Göttersommer. Sascha Kersken

Göttersommer - Sascha Kersken


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nennen es Nektar“, antwortete die Göttin. „Es hält uns jung, ja verleiht uns Unsterblichkeit. Durch eine einmalige Gabe wirst du nicht unsterblich, Giorgios, aber du hast heute eine zweite Chance erhalten. Nutze sie.“

      „Nutzen, nutzen“, murmelte der Mann skeptisch. Er sah Athene an und sagte: „Wissen Sie eigentlich, was hier los ist? Ich war ein einfacher Arbeiter, und man hat mich schon vor vier Jahren entlassen, wie so viele. Eine neue Stelle werde ich in meinem Alter bestimmt nicht mehr finden.“ Dann hielt er inne und ergänzte: „Ich meine, in dem Alter, das ich bis eben noch hatte. Aber was nützt es – nicht einmal mein Neffe findet Arbeit, und der ist siebenundzwanzig und hat studiert. Er wird wohl ins Ausland gehen, wie ein Großteil seiner Generation.“

      „Mach dir darum keine Sorgen, Giorgios – du wirst für mich arbeiten“, erklärte Athene.

      „Woher kennen Sie eigentlich meinen Namen?“, fragte der eben noch alte Mann verwirrt.

      Athene lächelte ihn an und antwortete: „Dein Name ist nicht das einzige, was ich von dir weiß, Giorgios Angelopoulos. Ich kenne dein ganzes Leben, vom Moment deiner Geburt bis eben, bevor wir uns getroffen haben. Ich bin Athene, die Göttin der Weisheit, der Mathematik und der Kriegslist – und die Frau, nach der diese Stadt benannt ist.“

      Giorgios stand auf, drehte sich um und betrachtete sein undeutliches Spiegelbild im verschmutzten Schaufenster eines leeren Ladenlokals, an dem „Zu vermieten“-Schilder hingen. Er stellte sich noch ein wenig gerader hin, lächelte und sagte zu Athene: „Ich glaube Ihnen zwar kein Wort, aber ich bin bereit. Wann reiten wir in die Schlacht?“

      „Augenblick noch“, vertröstete ihn die Göttin, „wir warten noch auf jemanden.“ Suchend schaute sie sich in der vorbeihastenden Menschenmenge um. Sie hoffte, dass sie die gesuchte Person nicht verpasst hatte, während sie von Giorgios abgelenkt wurde.

      Mit quietschenden Reifen hielt ein gelbes, fast schrottreifes Taxi an der Straßenecke zur Fußgängerzone. Eine Frau mittleren Alters, die ihr schwarzes, mit einigen grauen Strähnen durchsetztes Haar zu einem strengen Knoten gebunden hatte, stieg aus, stellte einen Rollkoffer auf den Boden und zog seinen Griff heraus. Athene sah sie und sagte zu Giorgios: „Komm mit.“

      Mit langen Schritten eilte Athene auf die Dame zu. „Warte, Angélique!“, rief sie schon von weitem auf Französisch. Irritiert schaute die Gerufene sich um. Sie bemerkte die Göttin und den jungen Mann in der lädierten Kleidung.

      „Was wollen Sie? Sind sie von der Presse?“, fragte sie. „Ich habe überhaupt keine Zeit; in einer halben Stunde habe ich einen wichtigen Termin.“

      „Keine Sorge, du wirst deinen Termin wahrnehmen, Angélique Dugard. Aber vorher müssen wir uns ein wenig unterhalten.“

      „Was fällt Ihnen eigentlich ein, mich zu duzen?“, fragte Angélique. „Kennen wir uns?“

      „Ich kenne dich, und gleich wirst du auch mich kennen“, antwortete Athene. „Da vorn ist ein – wie nennt ihr das? – Café. Setzen wir uns, du wirst uns zum Frühstück einladen.“

      „Wie käme ich dazu?“, regte Madame Dugard sich auf. „Ich werde doch einer dahergelaufenen Schlampe und einem abgerissenen Penner kein ...“

      Weiter kam sie nicht, denn Athene ergriff ihre Hand und zog die widerstrebende Angélique hinter sich her. Gegen die Kraft der Göttin hatte diese keine Chance, also musste sie wohl oder übel mitkommen, wenn sie nicht zu Boden gerissen werden wollte.

      Sie nahmen auf zwei bequemen, mit Kissen gepolsterten Sitzbänken eines Straßencafés Platz, die einander an einem leicht wackligen Holztisch gegenüber standen. Angélique saß allein auf einer der Bänke, während Athene und Giorgios die gegenüberliegende Bank wählten. Viel war in dem Café nicht los, so dass sogleich ein eilfertiger junger Kellner mit einem sauberen weißen Hemd, aber einer etwas schmuddeligen orangefarbenen Schürze an ihren Tisch trat und sie begrüßte: „Guten Morgen, die Herrschaften. Wissen Sie schon, was es sein darf? Oder soll ich Ihnen zuerst die Karte bringen?“

      „Wir nehmen ein komplettes Frühstück für alle“, erklärte Athene, „aber beeil dich – die Dame hier hat gleich einen wichtigen Termin.“

      „Kaffee oder Tee?“, fragte der Kellner.

      „Tee kenne ich“, erwiderte die Göttin. „aber Kaffee nicht, also nehmen wir den, und ich lasse mich überraschen.“

      Der junge Mann zog etwas irritiert eine Augenbraue hoch, fasste sich aber sofort wieder und sagte: „Sehr wohl.“ Er kritzelte etwas auf ein Notizblöckchen und verschwand ins Innere des Cafés.

      „Was wollen Sie jetzt eigentlich von mir?“, fragte Madame Dugard ungeduldig. „Wollen Sie mir drohen? Mich erpressen? Die EZB lässt sich nicht erpressen!“

      „Ganz ruhig“, entgegnete Athene. „Du bist Angélique Dugard, stellvertretende Abteilungsleiterin bei der Europäischen Zentralbank.“ Sie fragte das nicht, sondern stellte es fest. „In etwa fünfundzwanzig Minuten wirst du bei einer Sitzung über die Zukunft Griechenlands mitentscheiden. Du wirst allerdings etwas völlig anderes vortragen, als du eigentlich vorhattest.“

      „Wie kommen Sie denn darauf?“, regte sich die Bankerin auf. „Ich werde sagen, was ich mir vorgenommen habe – ich vertrete die EZB und deren Position in den Verhandlungen und lasse mir von niemand anderem vorschreiben, wie ich zu handeln habe!

      Sollten Sie vorhaben, mich zu erpressen: viel Glück. Ich bin nicht verheiratet, habe keine Kinder und keine Geschwister, meine Eltern sind beide schon tot, und meinen Lebensgefährten habe ich vor einem Monat nach zehn Jahren vor die Tür gesetzt. Genug Geld habe ich auch, um notfalls nie mehr arbeiten zu müssen. Wo wollen Sie also mit Ihrer Erpressung ansetzen?“

      „Aber, aber“, sagte Athene beruhigend. „Wer hat etwas von Erpressung gesagt? Das ist ein so hässliches Wort. Ich habe es nicht nötig, dich zu erpressen, sondern ich werde dich überzeugen.“

      Der Kellner kam zurück, in jeder Hand ein Tablett, und stellte Brot, Käse, Oliven, Honig und Marmelade auf den Tisch, sowie drei Tassen mit einer würzig riechenden, dunkelbraunen Flüssigkeit. Das musste Kaffee sein. Athene nahm einen Schluck; das Getränk war sehr heiß und für ihren verwöhnten Geschmack zu bitter. Es würde nicht ihr neues Lieblingsgetränk werden.

      „Die Dame wird dann auch sofort zahlen“, sagte Athene, „denn sie hat es wie gesagt eilig.“ Sie wiederholte dasselbe noch einmal auf Französisch, denn Angélique schien kein Griechisch zu verstehen. Diese fingerte widerstrebend einige Geldscheine aus ihrer Tasche, streckte sie dem Kellner hin und sagte auf Englisch: „Danke, stimmt so.“

      Als der Kellner wieder gegangen war, sagte Athene zu Madame Dugard: „Reden dauert zu lange; du hast nur noch“ – sie schaute auf die Armbanduhr – „sechzehn Minuten. Also schließ bitte deine Augen.“

      Angélique machte die Augen zu, und die Göttin sah sie um so durchdringender an. In Sekundenschnelle übertrug sie alles, was die EZB-Unterhändlerin wissen musste, in deren Gehirn. Die schlug verdutzt ihre Augen wieder auf, blinzelte mehrmals und sagte: „Was war das denn? So habe ich das alles noch nie betrachtet. Sie – haben Recht! Ich werde Sie nicht enttäuschen.“

      „Hatte ich auch nicht erwartet“, meinte Athene lächelnd. Und nun lass es dir schmecken; in vierzehn Minuten musst du im Sitzungssaal sein.“

      Giorgios hatte währenddessen bereits seinen Kaffee ausgetrunken und einiges von den Speisen verschlungen; er musste wirklich sehr hungrig gewesen sein. Athene und Angélique begannen ebenfalls zu essen, und nach wenigen Minuten sagte Letztere: „So, ich muss jetzt los. Wie gesagt, ich werde Ihre Sache würdig vertreten.“

      „Davon bin ich überzeugt“, antwortete Athene. „Viel Erfolg. Wir sehen uns später.“

      „Sollen wir irgendeinen Treffpunkt ausmachen?“, fragte Madame Dugard.

      „Nein, nicht nötig, ich werde dich finden.“

      Nachdem Angélique aufgebrochen war, wandte sich die


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