Göttersommer. Sascha Kersken
8
„Hier ist es“, sagte Alexandros Karagiannis zur Kostas, der seinen alten Peugeot vorsichtig um eine scharfe Kurve in eine enge Gasse steuerte. „Vielen Dank nochmals“.
„Gern geschehen“, antwortete Kostas Mavridis. Er stieg aus, um Alexandros die Beifahrertür zu öffnen und dessen Rollator aus dem Kofferraum zu holen. Der alte Mann ging mit seinem Rollator langsam auf die Pension zu und rief: „Gute Nacht!“
Es war inzwischen fast acht Uhr abends, denn bevor sie losgefahren waren, hatten sie noch lange in einem Café in der Innenstadt zusammengesessen. Kostas hatte Karagiannis zu Kaffee und Kuchen eingeladen, und dieser hatte zahlreiche Anekdoten aus seinem Leben erzählt.
„Nachdem ich erwachsen geworden bin“, sagte er zum Beispiel, „wollte ich nach Kanada auswandern. Aber ich konnte damals nur Französisch und noch kein Englisch. Das genügte den kanadischen Behörden auch dann nicht, wenn man nach Québec ziehen wollte. Also hat es mich nach Frankreich verschlagen.
An der Sorbonne in Paris habe ich Literaturwissenschaft studiert. Dort habe ich auch meine spätere Frau Anne-Sophie kennengelernt. Wir führten eine lange und glückliche Ehe, konnten aber leider keine Kinder bekommen.“
„Können wir auch nicht“, bemerkte Kostas, „wir haben alles versucht. Aber entschuldigen Sie die Unterbrechung.“
„Macht doch nichts“, antwortete Alexandros. „Meine Frau ist leider vor vier Jahren gestorben, erst danach bin ich wieder nach Griechenland zurückgekehrt, um meine alte Tante zu pflegen, die mich großgezogen hat. Aber auch sie ist vor einigen Monaten verstorben.
In Frankreich wurde ich nach dem Studium ein gefeierter und gefürchteter Literaturkritiker. In den Zeitungen wurde mein Vorname als Alexandre abgedruckt, und eigentlich nannten mich auch alle so. Anne-Sophie und ich kannten alle Größen der französischen Nachkriegsliteratur – Sartre, Simone de Beauvoir, Modiano und wie sie alle hießen.
In der Welt habe ich nur Krieg gefunden, in den Büchern meinen Frieden“, fügte er leise hinzu. „Lesen Sie eigentlich gern?“, fragte er dann.
„Ich komme nur selten dazu“, antwortete Kostas, „aber eigentlich schon. Am liebsten Krimis, um ehrlich zu sein – das ist für Leute wie Sie wahrscheinlich gar keine richtige Literatur, oder?“
„Kann man so nicht sagen“, meinte Karagiannis. „In jedem Genre gibt es Meisterwerke und Schund. Und außerdem: wer will schon immer etwas unendlich Anspruchsvolles lesen? Raymond Chandler, Agatha Christie und Georges Simenon habe ich zum Beispiel immer sehr genossen, Letzteren kannte ich sogar persönlich.“
„Wie kommt es denn“, fragte Kostas neugierig und vielleicht, wie ihm zu spät einfiel, etwas taktlos, „dass Sie nach dieser großen Karriere in Ihrem Alter noch arbeiten müssen?“
„Wie das Leben so spielt“, sagte der Alte gelassen, „als Journalist war ich kein Angestellter, sondern Freiberufler. Also hatte ich auch keine Rentenversicherung. Ich habe deshalb einen Teil meiner Einkünfte in einer Lebensversicherung angelegt – und die Versicherungsgesellschaft ist dann pleitegegangen“.
„Aber Versicherungen sind doch wiederum bei Rückversicherungen versichert, die die Einlagen der Kunden garantieren, oder?“, fragte Kostas.
„Normalerweise schon. Aber im Fall meiner Versicherung war wohl Betrug im Spiel. Seit über zehn Jahren laufen verschiedene Gerichtsprozesse, und bis diese entschieden sind, wird es keinen Cent geben. Was wir sonst an Geld zurückgelegt hatten, ging für eine experimentelle, aber letztlich erfolglose Behandlung drauf, die meine Frau hätte heilen sollen. Ich hätte ja gern auch in Griechenland wieder für Zeitungen geschrieben. Aber hier kennt mich keiner, und die Medien entlassen sowieso massenhaft Mitarbeiter. Außerdem lässt mein Augenlicht langsam zu wünschen übrig; ich kann kaum noch lesen. Mein Großneffe hat mir so einen – wie heißt das? MP-Spieler?“
„MP3-Player“, verbesserte Kostas.
„Genau, einen MP3-Player besorgt, und Hörbücher. Ich vergesse allerdings ständig, wo ich den abgelegt habe, und dann ist er nicht aufgeladen. Verdammt winzig, diese Dinger“, sagte er mit einem leisen Kichern. „Na ja, ab und zu kommt meine Schwester vorbei und liest mir vor. Sie ist zwar auch nicht mehr die Jüngste, aber ihre Augen sind viel besser als meine.“
Nach vielen Stunden waren sie dann schließlich aufgebrochen, weil Karagiannis’ Nachtschicht in der Pension um 20 Uhr beginnen würde.
Nachdem Alexandros gegangen war, wollte Kostas eigentlich gleich wieder losfahren. Plötzlich hielt jedoch ein protziger dunkelgrauer Mercedes hinter seinem Peugeot. Auf der Fahrerseite stieg eine sehr attraktive Frau aus, und auf der Beifahrerseite niemand anderer als Norbert Voss. Kostas ging auf die beiden zu. „Guten Abend, Herr Voss“, sagte er freundlich. „Und guten Abend, Ma’am.“
Voss schaute ihn an und antwortete: „Guten Abend, Herr ... wie war noch Ihr Name?“
„Mavridis. Kostas Mavridis. Was führt Sie in diese bescheidene Gegend?“
„Wir wollten Herrn Karagiannis besuchen. Tut mir übrigens Leid, dass ich ihn einfach so sitzen gelassen habe – meine Kollegen haben mich förmlich weggezogen und ausgefragt. Also vielen Dank, dass Sie ihn nach Hause gebracht haben.“
„Keine Ursache. Ihr Auftritt heute Mittag hat mich übrigens sehr neugierig gemacht“, gab Kostas zu. „An den vorherigen Verhandlungstagen machten Sie nicht den Eindruck, als könnten Sie die Perspektive Griechenlands verstehen – und nun werden Sie plötzlich zu unserem wertvollsten Fürsprecher.“
„Nun“, entgegnete der Deutsche, „bis letzte Nacht wusste ich auch noch nicht, was ich jetzt weiß. Nein, das stimmt nicht ganz – theoretisch wusste ich es, aus dem Geschichtsunterricht in der Schule, aus dem Studium, aus Zeitungsartikeln und so weiter. Aber das eigene Erleben ist immer etwas anderes.“
„Sagen wir einfach“, mischte sich die Frau ein, die bis jetzt nichts gesagt hatte, „Herr Voss ist Herrn Karagiannis auf eine Weise nahe gekommen, zu der normale Menschen nicht fähig sind. Dazu habe ich ihm verholfen. Sehen Sie, im Grunde ist Herr Voss ein wohlmeinender Mann – aber ihr Menschen seid durch eure verengte Perspektive sehr eingeschränkt. Ich habe mir erlaubt, seinen Horizont etwas zu erweitern.“
Kostas hatte keine Ahnung, wovon sie redete. „Perspektive? Horizont?“, fragte er besorgt. „Haben Sie ihm LSD verpasst? Psylocibin? Psychopharmaka? Herr Voss, falls die Dame Experimente mit Ihnen gemacht hat oder Sie gegen Ihren Willen festhält, sollten wir die Polizei rufen!“
„Keine Angst“, antwortete Norbert Voss lächelnd. „Mir geht es gut, ich bin aus freien Stücken hier, und es waren ganz bestimmt keine psychoaktiven Substanzen im Spiel. Darf ich vorstellen?“ – er wies auf die Frau – „Das ist Aphrodite, die Göttin der Liebe und Schönheit.“
„Also, jetzt brauchen Sie ganz dringend einen Psychiater!“, rief Kostas. „Offensichtlich haben Sie vollkommen den Verstand verloren.“
„Du brauchst dich nicht so aufzuregen, Kostas Mavridis“, sagte die angebliche Aphrodite beschwichtigend. „Deine Frau ist übrigens wohlbehalten bei ihrer Schwester angekommen, um die sich in diesem Moment Asklepios persönlich kümmert. Sie wird dir in wenigen Minuten eine Textnachricht schicken, und darin wird stehen: ‚Etwas Unglaubliches ist geschehen! Ein Heiler war hier, der sich Asklepios nannte. Irinis Symptome sind augenblicklich verschwunden, und er sagte, die Krankheit wird nicht wiederkommen’. Dummerweise ist der Akku deines Mobiltelefons leer, also komm mit uns herein und lad es auf, damit du die freudige Nachricht empfangen kannst.“
Ungläubig zog Kostas das Handy aus der Hosentasche – und genau, wie sie gesagt hatte, war der Akku leer. Das konnte natürlich ein dummer Zufall sein, aber er war doch neugierig geworden. „Moment, ich hole kurz mein Ladegerät aus dem Auto“.
Einige Minuten später standen sie in der winzigen Rezeption der Pension, in der Alexandros hinter dem Tresen saß und sich freute und etwas wunderte, Kostas so schnell wiederzusehen. Der steckte sein Telefon