Göttersommer. Sascha Kersken
Schon morgens um neun schoben sich gewaltige Menschenmassen über den Omonia-Platz. Wo sie in entgegengesetzte Richtungen gingen, verzahnten sie sich und lösten sich wieder voneinander. Die meisten Leute wichen einander gerade noch aus, nur selten kam es zu Remplern oder gar Zusammenstößen. Athene betrachtete das Treiben missmutig. Ihr Onkel Poseidon hätte seine Freude daran, wusste sie, denn es würde ihn an das ewig wogende Meer erinnern. Sie selbst hatte nicht viel übrig für die Sterblichen; ihre Geschäftigkeit erschien ihr wie die eines Bienenschwarms.
Sie hatte zu denjenigen gehört, die im Rat der Götter gegen das Eingreifen gestimmt hatten. Darin immerhin war sie mit Poseidon einer Meinung gewesen, den Dinge außerhalb der Meere ohnehin nicht interessierten. Auch ihre Schwester Artemis wollte nichts mehr mit den Geschäften der Menschen zu tun haben. Aber schließlich hatte ihr Vater Zeus sich durchgesetzt, denn selbst seine Gemahlin Hera, die sonst aus Prinzip nie seiner Meinung war, hatte ihm dieses eine Mal zugestimmt.
Eine so große Ratsversammlung hatte es seit Jahrhunderten nicht gegeben. Zeus hatte nicht nur alle Bewohner des Olymps herbestellt, sondern auch alle Götter, Göttinnen, Halbgötter und Halbgöttinnen, die an weit entfernten Orten lebten. Und fast alle waren gekommen. Der große Ratssaal war bis auf den letzten Platz gefüllt, und viele saßen auf dem Boden oder lehnten an den goldgeschmückten Wänden. Die Bediensteten eilten durch die Reihen, um Ambrosia und Nektar zu verteilen. Alle redeten durcheinander, bis Zeus schließlich sein Zepter hob und einige Blitze schleuderte. Erst dann richteten sich alle Augen auf den alten Göttervater, der sogleich das Wort ergriff.
„Zuerst einmal danke ich euch, dass ihr alle gekommen seid“, rief er so laut, dass alle ihn hören konnten. „Ich hätte euch nicht zusammengerufen, wenn die Lage nicht so ernst wäre. Uns erreichen immer mehr besorgniserregende Nachrichten aus dem Land der uns Anvertrauten. Die Menschen stöhnen unter der Last von Schulden, die sie nicht selbst gemacht haben, und fremde Mächte verlangen Opfer um Opfer von ihnen. Das Land hat viel durchgestanden, aber genug ist genug. Ich bitte euch heute um eure Zustimmung für unser Eingreifen.“
Kaum hatte er den letzten Satz beendet, redeten wieder alle durcheinander, noch aufgeregter als zuvor. „Ruhe!“, donnerte Zeus. „Wir machen das folgendermaßen: alle, die etwas sagen wollen, stellen sich der Reihe nach auf, und es kommt einer nach dem anderen zu Wort.“
Und so hatte es über hundert Wortbeiträge gegeben, von begeisterten Kriegern wie Ares, die die Mission für eine ruhmreiche Schlacht hielten, von mitleidigen Helfern wie Hades oder Atlas und von streitlustigen Spöttern wie Eris und Hermes. Und natürlich gab es auch Reden von vorsichtigen Bedenkenträgern wie Athene selbst.
Als sie schließlich an die Reihe kam, rief sie: „Brüder und Schwestern! Wer von euch kann sich noch an das letzte Mal erinnern, dass wir uns in die Angelegenheiten der Sterblichen eingemischt haben? Ich jedenfalls erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Wir haben Odysseus auf seinen Reisen beobachtet und geleitet. Aber da wir uns nicht einig waren, ob wir ihn unterstützen oder ins Verderben stürzen sollten, und selbst diejenigen, die ihm helfen wollten, völlig verschiedene Ideen hatten, haben wir ein unermessliches Chaos angerichtet und seine Irrfahrten und Plagen schließlich sogar verlängert.
Glaubt ihr, wenn wir in eine so große Angelegenheit wie die Lage des ganzen Landes eingreifen, wird das weniger chaotisch vonstatten gehen? Ich glaube das nicht, und deshalb sage ich, lasst die Menschen das unter sich ausmachen. Ihre Lösungen mögen für uns töricht und ungerecht aussehen, aber letzten Endes müssen sie damit leben. Wir können sie nur trösten oder bestrafen, wenn sie ihr irdisches Dasein hinter sich gelassen haben.“
Genützt hatte ihre Rede nichts. Es war nicht genug, dass eine überwältigende Mehrheit für Zeus’ Vorschlag gestimmt hatte – das hätte Athene letzten Endes ignorieren können, sich einfach wieder ihren Büchern hingegeben und die anderen tun lassen, was sie für richtig hielten. Nein, das Schlimmste war, dass Zeus sie auserwählt hatte, zum Missionsteam zu gehören.
Natürlich hätte sie Nein sagen können, aber auf einen Disput mit ihrem Vater legte sie erst recht keinen Wert. Es hatte schon immer Streitigkeiten unter den Göttern gegeben, die durch ein falsches Wort zu jahrzehntelangen blutigen Kriegen werden konnten. Sie selbst hatte in vielen dieser Schlachten Heere angeführt und oft genug gesiegt. Aber im Moment hatte sie überhaupt keine Lust zu kämpfen – dann lieber diesen verdammten Auftrag annehmen, ihn ausführen und zurück zu den Büchern, dem Quell ihrer Weisheit und Freude.
Jetzt stand sie auf diesem überfüllten Platz, beobachtete befremdet das Hin und Her der Sterblichen und wartete. Sie gehörte nicht zu den Göttinnen, die sich regelmäßig unter die Sterblichen mischten, sich gar einen oder mehrere von ihnen als Liebhaber hielten. Natürlich hatte sie einst den von ihr erwählten Helden der Schlachtfelder beigestanden, auch selbst mit Lanze und Schild mitgemischt. Aber seit die Menschen in metallenen Wagen in die Schlacht fuhren und sich mit gewaltiger Feuerkraft bekämpften, machte ihr der Krieg keinen Spaß mehr. Heer gegen Heer, Frau gegen Mann, mit Schwert und Lanze, das war ihre Sache. Diese modernen Feuerspiele, die einen so gewaltigen Lärm machten und zu viele Unbeteiligte in Mitleidenschaft zogen, waren es nicht.
Sie sah auf das, was die Menschen eine Armbanduhr nannten. Diese zeigte 9:12 Uhr, also würde die Zielperson bald hier sein. Die Uhr gehörte zu ihrer Verkleidung – ihre traditionellen Gewänder hatte sie ebenso zurückgelassen wie Rüstung und Waffen. Sie trug etwas, das die Verkäuferin in dem Bekleidungsgeschäft als „Businesskostüm“ bezeichnet hatte – eine Hose aus dünnem Stoff und eine zugehörige Jacke (einen „Blazer“ hatte die junge Sterbliche sie genannt), beides in einem bläulichen Grauton, darunter eine weiße Bluse.
An den Füßen trug sie sehr unbequeme Schuhe mit hohen Absätzen, die aber nach den Worten der Frau „der dernier cri aus Paris“ seien, was immer sie damit auch meinte. Paris – ein schöner Jüngling war er gewesen, aber so töricht und leicht zu beeinflussen. Aphrodite hatte ihn mit einer List dazu gebracht, sie als die Schönste statt Hera und ihr selbst auszuwählen: die schönste Frau der Welt zum Weibe hatte sie ihm versprochen. Der verliebte eitle Gockel war darauf hereingefallen, entführte Helena, die ebenfalls in Liebe zu ihm entbrannte, und verursachte so den größten Krieg seit Generationen.
Die Frau schien aber gar nicht den trojanischen Prinzen gemeint zu haben, sondern eine Stadt auf der Erde, fast zweitausend Meilen nordwestlich von Athen.
Athen – der Gedanke an den Namen dieser Stadt machte Athene beinahe wütend. Ein grauer Betonklotz neben dem anderen, dachte sie, wie können die Sterblichen es wagen, eine so hässliche Stadt nach mir zu benennen? Natürlich wusste sie, dass die Stadt schon sehr lange so hieß und dass sie früher wunderschön gewesen war. Aber nur einige Ruinen zeugten noch von den alten Zeiten.
„Entschuldigen Sie bitte“, hörte sie plötzlich eine zittrige, dünne Stimme hinter sich. Sie drehte sich um, und da saß ein alter Mann in schmutziger, zerschlissener Kleidung auf dem Boden, den Rücken an eine Hauswand gelehnt. Er hatte zerzaustes, schütteres graues Haar und sah aus wie jemand, der seine letzte Schlacht verloren hatte. Vor ihm stand ein kleines Schälchen, in dem vier kleine Kupfermünzen lagen. Neben sich hatte er ein Paar Krücken abgelegt. „Können Sie mir vielleicht mit ein wenig Kleingeld aushelfen? Ich habe Hunger und Durst.“
„Geld habe ich leider nicht bei mir“, sagte Athene. Sie zog ein glitzerndes Fläschchen aus ihrem Beutel („Handtasche“ hatte die Verkäuferin ihn genannt) und reichte es dem Bettler. „Aber trink das hier“, sagte sie aufmunternd zu ihm. „Es wird dir gut tun.“
Der Alte nahm den Gegenstand entgegen und versuchte, den Verschluss zu drehen. Als das zu nichts führte, zog er ihn erst vorsichtig und dann kräftiger nach oben. Mit einem lauten „Plopp“ löste sich der Stopfen. Misstrauisch schnupperte der Mann an dem offenen Gefäß. Offenbar gefiel ihm der Duft, denn er lächelte. Dann führte er das Fläschchen zum Mund und ließ die enthaltene goldschimmernde Flüssigkeit hineinperlen.
Einen Augenblick lang geschah gar nichts. Doch dann streckte sich der gebeugte Rücken des alten Mannes, seine Gesichtszüge begannen sich zu glätten und sein Haar wurde dunkler und voller. Der Greis, der eben noch da gesessen hatte, war verschwunden. Stattdessen saß dort ein