und es gäbe keinen Vertretungslehrer. Wenigstens konnten wir so deiner Ma das Lauftraining als Ersatzunterricht verkaufen.«
»Deine Mutter ist eine echte Verbündete! Ich glaube, ohne sie hätten wir das nicht geschafft«, warf Elisabeth ein. »Dass ich dafür mit dir Mathe und die anderen Fächer pauken muss, ist ein hoher Preis. Du bist eine gute Lehrerin, Brina, und ich eine schlechte Schülerin.«
»Finde ich gar nicht. Wir haben in wenigen Tagen zwei Monate an Schulstoff aufgearbeitet. Mir hilft das Wiederholen ja auch. Das wird schon mit dir. Beim Laufen werden wir auch immer besser und ich halte jedes Mal ein Stück weiter durch.«
»Du hast den Weg um die Okertalsperre nur ausgesucht, weil der fast komplett flach verläuft. Außerdem sind mir hier zu viele Jogger unterwegs.«
Sie liefen eine Weile schweigend weiter und genossen den Ausblick. Martha Schubert hatte sie früh abgeholt. Sie wollte dann zu einer Tante weiterfahren, die irgendwo bei Wernigerode lebte.
Die Talsperre war erstaunlich leer. Man konnte noch gut erkennen, wie hoch früher das Wasser gestanden hatte. Aber einerseits regnete es nicht mehr so viel wie früher und es wurde auch viel Wasser abgelassen für die Kajakfahrer, die unterhalb der Talsperre auf der Oker trainierten. Eine Verschwendung von gutem Trinkwasser, befand Sabrinas Mutter, und mit dieser Meinung blieb sie in der Gemeinde nicht allein. Dass es schon lange nicht mehr viel Wasser im Stausee gab, konnte man auch daran erkennen, dass die freigelegten Flächen wieder voll begrünt waren. An einigen Stellen begannen schon Sträucher zu wachsen.
»Wollen wir wirklich am Harzlauf teilnehmen? Ich meine, das ist einmal komplett quer über den Harz und vor allem bis rauf auf den Brocken und wieder herunter«, durchbrach Sabrina schließlich wieder das Schweigen.
»Warum nicht? Sicher, das ist nicht ohne, aber der Lauf ist ja erst im nächsten Juni. Bis dahin fließt noch viel Wasser die Innerste herunter. So sagt man hier doch, oder?«, gab Elisabeth zur Antwort.
»Letztes Jahr hat ein Junge aus Wolfshagen gewonnen. Ist so in unserem Alter, denke ich. Albert Wolfsherr. Der Vorname ist ein wenig angestaubt, aber den Nachnamen finde ich cool«, resümierte Sabrina weiter. »Ich habe ihn gesehen, wie er durch Clausthal durchlief. Genauso ein schneller Läufer wie du, sieht aber wie ein Zehnkämpfer aus und ist richtig sexy.«
Elisabeth zwinkerte ihr zu. »Der hat es dir angetan, was?«
»Schon irgendwie, aber so einen kriege ich nicht ab. Ich finde, der sieht noch besser aus als Herr Burglos. Aber er ist nicht auf der regulären Schule, sondern er soll auf so ein elitäres Privatinternat gehen und ist bestimmt völlig eingebildet. Aber sein Körper ist einfach himmlisch. Ich würde mich von dem sofort flachlegen lassen.«
Elisabeth rollte nur mit den Augen. Sabrina redete für ihren Geschmack manchmal etwas vulgär und hatte offenbar keine Skrupel, ihre Gedanken auszusprechen, auch die, die Elisabeth nie preisgegeben hätte.
Genau in dem Moment holte sie ein anderer Jogger ein, der im Gegensatz zu ihnen schnell unterwegs war.
»Na die Damen, das freut mich aber,