Göttersommer. Sascha Kersken
gingen von ihrem Körper aus wie Wellen, wenn ein Stein ins Wasser geworfen wird. Alle, die davon erfasst wurden, schwiegen, erhoben sich und standen stumm und wartend da. Dann klatschte die Göttin zweimal in die Hände. Die Tür wurde entriegelt, und die gut 40 Versammelten marschierten im Gleichschritt hintereinander hinaus.
7
Nach seiner körperlichen Verwandlung hatte Giorgios sich weiter zu seinem Vorteil verändert. Athene war zunächst mit ihm in ein Herrenbekleidungsgeschäft gegangen und hatte ihm einfache, aber saubere Kleidung gekauft – Jeans, ein dunkelblaues T-Shirt und Turnschuhe (einen feinen Anzug wollte er nicht). Anschließend hatte er im Bad ihres Hotelzimmers geduscht und sich umgezogen, und schließlich hatte er sich bei einem Friseur die Haare schneiden und rasieren lassen. Nun saß er neben ihr auf einer Parkbank, trank Kaffee aus einem Pappbecher und erzählte ihr von seiner früheren Bettlertätigkeit.
„Viele Bettler dürfen das Geld nicht behalten“, berichtete er. „Sie müssen den größten Teil bei einem Bandenchef abgeben und werden misshandelt, wenn die Tageseinnahmen zu gering sind. Wenn dabei blaue Flecken zurückbleiben, Zähne ausfallen oder Schlimmeres – umso besser. Dadurch haben die Passanten oft mehr Mitleid und geben mehr.“
„Wer war dein Bandenchef?“, fragte die Göttin.
„Seinen vollen Namen weiß ich gar nicht“, antwortete Giorgios. „Wir nannten ihn nur Johnny, obwohl er Grieche ist. Jeden Abend, nachdem die meisten Geschäfte schlossen und nur noch wenige Fußgänger vorbeikamen, mussten wir ihn in einer abgelegenen Seitenstraße treffen und ihm unsere Einnahmen aushändigen. Er behielt fast alles, gab nach eigenem Ermessen einen Bruchteil zurück und ließ diejenigen, die ihn enttäuscht hatten, von seinen Schlägern verprügeln.“
„Was passiert mit Bettlern, die gar nicht zu ihm kommen oder auf eigene Rechnung arbeiten?“, wollte Athene wissen.
„Das versuchen Leute, die in diesem Block betteln wollen, nur einmal“, meinte der ehemalige Bettler. „Ich habe genug gebrochene Beine, Hände und Kiefer gesehen. Da keiner von uns krankenversichert ist, manche auch illegale Einwanderer, geht nie jemand zum Arzt oder zur Polizei, und die Brüche verheilen schlecht oder gar nicht. Und selbst wenn jemand von uns stirbt, kümmert es ja niemanden. Natürlich kontrolliert er in dieser Gegend auch Taschendiebstähle und Prostitution. Er macht das erst seit ungefähr drei Jahren. Davor war ein anderer Mann in seiner Position; man sagt, Johnny hätte ihn umgebracht.“
Das alles verwunderte Athene nicht im Geringsten. Sie wusste, was Habgier aus Menschen und sogar aus Göttern zu machen vermochte. Dennoch fühlte sie den altbekannten Zorn in sich aufwallen, den Drang, sich mit diesem Bettlerkönig und seinen Schlägern im Kampf zu messen. „Wo ist diese Seitenstraße?“, fragte sie.
„Es ist natürlich jedes Mal eine andere“, entgegnete Giorgios, „damit ihm die Polizei nicht auf die Schliche kommt. Einige seiner Helfer gehen manchmal nachmittags durch die Straßen und informieren uns, wo die abendlichen Treffen der nächsten Tage stattfinden. Heute Abend ist es gleich hier um die Ecke und dann zwei Querstraßen weiter.“
„Dann wollen wir dem feinen Herrn mal einen Besuch abstatten“, sagte Athene, wobei sie sich bemühte, nach außen beherrscht zu erscheinen.
„Was bringt das in Bezug auf euren großen Plan?“, fragte Giorgios verwundert. „Er ist doch nur ein mieser, kleiner Gauner, der schon fünf oder sechs Straßen weiter nichts mehr zu sagen hat. Größere Verbrecher schielen schon lange auf seinen Bezirk, und es gibt immer wieder Kämpfe zwischen seinen Schlägern und anderen.“
Athene zögerte – dieser Sterbliche, der noch vor wenigen Stunden alt und zerlumpt ausgesehen hatte und selbst im Vergleich mit anderen Menschen nur über wenig Bildung verfügte, hatte im Grunde Recht. Wollte sie sich wirklich von Rachegelüsten von ihrer Mission ablenken lassen? Gab es nicht Tausende oder Millionen von Menschen, die genauso schlimm oder noch schlimmer waren als dieser Johnny? „Ich möchte mir den Mann nur einmal aus der Nähe anschauen“, sagte sie schließlich. „Es waren schon bösere Menschen als er Werkzeuge der Götter. Vielleicht kann auch er uns auf ungeahnte Weise nützlich sein.“
Sie standen auf, um zu dem Treffpunkt zu gehen. Giorgios stellte seinen leeren Kaffeebecher vorsichtig auf den Rand des überfüllten Mülleimers neben der Parkbank. Einige Tauben, die sich zuvor an Essensresten zu schaffen gemacht hatten, flatterten auf, drehten eine knappe Runde um den Fußweg im Park und landeten schließlich wieder vor dem Mülleimer, um ihre Nahrungssuche fortzusetzen. Verdreckte und arg zerrupfte, aber wohlgenährte Viecher in verschiedenen Grautönen, in die sich Blau, Grün und Weiß mischten. Außer der groben äußeren Form hatten diese Kreaturen nichts mit den weißen Tauben der Aphrodite gemeinsam.
Kurze Zeit später bogen Athene und Giorgios um die Ecke der zweiten Querstraße. Es war eine Sackgasse, die an einer Mauer endete; nur ein schmaler Durchgang für Fußgänger führte hindurch. Vor der Mauer saß ein langer, dürrer Mann mit pockennarbigem Gesicht, strähnigen langen Haaren, die teilweise ergraut waren, und einer krummen Nase, die offenbar mehrmals gebrochen und falsch wieder zusammengewachsen war. In leicht zitternden Fingern hielt er eine brennende Zigarette, an der er mehrmals zog. Aus einer Packung, die neben ihm auf dem Boden lag, zog er die nächste Zigarette, zündete sie an der fast abgebrannten vorigen an und warf letztere dann achtlos weg.
„Ist das Johnny?“, fragte Athene – obwohl sie wusste, wer der Mann war –, während Giorgios und sie auf ihn zusteuerten.
„Nein“, erwiderte Giorgios. „Das ist Panajotis, so eine Art Stellvertreter.“
„Sei gegrüßt, Panajotis“, sagte Athene neutral. „Ich möchte gern mit Johnny sprechen.“
Panajotis sah mit teilnahmslosem Blick zu ihr auf, zog die Nase hoch und spuckte auf die Straße. „Ah ja? Und was will so eine feine Lady von ihm?“
„Das werde ich mit ihm selbst besprechen“, entgegnete die Göttin. „Wann kommt er zurück?“
„Der ist nur mal um die Ecke, pissen. Und hoffentlich neues Bier holen.“
Athene sah den Mann durchdringend an und sagte mit fester, keinen Widerspruch duldender Stimme: „Wenn er zurückkommt, wird es möglicherweise sehr ungemütlich für ihn und seine Mitstreiter. Ich gebe dir jetzt genau eine Chance zu verschwinden und dein verpfuschtes Leben zu überdenken, Panajotis.“
„Fick dich!“, rief der Kerl zornig. Er spuckte erneut aus, diesmal direkt in Athenes Richtung. Sie zog blitzschnell einen unsichtbaren Schutzschild hoch, an der die Spucke abprallte und Panajotis mitten ins Gesicht traf.
„Was zur ...?!“, schrie er, noch wütender. Er sprang auf und hatte im Nu ein aufgeklapptes Butterfly-Messer in der Hand. Er stürmte auf Athene zu. Lässig umfasste diese sein Handgelenk und drückte zu. Mit einem Schmerzensschrei ließ er das Messer fallen. Die Göttin drehte ihm den Arm auf den Rücken. Dann ließ sie gleichzeitig los und versetzte ihm einen gewaltigen Fußtritt ins Hinterteil. Er machte einen Riesensatz, konnte sich gerade noch auf den Füßen halten und rannte davon, so schnell er konnte, ohne noch einmal zurückzublicken.
Athene hob das Messer auf, klappte es zu und drückte es Giorgios in die Hand, der neben ihr stand und ein zufriedenes Lächeln kaum unterdrücken konnte. Er steckte das Messer in seine Hosentasche.
In diesem Moment trat ein anderer Mann aus dem Fußgängerdurchgang heraus. Er war relativ klein und dick, hatte lange schwarze Haare und einen ebensolchen Bart. Von seiner Stirn, knapp am rechten Auge vorbei und quer über die rechte Wange verlief eine ausgefranste Narbe. Unter einem etwas schmuddeligen Tank Top trug er mehrere Goldketten um den Hals. „Das ist Johnny“, flüsterte Giorgios.
„Ich weiß“, antwortete Athene. Sie wandte sich an den Neuankömmling: „Guten Abend, Johnny. Oder soll ich dich bei deinem vollen Namen nennen, Giannis Michalopoulos?“
„Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“, fragte der Mann kühl.
„Das werden wir herausfinden“, meinte die Schutzgöttin der Stadt.