Göttersommer. Sascha Kersken

Göttersommer - Sascha Kersken


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Arbeit nicht mehr zu tun. Mein Neffe Asklepios wird sich deiner Mutter annehmen, und für dich werde ich selbst sorgen.“

      Mit diesen Worten stand Hades auf, kam auf Dustin zu und legte auch ihm die Hände auf die Schläfen. Wieder flüsterte er etwas. Einen Moment lang hatte Dustin den Eindruck, einen grellen Blitz zu sehen und etwas zu hören, das wie Musik und doch viel größer und überwältigender klang. Kopfschmerzen, Übelkeit, Müdigkeit und schwere Gedanken fielen von ihm ab wie ein schmutziges Hemd, das man einfach ausziehen konnte. Er betrachtete den Gott mit überwältigtem Blick. Er wollte nur noch eins: Hades folgen, selbst wenn dieser ihn in seine Heimat, die Unterwelt, führen würde.

      2

      Gegen 22 Uhr stand Norbert Voss an einer viel befahrenen Athener Ausfallstraße und winkte einem Taxi. Der Taxifahrer schien ihn nicht zu bemerken und fuhr einfach durch. Auch ein zweites und ein drittes Taxi rauschten vorbei. Erst das vierte hielt an, nachdem es einige Meter an ihm vorbeigefahren war, aber zwei junge Frauen schienen aus dem Nichts aufzutauchen, stiegen auf beiden Seiten durch die Hintertüren ein, und das Taxi fuhr wieder an, bevor er in seiner Verwunderung etwas sagen oder tun konnte.

      Nach dem Verhandlungstag hatte Norbert noch mit einem belgischen und einem italienischen Kollegen zu Abend gegessen. Das Hotel der beiden lag in die entgegengesetzte Richtung, so dass sie bereits mit einem anderen Taxi abgefahren waren. Norbert ärgerte sich. Was bildeten diese Taxifahrer sich eigentlich ein? Konnten sie bereits von Weitem sehen oder riechen, dass er ein Angehöriger der EU-Kommission war? Zugegeben: er trug einen sehr teuren dunkelblauen Anzug, einen ledernen Aktenkoffer, und sein hellblondes Haar schien ihn besonders auffällig zu machen.

      Er wollte sich gerade entschließen, den Weg zum Hotel zu Fuß zurückzulegen, was etwa eine halbe Stunde dauern würde und in der unerträglichen Hitze, die selbst um diese Zeit noch herrschte, sehr anstrengend war. Doch plötzlich hielt ein eleganter dunkelgrauer Mercedes S-Klasse mit einer Vollbremsung neben ihm, und das Fenster auf der Beifahrerseite glitt herunter. „Norbert Voss? Steig ein“, rief die Fahrerin in akzentfreiem Deutsch.

      Verwundert fragte Norbert: „Wer sind Sie?“

      „Erzähle ich dir unterwegs“, sagte die Frau mit einem aufmunternden Lächeln. „Na los, steig schon ein“.

      Norberts Neugier siegte über seine Vorsicht. Er öffnete die Beifahrertür, stieg ein und schloss die Tür wieder, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass er sein knitterfreies Hosenbein nicht einklemmte. Er schnallte sich an und platzierte seine Aktentasche auf dem Schoß.

      Die Frau trat sofort das Gaspedal des Automatik­fahrzeugs durch. Die Beschleunigung presste Norbert an den Sitz, und die Fahrerin behielt ein für den starken Verkehr überraschend hohes Tempo bei, indem sie geschickt beide Fahrspuren nutzte und teilweise sogar auf der inneren Gegenfahrbahn überholte, wenn diese gerade frei war.

      Norbert musterte die Unbekannte. Sie trug ein einfach geschnittenes rotes Kleid, bequeme flache Schuhe, und war auffallend attraktiv. Nein, mehr als das. Sie war atemberaubend schön, fand Norbert. Sie hatte eine wallende hellbraune Lockenmähne, große Augen, deren Farbe er im dunklen Auto nicht genau auszumachen vermochte, eine gerade, ebenmäßige Nase und volle Lippen. Geschminkt schien sie nicht zu sein, aber sie machte auch nicht den Eindruck, das nötig zu haben.

      Seit seiner Scheidung vor zwei Jahren hatte er keinen näheren Kontakt mehr zu Frauen gehabt, außer beruflich, und er fragte sich, ob sie wohl deshalb eine so extreme Wirkung auf ihn hatte. Aber das allein konnte es nicht sein – irgendetwas an ihr war einfach überwältigend.

      „Kaugummi?“, fragte sie ihn nun und hielt ihm mit der rechten Hand ein Päckchen hin, während sie mit links weitersteuerte.

      „Nein danke“, entgegnete er, leicht irritiert – etwas so Profanes wie Kaugummi schien nicht zu einer Lady wie ihr zu passen.

      „Erlaube, dass ich mich vorstelle“, fuhr sie fort. „Mein Name ist Aphrodite. Ich bin von weit her hierhin gereist, um dich zu treffen und dich um einen kleinen Gefallen zu bitten.“ Selbst ihre Stimme war hypnotisch – recht tief für eine Frauenstimme, melodisch, wohlklingend.

      „Aphrodite? Wie die Göttin der Liebe und Schönheit?“, fragte Voss. Wenn es eine Frau gab, zu der dieser Name passte, dann war es diese. Er wusste einiges über die griechische Mythologie, denn sein Vater hatte die antiken Sagen geliebt und sie Norbert immer begeistert als Gutenachtgeschichten erzählt.

      „Nein, nicht wie die Göttin der Liebe und Schönheit“, antwortete Aphrodite, „sondern die Göttin der Liebe und Schönheit. Und der Fruchtbarkeit übrigens auch“, fügte sie hinzu, und es schien sie zu belustigen. „Aber keine Sorge, ich habe bereits mehr als genug Kinder, von mehr Vätern, als du dir vorstellen kannst.“

      Na super, dachte Norbert. Da lernt man einmal eine wirklich tolle Frau kennen – und dann muss es eine Verrückte sein. „Halten Sie bitte an, ich möchte aussteigen!“, sagte er bestimmt.

      „Wir sind noch nicht da“, erwiderte sie. „Und das hier ist keine besonders sichere Gegend. Einem fein gekleideten Herrn wie dir würde man hier die Aktentasche, das Geld, die teure Rolex und wahrscheinlich sogar die Kleidung stehlen. Wer könnte es ihnen verdenken – die meisten Leute hier müssen im Monat mit weniger auskommen, als deine Schuhe gekostet haben. Für die ganze Familie wohlgemerkt.“

      Mit diesen Worten drehte sie sich blitzschnell zu ihm um und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann schaute sie sofort wieder auf den Straßenverkehr, als sei nichts gewesen. Norberts Herz raste, seine Hände schwitzten, und er war überzeugt, dass sie die Wahrheit sagte.

      Wenige Minuten später kamen sie an einer schäbigen Vorortpension an. Aphrodite parkte ein, schaltete den Motor ab und sagte, zu Norbert gewandt: „Wir sind da.“

      „Wie bitte? Das ist nicht mein Hotel“, antwortete dieser vorwurfsvoll.

      „Richtig. Es ist meins“, entgegnete die Göttin ungerührt. Beide stiegen aus, und Aphrodite führte Norbert zum Eingang der Pension. Die Tür war nur angelehnt. Norbert drückte sie auf und ließ der Göttin den Vortritt. Sie marschierte an ihm vorbei in einen notdürftig beleuchteten Flur. An dessen Ende befand sich eine weitere Tür, auf die Aphrodite zeigte. Norbert drückte die Klinke herunter und ließ Aphrodite erneut vorgehen.

      In dem kleinen Raum hinter der Tür saß ein alter Mann hinter einem sichtlich in die Jahre gekommenen Holztresen. Er trug eine dicke Hornbrille und blätterte gelangweilt in einer griechischen Tageszeitung, deren Titel Norbert nicht lesen konnte.

      Aphrodite sagte etwas auf Griechisch zu dem Portier, der bedächtig aufstand, zu einem Schlüsselbrett hinter seinem Stuhl humpelte, einen der dort hängenden Schlüssel nahm und ihn der Göttin reichte. „Evcharisto“, sagte sie – das verstand Norbert immerhin.

      Links vom Rezeptionstresen führte eine knarzende, gewundene Holztreppe mit steilen Stufen in den ersten Stock. Aphrodite begann, hinaufzusteigen, und Norbert stapfte hinterher, obwohl er gar nicht recht wusste, warum. In der dunklen Diele im Obergeschoss bog Aphrodite nach rechts ab. Auch der Dielenboden war aus Holz und knarzte wie die Treppe; eine einzelne Leuchtstoffröhre verbreitete ein kaltes und unzureichendes Licht. An der dritten Tür, einem Zimmer mit der Nummer 12, blieben sie stehen. Aphrodite steckte den Schlüssel ins Schloss, zog die Tür leicht an, damit er sich überhaupt drehen ließ, und schloss auf. Sie machte eine einladende Geste in Richtung Zimmer. Norbert trat hinein, die Frau folgte ihm, schaltete das Licht ein und zog die Tür hinter sich zu.

      „Setz dich“, sagte sie zu Voss, der verlegen in dem winzigen Zimmer stand und vom Bett zur Kommode und wieder zurück blickte. An der vergilbten Raufasertapete hing eines dieser kitschigen Bilder von einem weißen Haus mit blauen Tür- und Fensterrahmen, wie es sie auf griechischen Inseln gab – das hatte Norbert zumindest auf Reisewebsites gesehen; er selbst war noch nie auf einer solchen Insel gewesen. Obwohl das Fenster sperrangelweit offen stand, war es stickig heiß in dem Zimmer; klimatisiert war es offenbar nicht.

      Norbert stellte seinen Aktenkoffer an die


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