Der Storykiller. Philipp Probst
nichts.
«Es ist unterste Schublade. Sie wissen ganz genau, dass solche Mutmassungen nicht in unser Blatt gehören und …»
«Das sind keine Mutmassungen, Frau Lemmovski, das sind Tatsachen», warf Renner ein.
«Ach? Sie wissen nichts, Renner. Sie suggerieren sogar, dass der gute Jasper mit einer fremden Frau unterwegs war, möglicherweise sogar ein Verhältnis mit ihr hatte. Natürlich, Sie sind ja auch immer und überall dabei!»
«Nicht direkt. Aber ich bin mir sicher oder fast sicher, dass …»
«Sie sind sich fast sicher, so, so!»
«Chefredakteur Muller war über alles im Bild.»
Emma Lemmovski stieg vom Rad, nahm das Haarband ab, schüttelte ihre Mähne und schaute einen Moment lang schweigend zum Fenster des Fitnessraums hinaus auf den See. Das beruhigte sie.
«Aha, der Chefredakteur war im Bild», sagte sie dann. «Hören Sie auf, Renner! Wir beide werden das unter uns regeln. Ohne Muller.» Sie hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: «Wie immer, nicht wahr?»
«Natürlich.» Renner gab klein bei.
Emma Lemmovski legte das Telefon weg, zog den Fitnessdress aus und zupfte den rot-grünen Bikini, den sie darunter trug, zurecht. Dann öffnete sie die Schiebetüre zum Garten, ging hinaus und sprang in den Pool.
Sie crawlte Länge um Länge, bis sie einen Kilometer geschwommen war. Wie jeden Tag. Sommer und Winter. Dafür hatte sie mit ihren 39 Jahren und trotz der Geburt ihrer zwei Söhne noch immer eine fast makellose Figur.
Sie stieg aus dem Wasser, beugte sich kopfüber hinunter, bis ihre Haare den Boden berührten. Mit einem kräftigen Ruck liess sie den ganzen Oberkörper nach oben und den Kopf nach hinten schnellen, so dass die Haare ein Rad schlugen. Sie liebte diese Prozedur, und sie liebte es, wenn Männer ihr dabei zusahen. Da die Nachbarn allerdings keinen Einblick in das Grundstück hatten und auf dem See keine Boote waren, tat sie es nun ausschliesslich für sich. Sie liebte ihre Haare, die ihr bis zur Taille reichten. Sie liessen Emma noch grösser erscheinen, als sie ohnehin schon war. Früher, als sie noch ab und zu modelte, waren die Haare ihr Markenzeichen gewesen. Heute nutzte sie sie, um in Sitzungen die männlichen Teilnehmer bei Bedarf erotisch abzulenken.
Nach dem Fitnessprogramm duschte sie, zog einen dezenten beigen Hosenanzug an, föhnte die Haare, schminkte sich, aber dezent, Lidschatten, Lippenstift, ein wenig Wangenrouge. Danach weckte sie ihre beiden Söhne, 12 und 10 Jahre alt. Sie frühstückte mit ihnen und besprach mit ihnen den Tag. Marcel, der ältere, fragte, ob am Nachmittag seine Freunde zu ihm kommen und sie zusammen im Pool baden dürften. Emma stimmte zu und ermahnte Marcel, seinen Bruder Rudolf auch mitmachen zu lassen. Das sei logisch, sagte Marcel und klatschte mit seinem Bruder ein Give-me-Five.
Emma war stolz. Sie lächelte.
Sie begleitete die beiden vor das Anwesen und schaute ihnen noch lange nach, wie sie mit den Fahrrädern in Richtung Schule radelten. Dann ging sie zurück in die Villa, in der die Familie seit einem Jahr wohnte. Im oberen Stock gab es ein grosses Büro. Sie schaltete den Monitor ein, drückte auf dem Telefon die Speichertaste A und wartete ab. Es war kurz vor 07.30 Uhr.
«Liebling, wie geht es dir?» Auf dem Monitor erschien das leicht verzerrte Bild ihres Mannes, David Lemmovski. Er sass in einem Hotelzimmer in Berlin.
«Gut. Wie war dein Flug gestern?»
«Alles prima.»
«Alfred ist tot.»
«Ich habe es gerade online in unserer Zeitung gelesen. Traurig. Der gute Alfred Jasper. Aber immerhin hat Renner einen Primeur landen können.»
«Es ist eine Katastrophe!», sagte Emma aufgebracht.
«Ganz ruhig, Emma. Was ist eine Katastrophe?»
«Diese Story! Schmutzwäsche. Leichenfledderei. Wie peinlich!»
«Aber sie bringt Leser. Und Online-Hits.»
«Ein geschätzter Politiker stürzt auf einer Bergtour in den Tod, und wir schlachten das gnadenlos für Auflagezahlen aus. David, ich bitte dich!»
«Wir brauchen gute Zahlen, Emma, das weisst du.»
«Aber doch nicht auf diese Weise.»
«Hör zu, ich muss jetzt an die Sitzung. Du machst das schon!» David Lemmovski schickte seiner Frau einen virtuellen Kuss zu. Dann brach die Leitung ab, der Monitor wurde schwarz.
«Idiot!», sagte Emma Lemmovski.
Sie lebte seit 13 Jahren in der Schweiz, fühlte sich hier zu Hause. Aber mit gewissen Dingen hatte die gebürtige Deutsche immer noch ihre Probleme. Über Geld und den Tod, so hatte sie festgestellt, wurde in der Schweiz, zumindest in der Deutschschweiz, einfach nicht gesprochen. Die Medien kreierten zwar reisserische Schlagzeilen, doch in persönlichen Gesprächen mieden die Leute das Thema. Selbst mit ihrem Ehemann David konnte sie darüber kaum diskutieren. Alfred war immerhin ein Bekannter ihres Mannes gewesen. Aber sein Tod berührte ihn kaum. Oder er zeigte es eben nicht.
Um 07.45 Uhr rief Emma Lemmovski Chefredakteur Don Muller an. Doch sie bekam nur die Mailbox zu hören.
«Lemmovski hier. Herr Muller, ich erwarte Sie um neun Uhr dreissig zu einer Besprechung in meinem Büro.»
FIRSTBAHN, BERGFAHRT GRINDELWALD-FIRST
«Séb hat mich um halb sieben geweckt. Das gibt es doch gar nicht!»
«Wer ist Séb?», fragte Alex.
«Sébastien. Er selbst wurde von Renner aus den Federn geholt», erklärte Henry Tussot.
Sébastien Constantin war der Bildchef von «Aktuell». Jeder Bildauftrag lief über ihn. Wurde ein Fotograf gebraucht, musste Sébastien einen organisieren. Er stammte, wie Fotograf Henry Tussot, aus der französischen Schweiz. Deshalb sprachen die beiden französisch miteinander.
Henry sprach gut Deutsch, er hatte nur einen leichten Akzent, was bei den Frauen gut ankam. Jedenfalls galt er auf der Redaktion als Filou, obwohl er nicht besonders attraktiv war. Schlaksig, schütteres Haar. Und er lebte ziemlich chaotisch. Aber als Fotograf war er gut.
«Was sollen wir da oben?», fragte Henry.
«Ich weiss es nicht. Ich denke, wir müssen recherchieren, wie es gestern zu diesem Unfall kam.»
Henry hatte keine Ahnung. Er hatte weder Zeitung gelesen noch Radio gehört. Alex erzählte ihm deshalb die ganze Geschichte.
Die Gondel rumpelte durch die Mittelstation. Alex und Henry sassen in einer der ersten Kabinen, die an diesem Tag hochschaukelten. Alex war um 08.39 Uhr mit dem Zug in Grindelwald angekommen und dann durch das Dorf zur Talstation der Firstbahn gerannt. Dort hatte Henry bereits gewartet. Da es Montag war und die Sommerferien in der Schweiz bereits vorbei waren, war der Andrang vor der Kasse nicht so gross gewesen. Es wollten einige Rentner, Bergsportler und vor allem ausländische Touristen hochfahren.
«Nun, Jasper ist tot. Und wir müssen irgendeine Nachfolgegeschichte liefern», beendete Alex seine Zusammenfassung.
«Und was soll ich dabei?», fragte Henry leicht gereizt. «Eine Geröllhalde fotografieren kannst du auch, dazu braucht es mich nicht.»
Mit der Geröllhalde meinte Henry Tussot die Unglücksstelle. Für ihn war der Auftrag alles andere als reizvoll. Er mochte solche Geschichten nicht. Er verstand sich als Fotoreporter und nicht als Boulevard-Fotograf oder gar als Paparazzo. Eine Reportage war für ihn in erster Linie eine Bildstrecke mit Text, eine Geschichte, die in Fotos erzählt wurde, eine Dokumentation mit Bildern, die die Leser beeindrucken sollte.
Henry Tussot checkte nochmals seinen Rucksack mit den diversen Kameras und Objektiven. Alex schaute zum Fenster hinaus und dachte daran, irgendwann mal mit seiner Freundin Mara hierherzukommen. Er war schon lange mit ihr zusammen. Im Gegensatz zu ihm lebte sie immer noch im Wallis. Sie waren bereits ein Paar, als sie den Schulabschluss gemacht hatten. Nachher trennten sich zwar ihre Wege, doch sie