Der Storykiller. Philipp Probst

Der Storykiller - Philipp Probst


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gewesen. Zumindest wurde es weder von Alex noch von Mara je angesprochen.

      Die Gondel fuhr in die Bergstation ein. Alex und Henry stiegen aus und gingen zum Wanderwegweiser.

      «Wir müssen aber nicht bis zum Faulhorn, oder?», sagte Henry. «Hier steht, das würde zwei Stunden und zwanzig Minuten dauern. Diese Scheisse mache ich nicht mit!»

      «Wart mal ab, ich rufe erst Renner an.»

      Renner nahm wie meistens nach dem ersten Klingeln ab.

      «Wir sind jetzt auf der First», meldete Alex.

      «Gut. Hier ist bereits der Teufel los. Also, du und Henry müsst heute alles geben. Ist Henry überhaupt da?»

      «Ja, klar.»

      So klar war das nicht. Mit den Fotografen war dies so eine Sache. Bildchef Sébastien Constantin hatte keine leichte Aufgabe, das Rudel Individualisten zu führen. So kam es immer mal wieder vor, dass eine Fotografin oder ein Fotograf ausscherte und eigene Pfade beschritt, die der Redaktion nichts brachten.

      «Prima», sagte Renner. «Tussot ist gut für solche Sachen. Also: Erst geht ihr auf das Faulhorn und quetscht den Hüttenwart aus und macht ein Foto mit ihm am Tisch, wo Jasper gestern zu Mittag ass.»

      «Wie heisst der Hüttenwart schon wieder?»

      «Balmer. Ich habe ihn bereits informiert, dass ihr kommt. Er macht mit.»

      «Danke, Peter. Danach gehen wir wohl zur Unfallstelle?»

      «Ja. Ich werde von der Polizei noch die genauen Koordinaten bekommen. Du hast ja auf deinem Handy GPS. Ich werde dir also die Daten per SMS später durchgeben. Dort dreht ihr jeden Stein um, fotografiert alle Spuren, einfach alles, okay?»

      «Ja. Was suchen wir denn?»

      «Keine Ahnung. Verdächtige Gegenstände, Spuren. Blut.»

      «Okay, geben uns alle Mühe.»

      «Danach übermittelt ihr mir so schnell wie möglich einen Infotext und die Fotos. Ich hoffe, dass ihr dies bis 15 Uhr machen könnt.»

      «Geht klar. Bis später.»

      Alex und Henry, der Renner mehrmals verfluchte, machten sich auf den Weg. Sie schlugen ein hohes Tempo an. Der Wanderweg war ausserordentlich breit und gut gesichert. Da das Faulhorn wegen der atemberaubenden Sicht auf die weltberühmten Berge Eiger, Mönch und Jungfrau bei vielen ausländischen Touristen sehr beliebt war, kraxelten hier an schönen Tagen zum Teil Hunderte von Menschen hinauf, viele mit schlechtem Schuhwerk. Auch Alex und Henry waren nicht gerade vorbildlich ausgerüstet: Alex trug immerhin leichte Trekkingschuhe, Henry lediglich Sneakers.

      Bis zum Bachalpsee sprachen sie kein Wort. Sie absolvierten die Strecke in 35 statt der auf dem Wanderwegschild angegebenen 50 Minuten.

      Dann hörten sie einen Helikopter.

      «Warum sitzen wir Idioten eigentlich nicht in einem Helikopter?», fragte Henry genervt.

      «Ich weiss es nicht», antwortete Alex.

      «Das ist doch Scheisse, was wir hier machen!»

      «Komm, beeilen wir uns. Weiter.»

      «Hör mal, Alex, du bist neu bei uns. Also lass dich aufklären von einem, der schon lange im Geschäft ist. Der Renner verarscht uns gewaltig.» Henry war zwar mit seinen 31 Jahren nur gerade vier Jahre älter als Alex, doch er war tatsächlich schon ein sehr erfahrener Fotoreporter. Denn seit dem Rauswurf aus dem Gymnasium hatte er sich als Fotograf durchgeschlagen. Lange Zeit verdiente er fast nichts, erst seit er Aufträge von «Aktuell» erhielt, kam er zu einem ordentlichen Honorar.

      «Warum sollte uns Renner verarschen?», fragte Alex.

      «Ich weiss es nicht. Aber irgendetwas stimmt da nicht.»

      «Was denn?»

      Der Helikopter erschien plötzlich beim Faulhorn, kreiste eine Zeitlang und verschwand dann hinter der Bergkuppe. Er war kaum mehr zu hören.

      «Alex, ich bin Fotograf, aber kein Idiot. Dieser Helikopter fliegt genau dorthin, wo wir hinmüssen.»

      «Ist vielleicht die Polizei.»

      «In einem privaten Helikopter?»

      «Na ja …»

      «Eben. Los, beeilen wir uns.»

      Henry Tussot war angefixt. Sein Gefühl für Stories sagte ihm, dass es interessant werden könnte. Auch fotografisch.

      Alex trottete ihm nach.

      Er spürte den gewaltigen Druck. Er musste auf jeden Fall eine Geschichte aus dieser Nummer herauskitzeln. Auf irgendeine Art. Und mit ein bisschen Glück würde er sogar Seite 1 erobern können. Das wär was! Möglicherweise hatte er den Aufmacher, die Headline. Wow, das wäre das Maximum! Er spürte, dass dies seine Chance war. Wenn nicht etwas Dramatisches auf der Welt passieren würde, dann könnte er den Aufmacher buchen. Da wäre er sogar seiner Kollegin Sandra Bosone voraus, die wie er auch noch keinen Aufmacher gehabt hatte.

      Alex war voll motiviert.

      Er blickte auf die Uhr. 09.56 Uhr. In vier Minuten würde die Redaktionssitzung beginnen. Renner würde ankündigen, dass er ein Team an die Unfallstelle beordert habe und sich einen Aufmacher vorstellen könnte.

      «Also, los, los, los», flüsterte Alex zu sich.

      KONFERENZZENTRUM, FRIEDRICHSTRASSE, BERLIN-MITTE

      David Lemmovski war bereit. Er kontrollierte auf der Toilette noch einmal seine Frisur, zupfte einige Strähnen zurecht und ging schnellen Schrittes zum Konferenzraum «New York», einem grossen Saal zuoberst im Gebäude mit dem riesigen Glasdach.

      Lemmovski schaute auf seine Uhr: 09.58 Uhr. Noch zwei Minuten.

      Zuvor, um Punkt 8 Uhr, hatte er sich noch einmal mit seinen fünf engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern getroffen. Drei von ihnen waren in Deutschland stationiert, Susanne Tosh und Gunther Friesen gehörten zu seinem persönlichen Stab. Sie waren fast immer an seiner Seite. Ob im Headoffice in Zürich oder in der deutschen Vertretung in Berlin. Auch auf Reisen, vorwiegend nach Osteuropa, Asien oder Amerika, mussten sie ihn stets begleiten.

      An der Sitzung besprachen sie alles. Jede und jeder wusste nun, welche Rolle er oder sie bei den kommenden Verhandlungen zu spielen hatte.

      «Denken Sie daran», hatte Lemmovski zum Schluss gesagt, «es geht heute um alles.»

      Das war ein wenig pathetisch. Aber David Lemmovski liebte das Pathos.

      Wieder schaute er auf die Uhr. Noch eine Minute.

      Er ging um den Konferenztisch herum, blieb bei einem Stuhl stehen und sagte gereizt: «Hier ist eine Tasche! Wem gehört diese Tasche, verdammt?» Er hob sie auf. Es war eine mit Dossiers und Papieren überquellende Ledertasche mit dem schlichten, hellblauen Firmenlogo «Lemmovski». Alle Kadermitarbeiter der «Lemmovski Group» bekamen an ihrem ersten Arbeitstag eine solche Tasche.

      «Das ist meine», sagte Susanne Tosh, eilte zu Lemmovski und nahm sie ihm ab.

      «Weg damit», schnauzte David Lemmovski.

      Susanne Tosh stellte sie unter den ihr zugewiesenen Platz.

      Plötzlich surrte das Telefon im Konferenzraum. Susanne Tosh nahm ab und sagte nur: «Okay.» Dann legte sie wieder auf.

      «Sie sind da», meldete sie David Lemmovski.

      «Gut.»

      Er strich sich noch einmal durch die Haare und ging zum Fahrstuhl, um die Gäste zu empfangen.

      Der Fahrstuhl klingelte, die Schiebetüre öffnete sich. Lemmovski reichte den schwarz-, grau- und dunkelblau gewandeten Herren die Hand, legte jeweils seine linke Hand auf deren Arm und wünschte jedem in seiner Landessprache einen guten Tag. Deutsch, englisch, französisch, spanisch und polnisch. Mit der Entourage der einzelnen Verhandlungspartner waren es 17 Leute.

      Als


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