Der Storykiller. Philipp Probst
nicht ganz vergebens.
«Ich brauche endlich einen verdammten Aufmacher», murmelte Alex wenig später, als sie wieder unterwegs waren.
«Was hast du gesagt?», fragte Henry.
«Ach nichts.»
Dann piepste Alex’ Handy. Renner hatte die Koordinaten der Unfallstelle geschickt. Alex übertrug sie ins GPS-Programm, Sekunden später erschien auf dem kleinen Bildschirm die Karte.
«Hey, Henry, ich denke, wir sind gleich da.»
«Endlich», sagte Henry Tussot, «ich breche gleich zusammen!» Denn neben seiner Fotoausrüstung hatte er auch noch seinen Laptop dabei, da er die Bilder sofort schicken musste und nicht erst, wenn sie wieder unten im Tal waren.
Plötzlich hörten sie wieder einen Helikopter.
Dann Schüsse.
REDAKTION «AKTUELL», WANKDORF, BERN
Sandra Bosone kam nicht darum herum. Renner hatte schon dreimal nach dem Stand ihrer Recherche gefragt. In der letzten Mail hatte er noch die Hunde-News von Alex durchgegeben mit dem Hinweis, sie solle Frau Jasper danach fragen und sie bitten, ein Foto des Tieres zu senden. Nun musste sie die Witwe anrufen.
Sie hasste solche Telefonate. Angehörige eines Toten zu interviewen, machte niemand gern. Ältere Kollegen, die längst die Abteilung gewechselt hatten, im Politik- oder Wirtschaftsressort arbeiteten oder als Produzenten, brüsteten sich gern damit, wie sie früher als «Witwenschüttler» Trauernde zum Reden gebracht hatten. Einfach ein paar Blumen kaufen, zu den Angehörigen fahren und an der Türe sein aufrichtiges Beileid kundtun. Dies habe immer funktioniert, erzählten sie grossartig.
Natürlich wussten alle, dass dies nicht so einfach war. Einfach kurz von Bern ins Oberland düsen, nach Bönigen bei Interlaken, wo die Jaspers wohnten, an der Haustüre klingeln und dann eine Absage erhalten – das lag zeitlich nicht drin. Sie waren zwar eine personell gutdotierte Redaktion, aber auch sie mussten wie alle anderen Zeitungen sparen. Also musste das «Witwenschütteln» erst mal am Telefon beginnen. Später, wenn die Jasper mitmachen würde, könnte man immer noch einen Fotografen vorbeischicken, um zu einem Herzschmerz-Bild zu kommen.
Sandra Bosone las noch einmal die Artikel über die Familie Jasper durch, die bisher erschienen waren. Es war eine recht umfangreiche Dokumentation, die sie von der Schweizerischen Mediendatenbank im Web heruntergeladen hatte.
Sandra wurde nervös. Sie hasste das wirklich. Als sie mit dem Publizistikstudium begonnen hatte, hatte sie sich geschworen, so etwas nie zu tun. Sie fand es unmoralisch, mies, billig. Sie könnte Renner ja sagen, dass sie das nicht machen wolle. Nicht machen würde. Aus ethischen Gründen. Dann würde jemand anderes anrufen und möglicherweise Erfolg haben. Es war schliesslich so einfach, wie die gestandenen Reporter immer zu prahlen pflegten.
Früher war es vielleicht einfach, sagte sich Sandra. Da konnten Reporter tricksen, sich als Sanitäter oder sonstige Wohltäter ausgeben, da war bei Unglücken und Verbrechen die Polizei noch nicht so darauf bedacht, Journalisten fernzuhalten. Es gab auch weniger von diesen blutrünstigen Fotografen, Kameraleuten und Reportern. Heute wurden die Opfer sofort abgeschirmt und psychologisch betreut. Bei grossen Unglücken wie Eisenbahnunfällen oder Felsstürzen standen mittlerweile ganze Heerscharen von Psychologen auf dem Platz. Journalisten hatten gar keine Chance mehr, an Opfer oder Angehörige heranzukommen.
Aber dieses Philosophieren brachte Sandra Bosone nicht weiter.
Sie nahm einen grossen Schluck Wasser aus der Flasche, atmete tief durch und ergriff den Telefonhörer. Das Display des Telefons zeigte 13.53 Uhr. Sie wählte Jaspers Privatnummer.
Es klingelte dreimal.
«Ja, bitte, wer ist da?», sagte ein Mann mit einer ziemlich hohen Stimme.
«Ich bin Sandra Bosone vom ‹Aktuell›. Mit wem spreche ich, wenn ich fragen darf?»
Sandra gab sich betont freundlich und einfühlsam. Einige Kollegen im Grossraumbüro schauten bereits zu ihr hinüber, da Reporter solch übermässige Freundlichkeit nur bei ganz schwierigen Telefonaten an den Tag legten. Normalerweise war der Interview-Ton der Journalisten sehr sachlich, damit sie sich später nicht vom Befragten vorwerfen lassen mussten, sie hätten sich eingeschleimt.
«Ich bin Leon Jasper, der Sohn des verstorbenen Alfred Jasper.» Leon Jasper klang seltsam, fand Sandra. Sie kannte zwar den melodiösen Dialekt der Berner Oberländer, doch weil Leon Jasper eine so hohe Stimme hatte, tönten seine Worte mehr wie Gesang.
«Mein herzliches Beileid.»
«Danke. Wir stehen für Interviews nicht zur Verfügung. Ich bitte Sie, sich mit der Partei meines Vaters in Verbindung zu setzen.»
Damit hatte Sandra gerechnet: «Wir wollten nur unsere aufrichtige Anteilnahme ausdrücken und fragen, wie die Familie mit diesem Schicksalsschlag umgeht.»
Sandra wusste genau, dass ihre Reporterkolleginnen und -kollegen ihr zuhörten und nun wohl Grimassen machten. Heuchelei gehörte manchmal zum Job. Und um damit klarzukommen, nahmen sich die Journalisten gegenseitig hoch und äfften einander nach.
Leon Jasper sagte nichts.
«Hallo?», sagte Sandra leise.
«Wir sind erschüttert und sehr traurig», antwortete Leon Jasper.
Sandras Herz klopfte heftig. Na bitte, dachte sie, ein Quote, ein Zitat, vielleicht sogar die Seite-1-Schlagzeile!
«Ihre Mutter war ja beim Unglück …»
«Nein, sie war nicht dabei», unterbrach Leon Jasper sie bestimmt, eine Melodie war trotz seines Dialekts kaum mehr zu erkennen. «Sie haben dies ja bereits geschrieben und meinem Vater Unterstellungen gemacht. Ich bitte Sie, uns nun in Ruhe zu lassen.»
«Natürlich», sagte Sandra und machte das Gegenteil, denn immerhin hatte sie gerade die Bestätigung aus ihm herausgekitzelt, dass Alfred Jasper nicht mit seiner Frau auf der Wanderung gewesen war. Also würde sie vielleicht noch mehr aus ihm herauskriegen, wenn sie das Gespräch in die Länge ziehen konnte.
«Sie verstehen sicher», fuhr sie fort, «dass wir einen solch beliebten Politiker, wie Ihr Vater es war, in gebührender Weise ehren möchten und deshalb …»
«Ja, dafür danken wir Ihnen auch», unterbrach Leon Jasper sie erneut. «Nun möchte ich Sie …»
«Ist Herr Jaspers Hund eigentlich wieder aufgetaucht?», fragte Sandra forsch. Denn sie spürte, dass Leon Jasper demnächst auflegen würde.
«Was wissen Sie über Rolf?», fragte Leon Jasper schnell.
Sandra war perplex. Sie hatte diese Frage nicht erwartet und war zudem über den Namen erstaunt. Rolf. Hiess Jaspers Hund Rolf? Sie musste nachfragen.
«Ah, der Hund heisst Rolf?»
«Ja, er war mit meinem Vater auf der Tour und ist verschwunden», erzählte Leon Jasper nun wieder im Singsang seines Dialekts. «Vielleicht ist er so verstört, dass er sich irgendwo verkrochen hat oder herumirrt.»
Nun hatte sie ihn, da war sich Sandra sicher.
«Wir können ihn suchen», sagte sie.
«Wie denn?», fragte Leon Jasper überrascht.
«Wir schreiben morgen in der Zeitung, dass alle Wanderer nach Rolf Ausschau halten sollen. Am besten würden Sie uns ein Foto von Rolf mailen.»
Sandra hörte, wie Leon Jasper die Sprechmuschel des Telefons mit der Hand abdeckte und jemanden im Hintergrund nach dessen Meinung fragte.
«Ja, das können wir machen», sagte Leon Jasper nach einer Weile.
Sandra gab ihre Mail-Adresse an, bedankte sich und wünschte ihm und der ganzen Familie Jasper viel Kraft.
«Wir melden uns sofort, wenn wir eine Spur von Rolf haben», sagte Sandra. «Am besten geben Sie mir Ihre Handynummer.» Leon Jasper gab die Nummer an und verabschiedete sich.
Sandra