Der Storykiller. Philipp Probst

Der Storykiller - Philipp Probst


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im Berner Oberland. Der bürgerliche Nationalrat Alfred Jasper sitzt auf der Gartenterrasse. Er isst eine Bratwurst mit Kartoffelsalat. Bei ihm sitzen eine Frau und ein offensichtlich befreundetes Paar. Jasper trinkt Süssmost, keinen Alkohol. Berghotelwirt und Hüttenwart Fritz Balmer erinnert sich: ‹Ich kannte Jasper. Ein sehr netter Gast. Er war ausgelassen, küsste seine Frau immer wieder und schrieb sich später im Hüttenbuch ein.›»

      Alex ärgerte sich masslos. Der Hüttenwart! Auf diese Idee hätte er selbst kommen können. Ein Telefonanruf, und er hätte die Story gehabt.

      Doch als er weiterlas, musste er sich eingestehen, dass es doch nicht so einfach gewesen wäre.

      «Als ‹Aktuell› gestern spätabends den Hüttenwart erreichte, wusste Balmer noch nicht, dass Jasper wenige Stunden nach seinem Besuch bei ihm auf dem Abstieg Richtung ‹Schynige Platte› ob Interlaken in ein Tobel gestürzt und verstorben war. ‹Das kann ich nicht fassen›, sagt Balmer. ‹Ich bekam über den Rettungsfunk mit, dass sich ein tragischer Unfall ereignet hatte. Aber so was …›»

      Woher wusste Renner, dass der Tote Alfred Jasper war, fragte sich Alex. Er las weiter.

      «Was nach dem Besuch der Gaststätte passierte, ist völlig unklar. Fakt ist: Um 15.23 Uhr ging bei der Polizei ein Notruf ein. Andere Wanderer hatten den Toten entdeckt und per Handy Alarm geschlagen. Die Retter, die per Helikopter zum Unglücksort geflogen wurden, konnten aber nur noch Jaspers Tod feststellen.»

      Das war der Bericht auf der Frontseite. Die Fortsetzung war auf Seite 2 zu lesen.

      Alex fröstelte. Es war zwar Sommer, aber so früh morgens noch recht frisch. Vor allem war es Alex nicht mehr gewohnt, bereits um diese Zeit unterwegs zu sein. Seit er Journalist war, fingen seine Arbeitstage meistens erst um 9 Uhr an. Und die Spätschicht, die Alex manchmal auch leisten musste, begann um 16 Uhr. Wie er früher in den Semesterferien jeweils schon um 7 Uhr zu irgendwelchen Hilfsjobs bei Fabriken oder Baufirmen hatte antraben können, war ihm mittlerweile ein Rätsel.

      Im Gehen blätterte Alex um und betrachtete Seite 2.

      Sie war ganz dem Unfall am Faulhorn gewidmet. Auf dem unteren Teil der Seite war ein Nachruf zu lesen, illustriert mit vielen Bildern: Jasper an internationalen Konferenzen mit prominenten Politikern aus aller Welt, Jasper mit Familie, Jasper als Bergsteiger und Skifahrer. Geschrieben war der Text von «Aktuell»-Politik-Chef Jonas Haberer. Er hatte sein Büro im Bundeshaus, im Zentrum der Schweizer Politik. Wenn er zu Sitzungen der «Aktuell»-Redaktion kam, liess er mit seinem Auftritt keine Zweifel offen, wer Herr im Haus war. Haberer, der immer Anzug und Cowboystiefel trug und so seine füllige Figur etwas kaschierte, ging jeweils schnurstracks zu Renner. Klack – klack – klack, tönten seine Stiefel auf dem Plattenboden der Redaktion. Er warf den Journalisten ein kurzes, völlig emotionsloses «Hallo» zu, stiess die gläserne Türe des Newsrooms auf und schlug Peter Renner rund 15 Mal auf die Schultern. Die Zecke wurde regelrecht durchgeschüttelt. Dann erzählte Haberer irgendetwas. Beide lachten wie die Irren. Haberers Lachen war dermassen laut, dass die Plexiglasscheiben des Newsrooms vibrierten. Alex, Sandra und die anderen Redaktionskolleginnen und -kollegen waren sich einig: Jonas Haberer sah mit seinen fettigen, halblangen Haaren nicht nur so aus wie ein Kotzbrocken, er war auch einer.

      Aber er war «untouchable». Es wurde oft darüber gerätselt, wieso sich Haberer, der den Journalismus gerne als Machtinstrument missbrauchte, Alleingänge leisten konnte und dabei vom Chefredakteur gedeckt wurde. Deshalb wurde gemunkelt, dass die beiden in der Vergangenheit zusammen was ausgefressen hätten. Doch niemand wusste etwas Konkretes. Chefredakteur Don Muller, der eigentlich Anton Müller hiess, liess niemals Zweifel aufkommen: Haberer war Mitglied der Chefredaktion und der Boss für alles Politische. Punkt.

      Alex schenkte sich Haberers Nachruf. War sicher schwülstig. Er las auch den Kommentar von Chefredakteur Muller nicht. Dass die Schweizer Politik mit Alfred Jasper eine grosse Persönlichkeit verlöre – dies konnte sich Alex auch ohne Mullers Hilfe zusammenreimen.

      Viel mehr Interesse hatte er an Peter Renners Aufmacher. Alex blieb stehen.

      Titel: «Todessturz – wo war Jaspers Frau? Wo waren seine Freunde?»

      Text: «Alfred Jasper war ein guter Berggänger. Etliche Viertausender hatte er bestiegen. Ein einfacher Fehltritt auf einem Wanderweg sollte ihm zum Verhängnis werden. ‹Das kann ich kaum glauben›, sagt ein Bergsteigerkollege, der nicht mit Namen genannt werden will. ‹Der Fredu war immer auf Sicherheit bedacht. Er war immer der Mahner und Zweifler, er war immer derjenige, der alle Gefahren einer Tour aufzählte.›

      Die Polizei bestätigte gestern: Jaspers Ausrüstung war top.

      Erlitt er einen Schwächeanfall? Wo war seine Frau Erika? Wo waren seine Freunde?

      Dafür hatte die Polizei bis gestern abend keine Erklärung. Der Sprecher der Kantonspolizei sagte gegenüber ‹Aktuell› nur: ‹Die Angehörigen wurden kontaktiert.› War die Frau, von der Hüttenwart Balmer überzeugt war, es sei Jaspers Ehefrau Erika, gar jemand anderes? Dazu der Hüttenwart: ‹Seine Ehefrau kenne ich nicht. Aber ich gehe schon davon aus, dass sie es war. Jedenfalls war sie in seinem Alter, graumelierte Haare, sehr schlank, Brillenträgerin, durchaus attraktiv.› Genau wie Erika Jasper. Was war wirklich dort oben auf dem Berg passiert?»

      Alex ging weiter. Schnell. Viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Vor allem einer: Warum hatte nicht er diese Story, sondern Peter Renner? Was hatte er falsch gemacht?

      Er schloss die Haustüre auf, stieg die drei Treppen hinauf, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm, und betrat seine Wohnung.

      Alex betrachtete nun die Doppelseite, sah den Artikel seiner Studienkollegin Sandra Bosone, die mit den veruntreuten Spendengeldern die Seite 3 erobert hatte. Er fühlte sich jämmerlich und begann, Sandras Text zu lesen.

      Nach zehn Zeilen klingelte sein Handy.

      «Hey, Kleiner, habe ich dich geweckt?» Es war Peter Renner.

      «Nein, alles klar. Habe gerade deinen Artikel gelesen. Habe diese Geschichte gestern in den Sand gesetzt, tut mir leid, aber …»

      «Alex, bleib cool», sagte Renner trocken. «Mir ist später einfach noch ein alter Bekannter in den Sinn gekommen.»

      «Was meinst du damit?»

      «Man hat eben seine Vögelchen, die einem manchmal etwas zwitschern.»

      «Aber auf den Hüttenwart hätte ich Trottel …»

      «Alex, du fährst sofort nach Grindelwald», sagte Renner nun im üblichen Befehlston.

      «Okay, wann muss ich dort sein?»

      «Um neun Uhr.»

      «Wo?»

      «Talstation First. Fotograf Henry Tussot wartet auf dich.»

      «Was müssen wir tun?»

      «Erklär ich dir später. Ruf an, wenn ihr oben seid.»

      «Geht es um den toten Jasper?»

      «Erkläre ich dir dann, Kleiner», antwortete Renner hastig. «Muss auflegen, auf der anderen Leitung wartet die Lemmovski.»

      BUONAS, GEMEINDE RISCH AM ZUGERSEE

      «Renner, erklären Sie mir bitte Ihren Artikel», sagte Emma Lemmovski freundlich, aber bestimmt. Sie sass in ihrem Fitnessstudio auf dem Hometrainer, trug einen äusserst knappen Dress und hatte die langen, blonden Haare mit einem blauen Haarband zu einem Rossschwanz zusammengebunden. Obwohl sie zünftig in die Pedale trat, ging ihr Atem ganz ruhig.

      «Eine Exklusivstory», sagte Renner. «Alle Agenturen und Radios zitieren uns. Sogar ausländische Sender.»

      «Darauf sind Sie stolz?»

      «Ehrlich gesagt, ja. Sie wollen doch exklusive Geschichten.»

      «Renner, Sie sind und bleiben eine alte Boulevard-Gurgel», sagte Emma Lemmovski. Sie stellte den Hometrainer auf «Steigung», behielt den Tretrhythmus bei und spürte, wie ihr der Schweiss aus den


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