Der Storykiller. Philipp Probst
würde er sogar mal den Sprung zu einer Zeitung in Deutschland schaffen.
Er schrieb Mara, dass er auf dem Faulhorn bleiben müsse.
Mara simste zurück, dass dies zwar schade, aber in Ordnung sei. Sie würde ihn vermissen, wünsche ihm aber viel Erfolg für die Story.
Alex schrieb: «vermisse dich auch sehr».
Aber das tat er nicht.
BUONAS, GEMEINDE RISCH AM ZUGERSEE
Die Pool-Party in der Lemmovski-Villa endete mit Tränen.
Als Emma Lemmovski vor einer halben Stunde von ihrem Besuch bei der «Aktuell»-Redaktion in Bern zurückgekommen war, hatte sie sich kurz am Schwimmbecken gezeigt. Die Stimmung war zu diesem Zeitpunkt fröhlich und ausgelassen. Weder ihre Söhne noch die fünf anderen Kinder nahmen gross Notiz von ihr. Sie spielten eine Art Wasserball, jedenfalls balgten sich sämtliche Kids um den Ball, rissen und zerrten daran, tauchten ab und wieder auf. Da Emma sah, dass alles in Ordnung war und Jana, ihr Kindermädchen, die Lage beobachtete, zog sie sich in ihr Büro zurück. Sie war nicht der Typ Mutter, der sich ins Spiel der Kinder einmischte.
In ihrem Büro checkte sie die Mails, beantwortete sie und zappte danach auf die «Aktuell-Online»-Page.
Aufgemacht war natürlich die Jasper-Story.
Titel: «Jaspers Tod noch immer ein Rätsel»
Emma Lemmovski wurde ein wenig unruhig, weil sie wieder wilde Spekulationen befürchtete. Doch der Artikel war neutral gefasst. Ein Polizeisprecher wurde zitiert. Die genaue Unfallursache sei zwar nach wie vor nicht geklärt, aber nach dem Stand der Ermittlungen müsse man davon ausgehen, dass Jasper sehr unglücklich gestolpert oder ausgerutscht sei und dann das Gleichgewicht verloren habe. Fremdeinwirkung könne praktisch ausgeschlossen werden. Ob Jasper ein gesundheitliches Problem gehabt habe, könne noch nicht gesagt werden.
Danach folgte eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse. Aufgemacht war der Text mit Fotos der Unglücksstelle von oben, die offenbar ein Agenturfotograf aus einem Helikopter geschossen hatte.
Ein zweites Foto zeigte Alfred Jasper. Emma Lemmovski klickte darauf und wurde zu einer Diashow geführt, die 15 Bilder aus Jaspers Leben zeigte.
Neben dem Hauptartikel war ein zweiter Bericht.
Titel: «Wege sind sehr sicher»
Text: «‹Aktuell›-Reporter schritten den Weg, den Alfred Jasper am Sonntag wohl zuletzt gegangen war, heute ab. Sie konnten sich davon überzeugen, dass die Bergwege zwar schmal und steil, aber in bestem Zustand sind. ‹Es müssen wirklich sehr unglückliche Zufälle zusammengekommen sein, die zu diesem schrecklichen Sturz geführt haben›, berichtet Reporter Alexander Gaster exklusiv von der Unfallstelle. ‹Die Wanderung ist als schwierig gekennzeichnet, doch Jasper war gut ausgerüstet und ein sehr erfahrener Berggänger.›»
Emma Lemmovski fand diesen Text in Ordnung, obwohl er für sie rein sprachlich keine Meisterleistung darstellte. Aber mit den Online-Texten war sie nachsichtig, diese mussten vor allem schnell aufgeschaltet werden.
Bebildert war dieser Artikel mit den Fotos von Henry Tussot. Auch das betrachtete Verlegerin Emma Lemmovski als gelungen.
Weniger Freude hatte sie an einer Box beziehungsweise einem Link, der zu einem kurzen Film führte.
Titel: «So volksnah war Alfred ‹Fredu› Jasper»
Der Clip zeigte Alfred Jasper ausgelassen in einer Gartenwirtschaft, wie er ein Bier trank und mit anderen Gästen schwatzte und lachte. Das Filmchen war offenbar ein Ausschnitt aus einem längeren Fernsehfilm, der gedreht worden war, als Alfred Jasper zum Nationalratspräsidenten gewählt wurde. Das war vor fünf Jahren gewesen, Emma erinnerte sich daran. Denn sie und ihr Ehemann David waren damals zur Feier in Jaspers Wohnort Bönigen eingeladen. Jasper war, wie in der Schweiz üblich, nur ein Jahr lang Präsident. Ein fleissiger Web-Redakteur hatte wohl diesen TV-Beitrag ausgegraben, eine Sequenz ausgeschnitten und ins Netz gehängt.
Na ja, dachte Emma, Online-Journalismus.
Ein weiterer Artikel befasste sich mit Jaspers politischem Schaffen. Dieser Text stammte nicht von Politik-Chef Haberer, sondern war ein Bericht der Schweizerischen Depeschenagentur, was Emma erstaunte, aber nicht weiter beschäftigte. Dann kam ihr in den Sinn, dass Haberer schon an der Morgenkonferenz nicht anwesend gewesen war. Dies war zwar nicht aussergewöhnlich, sie nahm sich trotzdem vor, sich später bei Chefredakteur Muller über Haberer zu erkundigen.
Zum Schluss wollte sie noch die Schlagzeilen der anderen Themen lesen, doch plötzlich schrien die Kinder.
Sie rannte sofort zum Pool.
Kein Kind war mehr im Wasser. Mehrere weinten, die andern plapperten durcheinander. Jana versuchte, die Kinderschar zu beruhigen.
Als Jana Emma erblickte, rief sie: «Im Wasser liegt eine tote Ratte!»
Tatsächlich, Emma sah sie nun auch. Das Tier lag mitten im Becken auf dem Grund.
«Geh mit den Kindern ins Haus», sagte Emma zu Jana. «Sie sollen sich abtrocknen und anziehen. Danach kannst du ihnen Tee oder Schokolade geben.»
Die Kinder folgten Jana und beruhigten sich.
Emma Lemmovski zog ihre Schuhe, den Hosenanzug und die Bluse aus. Nur mit ihrem weissen BH mit Blumenmuster und dem dazu passenden String bekleidet, stieg sie in den Pool, tauchte unter und kletterte wenige Sekunden später aus dem Becken. In der rechten Hand hielt sie die Ratte am Schwanz. Jemand hatte dem Tier eine Schnur um den Hals gebunden und einen kleinen Stein daran befestigt. Mit schnellen Schritten lief Emma zu den Blumen- und Gemüsebeeten, warf die Ratte auf den Kompost, holte sich danach ihre Kleider und verschwand im Haus.
Im Bad schnappte sie sich ein Frotteetuch, wickelte es um ihre Taille und ging in die grosse Küche, wo die Kinder Tee und Schokolade tranken und Feingebäck verschlangen.
«Hi Kids!», rief Emma. Aus ihren Haaren tropfte das Wasser und klatschte auf den weissen Küchenboden. «Na, habt ihr den Schock verkraftet?»
«Das war nicht so schlimm!», rief Emmas Sohn Marcel.
«Ist die Ratte tot?», fragte ihr jüngerer Bub Rudolf.
«Ja, keine Angst, die kommt nicht wieder», sagte Emma.
Die anderen Kinder schwiegen, sie schauten Emma bloss an.
«Nun, was wisst ihr denn über die Ratte?», fragte Emma. «Habt ihr gesehen, wie sie ins Schwimmbad gefallen ist?»
«Nein», riefen alle.
Bis auf Marcel, den Emma im Auge behielt.
«Tja, die hatte wohl auch heiss, konnte aber nicht schwimmen», sagte Emma. Die Kinder lachten.
Bis auf Marcel.
Um 16.45 Uhr schickte Emma Lemmovski die Nachbarskinder nach Hause. Marcel und Rudolf mussten auf ihre Zimmer gehen, um die Hausaufgaben zu machen.
Emma Lemmovski wechselte die Unterwäsche, zog Jeans und ein T-Shirt an und rief danach von der Küche aus die «Aktuell»-Redaktion an. Da Chefredakteur Muller nach zweimal Klingeln nicht abnahm, was Emma fürchterlich nervte, wählte sie die Nummer des stellvertretenden Chefredakteurs Christian Reich. Dieser nahm sofort ab.
«Ja, Frau Lemmovski?»
«Ist der Artikel über Jasper schon fertig?», fragte Emma.
«Nein, das dürfte schon 19 Uhr werden.»
«Gut. Mailen Sie ihn mir bitte.»
«Natürlich.»
«Und sagen Sie Renner nichts davon.»
«Natürlich.»
«Ist Haberer mittlerweile aufgekreuzt?»
«Nein. Soll ich ihm etwas ausrichten?»
«Nein, danke.»
Wenig später klopfte