Göttersommer. Sascha Kersken

Göttersommer - Sascha Kersken


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      In zehn Minuten würde die heutige Verhandlungsrunde beginnen. Kostas Mavridis warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Er richtete den Kragen seines krawattenlosen Hemds und zog sein Jackett gerade. Er nahm seinen Laptop-Rucksack von einem Kleiderhaken neben der Ausgangstür, hängte ihn sich über eine Schulter und verließ dann die Herrentoilette hinter dem Sitzungssaal. Auf dem Gang standen Verhandlungs­teilnehmer in kleinen Grüppchen zusammen. Er nickte manchen knapp zu und ging an anderen vorbei. Seine Kollegin Maria Georgiadou und ihren Assistenten Nikos Periklidis begrüßte er freundlich.

      „Das wird genau so ein Reinfall wie gestern“, sagte Maria missmutig.

      „Da könntest du Recht haben“, meinte Kostas. „Wenn wir nicht zu allem, was sie uns vorsetzen, Ja und Amen sagen, werden diese Verhandlungen nie enden – oder platzen. Und ich habe absolut keine Lust, Ja oder Amen zu sagen“.

      Er sah auf die Uhr. Acht Minuten noch. „Entschuldigt mich bitte.“

      Er ging durch die Glastür auf der anderen Seite des Ganges und trat auf den Balkon. Aus der Innentasche seines Jacketts zog er eine Zigaretten­schachtel und ein Feuerzeug. Er entnahm der Packung eine Zigarette, steckte sie in den Mund und versuchte, sie anzuzünden, aber sein Feuerzeug funktionierte nicht. Er sah sich unter den wenigen anderen Rauchern um, die sich um die beiden großen Aschenbecher links und rechts der gläsernen Doppeltür gruppierten.

      Da war diese Französin von der EZB, die ihn immer an seine strenge Mathematik­lehrerin erinnerte – Dupont? Dujardin? Ach nein, Dugard, das war es. Sie hatte in den vergangen Tagen besonders harte Positionen vertreten, war zu keinem Kompromiss bereit und stellte die weitere Kreditvergabe an Griechenland sogar insgesamt in Frage, unabhängig von der Spar- und Reformbereitschaft seiner Delegation. Sie rauchte eine sehr dünne Zigarette mit weißem Filterstück.

      „Verzeihung, hätten Sie vielleicht Feuer?“, fragte Kostas sie auf Englisch. Sie hielt ihm wortlos ihr elegantes Metallfeuerzeug entgegen und zündete die Flamme. Kostas zündete seine eigene Zigarette daran an und bedankte sich.

      Er nahm einige Züge, drückte die Zigarette dann aus und ging wieder hinein. Die anderen Raucher begannen ebenfalls aufzubrechen. Er durchschritt den Gang und betrat den großen Sitzungssaal. Die Fensterfront, welche die gesamte Seite gegenüber der Eingangstür einnahm, war mit weißen Lamellenvorhängen bedeckt, um die Sonne abzuhalten. Um den großen, ovalen Tisch standen etwa dreißig bequeme Bürosessel, darauf standen in kleinen Gruppen Mineralwasser­flaschen, Thermoskannen mit Kaffee und Tee, Tassen, Gläser und etwas Gebäck.

      An jedem Platz stand ein Pappaufsteller mit dem Namen eines Verhandlungs­teilnehmers – auf der Türseite die griechische Delegation, gegenüber die internationalen Vertreter. Maria Georgiadou war zur Sitzungsleiterin gewählt worden, deshalb befand sich ihr Platz an einem der schmäleren Tischenden. Vor den Namensschildern lagen jeweils ein kleiner Notizblock und ein blauer Kunststoff­kugelschreiber, auf dessen Clip „Athens Conference Lounge“ stand – das Kongresszentrum in der Nähe des Omonia-Platzes, in dessen siebter Etage die Verhandlungen stattfanden.

      Viele Teilnehmer saßen bereits auf ihren Plätzen, andere betraten den Saal gleich hinter Mavridis. Dieser zog seinen Stuhl zurück, der auf fünf Rollen geschmeidig über den geschmackvollen hellgrauen Teppichboden glitt, stellte den Rucksack vorsichtig auf dem Boden ab und setze sich. Er klickte die Mine des Kugelschreibers heraus und schlug den Notizblock auf. Links oben auf der ersten Seite notierte er das Datum, das er aus der freien Hand sehr akkurat unterstrich. Anschließend holte er seinen etwas in die Jahre gekommen Laptop und das Netzteil aus dem Rucksack, steckte letzteres in die Steckdosenleiste in der Tischmitte und schaltete den Rechner ein.

      Der Vibrationsalarm seines lautlos geschalteten Mobiltelefons meldete sich. Er zog es aus der linken Hosentasche, entsperrte es mit einer Wischgeste und gab den Sicherheitscode ein. Eine Textnachricht seiner Frau Christina: „Viel Erfolg, mein Schatz. Fahre zu Irini, komme in 3-4 Tagen zurück. Melde mich, wenn ich da bin. HDL“. Irini war die jüngere Schwester seiner Frau. Sie lebte mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Grundschulalter in Thessaloniki und litt unter Multipler Sklerose. Seit ihre Mutter vor einem Jahr gestorben war, fuhr Christina des Öfteren hin, um ihr zur Hand zu gehen, wenn neue Krankheitsschübe ihr den Alltag erschwerten.

      „Fahr vorsichtig und grüß alle! HDL“, textete Kostas zurück. Er sperrte das Telefon wieder und ließ es zurück in seine Hosentasche gleiten. Inzwischen waren die übrigen Verhandlungs­teilnehmer eingetroffen. Die Tür wurde geschlossen, und Maria eröffnete die Sitzung. „Guten Morgen“, sagte sie knapp und schaltete den Videoprojektor ein, der den Bildschirminhalt ihres Laptops an der Wand hinter ihr anzeigte: eine schmucklose weiße Seite mit einer englischsprachigen, nummerierten Liste.

      „Hier sehen Sie die für heute geplante Tagesordnung“, erklärte Maria. „Das Oberthema am Vormittag sind die besonders von der EU-Kommission“ – sie wies auf die vier Vertreter dieses Gremiums – „geforderten Privatisierungen von Staatsbetrieben in einem Volumen von bis zu fünfzig Milliarden Euro. Nach der Mittagspause wird es eine Rekapitulation der Positionen aller beteiligten Delegationen geben. Haben Sie Fragen oder Anträge zur Tagesordnung?“

      Ein blonder Mann in einem eleganten Anzug, der an den vergangenen drei Verhandlungstagen recht unauffällig gewesen war, hob die Hand. Er saß fast genau gegenüber von Kostas; auf seinem Namensschild stand „Norbert Voss, European Commission“.

      „Herr Voss?“, rief Maria ihn auf.

      „Ich beantrage, dass wir die Tagesordnung heute Nachmittag ändern. Es gibt interessante neue Erkenntnisse – zumindest für mich sind sie neu. Diese möchte ich mit Ihnen allen teilen, und ich werde jemanden als Zeugen mitbringen.“

      „Können Sie uns Genaueres dazu sagen?“, fragte Maria.

      „Nur so viel“, antwortete Voss, „es gab auch in der Vergangenheit, sagen wir mal, Interaktion zwischen Griechenland und meinem Land. Ich glaube, diese muss man einfach in Betracht ziehen, wenn man die heutige Situation gerecht beurteilen will.“

      Seine EU-Kollegen schauten etwas ratlos und ungläubig in seine Richtung. Maria hielt kurz inne und fragte dann: „Wer ist für diese Änderung der Tagesordnung? Ich bitte um Handzeichen.“

      Kostas überlegte kurz, denn er konnte sich keinen Reim auf das machen, was Voss sagte. Dann dachte er sich, dass der Freitagnachmittag so nur interessanter werden konnte, und hob die Hand, genau wie alle anderen Teilnehmer der griechischen Delegation. Auch auf der Gegenseite gingen zögerlich erst wenige und dann immer mehr Hände nach oben. Schließlich kam eine knappe Mehrheit zusammen.

      „Der Vorschlag ist mit 18 zu 13 Stimmen angenommen“, resümierte Maria.

      „Das dürfte interessant werden“, meinte ein leicht ergrauter Brite, der einen Dreiteiler und eine randlose Brille trug. „Dustin R. Graham, International Monetary Fund“ stand auf seinem Schild.

      Der Vormittag zog sich hin. Die Privatisierungs­debatte war langweilig, technokratisch, und eigentlich war allen Beteiligten klar, dass fünfzig Milliarden Euro vollkommen unrealistisch waren. Kostas und die anderen Vertreter der griechischen Seite waren ohnehin keine großen Freunde von Privatisierungen, und auch viele Verhandlungs­teilnehmer der Gegenseite hielten sich zurück. Besonders auffällig war dies bei Madame Dugard, für die Privatisierungen bis zum Vortag ein Allheilmittel gewesen zu sein schienen.

      Kostas selbst wiederholte nur seine bekannte Position: „Wie wir alle wissen, bedeutet Privatisierung für die Kunden praktisch immer schlechteren Service und höhere Preise. Inzwischen sehen manche Länder das ein und versuchen, Privatisierungen rückgängig zu machen. Der neuseeländische Staat hat beispielsweise die privatisierte Eisenbahn zurückgekauft, weil die Investoren trotz hoher Subventionen das Streckennetz verfallen ließen, zahlreiche unrentable Strecken stilllegten und massiv die Fahrpreise erhöhten. Es ist nicht hinzunehmen, einem Volk, dem ohnehin die Löhne und Renten gekürzt werden, auch noch das Staatseigentum wegzunehmen und sie für schlechtere Leistungen mehr zahlen zu lassen. Also, wie ich bereits mehrfach


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