Göttersommer. Sascha Kersken

Göttersommer - Sascha Kersken


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Verlaub, das sind doch Räuberpistolen! Bloß weil Neuseeland bei der Bahnprivatisierung auf die falschen Firmen gesetzt hat, ist doch nicht das Konzept als solches schlecht. Staaten können Investitionen gar nicht mehr in dem Umfang tätigen, in dem sie für eine moderne Infrastruktur benötigt werden.

      Beispielsweise hat nur die in fast ganz Europa durchgeführte Liberalisierung des Telekommunikations­markts zum Auf- und Ausbau schneller Mobilfunk­verbindungen, Internetzugänge und Glasfasernetze geführt. Wären die Netze in staatlicher Hand verblieben, dann würden wir noch heute Wählscheiben­telefone benutzen und uns mit Akustikkopplern ins Netz einwählen.

      Außerdem muss man sich Staatsbetriebe erst mal leisten können. Und ein Land, das so sehr über seine Verhältnisse gelebt hat wie Griechenland, kann das nun einmal nicht. Also verstehe ich nicht, warum wir bei diesem Thema immer wieder eine Grundsatz­diskussion führen müssen. Sie können gar nicht anders, als zu privatisieren – es geht nur noch darum, was am besten privatisiert wird und wie wir den maximalen Profit damit herausholen können.“

      Darauf wussten Kostas und die anderen Vertreter Griechenlands nichts mehr zu sagen. Also hörten sie sich wortlos einen trockenen Vortrag von Victoria Hollister an, einer Amerikanerin, die in der Risikobewertung beim IWF arbeitete und die verschiedenen griechischen Staatsbetriebe nach Rentabilität und möglichem Verkaufswert aufschlüsselte. Zusammenfassend sagte sie schließlich: „Die höchsten Erlöse sind unseres Erachtens vom Verkauf der Flughäfen zu erwarten, die zweithöchsten von den Schiffshäfen. Bevor diese keine Käufer gefunden haben, ist der Rest die Mühe nicht wert. Es gibt ernst gemeinte Angebote, sowohl von privaten Investoren als auch von Staatsbetrieben anderer Länder. Letzteres könnte vielleicht ein Kompromiss für nostalgische Europäer sein, die staatliche Infrastruktur­betreiber bevorzugen. Die Infrastruktur wäre dann immer noch staatlich, würde aber eben von einem anderen Staat betrieben.“

      So und ähnlich ging es den ganzen Vormittag hin und her, bis Maria schließlich die Mittagspause ansagte. Sie ging mit Kostas, Nikos und dem Rest der griechischen Delegation in ein nahe gelegenes Restaurant. Kostas schlang irgendetwas hinunter und konnte sich hinterher nicht einmal mehr erinnern, was er gegessen hatte.

      Wenig später kamen die Verhandlungs­teilnehmer wieder im Sitzungssaal zusammen. Nur Norbert Voss, der sich durch die Änderung der Tagesordnung zur Hauptperson des Nachmittags gemacht hatte, fehlte noch. Maria schaute auf das Display ihres Laptops. „Wir geben ihm noch fünf Minuten“, sagte sie, „ansonsten werden wir wieder zur ursprünglich geplanten Tagesordnung zurückkehren.“

      Doch etwa drei Minuten später kam Voss herein. In seiner Begleitung befand sich ein alter, langsam und gebückt gehender Mann. Dieser war glatt rasiert und trug einen einfachen, aber sauberen und ordentlichen Anzug. Norbert überließ ihm seinen eigenen Stuhl und stellte sich dahinter. „Bitte entschuldigen Sie die Verspätung“, sagte er. „Darf ich Ihnen unseren Gast vorstellen? Das ist Alexandros Karagiannis. Er ist siebenundsiebzig Jahre alt und möchte uns seine Geschichte erzählen. Darf ich einen unserer griechischen Kollegen bitten, für uns zu dolmetschen?“

      Kostas erklärte sich bereit, die Ausführungen von Karagiannis ins Englische zu übersetzen, aber dieser meinte: „Nicht nötig. Ich kann ausreichend Englisch.“

      Er begann, zunächst etwas steif und stockend, aber dann immer flüssiger und lebendiger, zu erzählen.

      „Im Sommer 1944“, begann er, „wurde mein Heimatdorf von der deutschen Wehrmacht überfallen. Insgesamt etwa hundert Soldaten, mit Maschinengewehren bewaffnet, marschierten in jedes Haus und erschossen so gut wie alle Erwachsenen, aber auch viele Kinder. Selbst Säuglinge in den Armen ihrer Mütter wurden einfach mitermordet.

      Ich selbst war damals sechs Jahre alt und beobachtete aus einem Versteck, wie sie in alle Häuser stürmten, ich hörte die Maschinengewehr­salven und die Todesschreie. Wenn ich die Augen schließe oder wenn ich nachts wach liege und nicht schlafen kann, höre ich sie immer noch, immer wieder.

      Nachdem die Soldaten wieder weggefahren waren, lief ich zu unserem kleinen Haus. Ich fand meine beiden Eltern tot vor. Meine dreijährige Schwester Anna war zu dem Zeitpunkt glücklicherweise bei unserer Tante im Nachbardorf, sonst hätten sie womöglich auch ihrem jungen, unschuldigen Leben ein Ende gesetzt.“ Bei diesem Satz wischte er sich eine Träne aus dem Gesicht.

      „Diese Tante“, fuhr er fort, „hat dann auch mich aufgenommen und sich liebevoll um uns beide gekümmert, obwohl sie selbst drei Kinder hatte und kaum über die Runden kam, denn ihr Mann war in ein deutsches Gefangenenlager verschleppt worden und ist dort schließlich umgekommen.

      Bis heute haben meine Schwester und ich und all die anderen Überlebenden nicht einen einzigen Cent Entschädigung von Deutschland erhalten. Es hieß, das Ganze sei im Rahmen der Nachkriegs­verhandlungen pauschal abgegolten worden.“

      Nach diesem Vortrag herrschte betretenes Schweigen in der Runde. Doch dann räusperte sich Luc Verheyen und sagte: „Das ist gewiss eine tragische und rührende Geschichte. Aber eins verstehe ich nicht: was hat sie mit der heutigen Situation zu tun? Inwiefern sollten Ereignisse, die vor über siebzig Jahren stattfanden, irgendeinen Einfluss auf die jetzigen Probleme Griechenlands haben?“

      „Das will ich Ihnen sagen, meine Damen und Herren“, meldete sich Voss zu Wort, der bisher ruhig zugehört hatte. „Sie alle wissen Bescheid über die Kriegsverbrechen Deutschlands, meines Heimatlandes. Meine Vorfahren haben zwei Weltkriege angezettelt, sie haben unermessliches Leid über die Völker Europas und der Welt gebracht, millionenfachen Genozid und unzählige weitere Gräueltaten verübt. Und doch gab es nach dem zweiten Weltkrieg keine strenge Bestrafung Deutschlands, sondern zumindest im Westteil des Landes Wiederaufbau durch den Marshall-Plan, der zum so genannten Wirtschaftswunder beitrug. Ein ‚Wunder’, das nebenbei gesagt auch durch die verbrecherische Übernahme jüdischer Betriebe – euphemistisch Arisierungen genannt – und die millionenfache Ausbeutung von Zwangsarbeitern möglich gemacht wurde.

      Neben dem Marshall-Plan hat Deutschland auf einer Konferenz 1953 einen Schuldenerlass von 50% erhalten; dieser Maßnahme hat unter anderem auch Griechenland zugestimmt. Und nun kommen wir hierhin und verweigern einem Land, das all die genannten Verbrechen nicht begangen hat, sondern im Gegenteil zu dessen Opfern gehörte, eine ähnliche Hilfe.

      Bis gestern hielt ich all das auch für richtig. Sehen Sie, ich stamme aus dem Schwabenland und habe gelernt, dass jemand, der Schulden macht, diese eben auch bezahlen muss. Aber angesichts der historischen Ereignisse, als deren Zeuge Herr Karagiannis hier in unserer Mitte sitzt, kann ich nicht länger an dieser Ansicht festhalten.

      Hiermit stelle ich einen neuen Antrag: ich fordere einen Schuldenschnitt von 50% für Griechenland ohne Vorbedingungen, und zudem empfehle ich der Regierung meines Landes nachdrücklich, noch einmal eingehend darüber nachzudenken, ob die Reparationen für Griechenland und andere Länder, die Opfer des Nationalsozialismus wurden, wirklich abgegolten sind.“

      Sein letzter Satz ging beinahe im entstehenden Tumult unter; alle redeten aufgeregt durcheinander. Schließlich schlug Maria mit der Faust auf den Tisch und sagte sehr laut: „Ruhe bitte! Angesichts dieser ungewöhnlichen Entwicklung vertage ich die Verhandlung hiermit auf kommenden Montag, wie üblich um 10 Uhr morgens. Das dürfte allen Delegationen genügend Zeit geben, sich abzusprechen und ihre Anträge geordnet vorzutragen.“ Damit schaltete sie den Videoprojektor ab, klappte ihren Laptop zu, verstaute ihn in ihrer Tragetasche und verließ den Sitzungssaal.

      Die anderen Teilnehmer folgten in Gruppen, in denen weiter laut diskutiert wurde. Besonders Voss schien von seinen EU-Kollegen richtig in die Mangel genommen zu werden, bemerkte Kostas. Den armen Alexandros Karagiannis hatte man einfach sitzen lassen, also ging Kostas um den Tisch herum zu ihm und sagte: „Kann ich Sie vielleicht irgendwohin mitnehmen, Herr Karagiannis?“

      „Gern, junger Mann“, antwortete dieser. „Ich arbeite und wohne in einer kleinen Pension in einem Vorort.“

      5

      In der brütenden Hitze des Freitagnachmittags stand Andreas Papadopoulos mit seinem Kameraden Panos Stratigis in voller Montur


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