Göttersommer. Sascha Kersken

Göttersommer - Sascha Kersken


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stand wieder auf, zog sein Jackett und seine Krawatte aus, legte beides auf die kleine Kommode, wofür er den Radiowecker so weit wie möglich nach hinten schob, und entledigte sich auch seiner glänzend polierten Lederschuhe. Er setzte sich wieder hin und wartete.

      Was mache ich hier eigentlich? fragte er sich. Er kannte die Frau überhaupt nicht. Und auch wenn er ihr glaubte – oder glauben wollte –, dass sie eine Göttin war, musste das ja nicht stimmen. Was, wenn sie zu einer Terrorgruppe gehörte, die ihn entführen und für seine Freilassung Geld oder Zugeständnisse erpressen wollte?

      In diesem Augenblick kam Aphrodite zurück. Sie trug eine Flasche Ouzo unter dem Arm und zwei einfache Trinkgläser in der Hand. Sie schob Norberts Jackett beiseite, stellte die Gläser auf die Kommode, öffnete die Flasche und goss Ouzo in beide Gläser. Eins gab sie Norbert, das andere behielt sie selbst. Dann setze sie sich neben ihn und sagte: „Auf dein Wohl, Norbert Voss.“

      Beide nahmen einen vorsichtigen Schluck. Voss mochte das Getränk eigentlich nicht sonderlich, aber im Moment war ihm das egal. Erwartungsvoll sah er die Göttin an.

      „Du bist ein wichtiger Mann“, bemerkte sie. „Morgen wirst du das Schicksal dieses Landes mitbestimmen. Wir Götter glauben, dass es kein Schicksal ist, sondern dass man es in eine andere Richtung lenken kann. Deshalb bist du hier.“

      Also doch! Norbert hatte es gewusst. Sie würde ihm drohen, ihn erpressen oder versuchen, ihn zu bestechen. Aber warum eigentlich ihn? Er war nur stellvertretender Staatssekretär, ein besserer Verwaltungsbeamter. Warum hatte sie ausgerechnet ihn auserkoren, und nicht den EU-Finanzkommissar, einen der Finanzminister oder gar den Kommissions­präsidenten?

      „Denk doch einmal nach“, sagte Aphrodite, als ahnte sie, was er dachte. Vielleicht wusste sie es sogar, Norbert war sich da nicht sicher. „Wenn wir die Leute manipulieren würden, die jeden Abend in euren Nachrichten und Talkshows zu sehen sind, würde das doch sofort auffallen. Ihre Kollegen oder Vorgesetzten würden an ihrer geistigen Verfassung zweifeln, sie würden zu Psychologen geschickt und untersucht, oder zumindest würde ihnen niemand mehr trauen.

      Also haben wir uns entschlossen, uns ihre Mitarbeiter vorzunehmen. Du und deinesgleichen seid der Öffentlichkeit völlig unbekannt. Aber ihr habt mehr Einfluss, als ihr glaubt. Während eure Vorgesetzten in die Kameras lächeln und allgemeine Absichts­erklärungen abgeben, handelt ihr die Details der Verträge aus, die sie dann unter tobendem Applaus oder vernichtender Kritik unterschreiben. Die meisten von ihnen lesen nicht einmal genau, was darin steht.“

      Norbert musste zugeben, dass sie Recht hatte. Verrückt oder gefährlich mochte sie sein, aber dumm war sie ganz bestimmt nicht – und das machte sie nur noch gefährlicher. Und doch fühlte er sich gleichzeitig immer noch zu ihr hingezogen und hatte das Gefühl, dass er gar nicht anders konnte, als alles zu tun, was sie von ihm verlangen würde.

      In diesem Moment hörte er das Poltern schneller Schritte, das von der Treppe und dann aus der Diele zu kommen schien. Die Zimmertür wurde aufgerissen, und zwei Männer mit raspelkurzen Haaren, breiten Schultern, schwarzen Anzügen und Sonnenbrillen stürmten herein, Pistolen im Anschlag. Leibwächter der EU-Kommission, das wusste Norbert sofort. Sie schienen ihn die ganze Zeit beschattet zu haben und waren ihm dann wohl bis in die Pension gefolgt.

      „Aufstehen und Hände hinter den Kopf!“, herrschte der Leibwächter, der als erster hereingekommen war, Aphrodite auf Englisch an, während er seinen Revolver auf sie richtete. Der andere wandte sich an Norbert und fragte: „Sind sie in Ordnung, Herr Voss?“

      Aphrodite machte überhaupt keine Anstalten, aufzustehen. Sie streckte auch ihre Hände nirgendwo hin, sondern hielt in der rechten immer noch ihr Glas und ließ die linke lässig im Schoß liegen. Mit einem engelsgleichen Lächeln wandte sie ihren Blick zu dem Mann, der sie bedroht hatte. Langsam hob sie den Kopf, und der Agent bewegte wie in Trance die Hand mit der Waffe in dieselbe Richtung. Dann nickte Aphrodite einmal heftig, und er ließ den Revolver zu Boden fallen. Mit einem schnellen Fußtritt beförderte die Göttin ihn außer Reichweite.

      Dann stand sie auf, wirbelte herum, streckte ein Bein in die Luft und trat dem anderen Agenten damit dessen Schusswaffe aus der Hand, bevor dieser überhaupt zu bemerken schien, wie ihm geschah. Dann lächelte sie auch ihn an, und er setzte sich langsam auf den Boden. „So ist es brav“, sagte sie. „Und nun werdet ihr dieses Zimmer verlassen, zu eurer Einheit zurückkehren und melden, dass Herr Voss wohlbehalten in seinem Hotel angekommen ist.“ Gehorsam stand der Leibwächter wieder auf und verließ zusammen mit seinem Kollegen das Zimmer.

      Mit aufgerissenem Mund starrte Norbert die Frau an; sie hatte absolut beherrscht gewirkt, und ihre Bewegungen übernatürlich schnell. Es konnte gar nicht anders sein: sie war kein normaler Mensch, sondern tatsächlich eine Göttin. Oder eine Dämonin, mit der man sich besser nicht anlegte.

      Sie legte Voss die linke Hand auf die verschwitzte Stirn. Augenblicklich fühlte er sich besser, erfrischt und belebt, und der Gedanke, dass sie Böses im Schilde führen könnte, erschien ihm mit einem Mal völlig absurd. „Schlaf jetzt, Norbert Voss, schlafe. Und wenn du morgen früh aufwachst, wirst du wissen, was du zu tun hast. Gute Nacht.“

      Norbert wollte antworten, aber eine angenehme Müdigkeit nahm von ihm Besitz. Er sank nach hinten aufs Bett und nahm gerade noch wahr, dass sein Kopf die Matratze erreichte und dass jemand ihm das Ouzoglas aus der Hand nahm, seine Beine hochhob und ihn dabei etwas drehte, bis er einigermaßen gerade auf dem Bett lag.

      Er war ein sechsjähriger Junge. Auf einer staubigen Straße spielte er mit einigen Kindern von nebenan Fußball. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei; die Fahrer lächelten und winkten und fuhren um die Kinder herum.

      Plötzlich war ein immer lauteres Dröhnen zu hören. Was nun kam, war kein normales Auto. Fünf oder sechs olivgrüne Pickups preschten heran, die Fahrer achteten nicht auf die Kinder, die kreischend zur Seite sprangen und wegrannten. Die Wehrmacht! Seine Eltern und der Lehrer hatten davon gesprochen. Das Herz des Jungen raste.

      Er kauerte sich hinter einen Bretterstapel am Straßenrand. Von den Laderampen der Trucks sprangen Männer mit Stahlhelmen und olivgrünen Uniformen, Maschinengewehre im Anschlag. Andere Männer mit zusätzlichen Verzierungen an ihren Uniformjacken, offenbar Offiziere, bellten Befehle in einer harten, kalten Sprache, die der Junge nicht verstand – und irgendwie doch. „Vorwärts! Verteilt euch! Lasst niemanden am Leben!“

      Die Männer schwärmten aus und marschierten auf die Häuser zu, die sich um den Dorfplatz gruppierten. Sie öffneten die Türen oder traten sie ein, wenn sie sich nicht öffnen ließen. Kurze und längere Maschinengewehr­salven und entsetzte Schreie waren zu hören. Wenig später kamen die Männer zurück, kletterten wieder auf die Trucks, wendeten und fuhren in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Einige der Häuser brannten; schwarzer Rauch stieg von ihnen auf.

      Der kleine Junge traute sich lange nicht aus seinem Versteck heraus. Schließlich stand er doch auf. Ängstlich und mit Tränen in den Augen stolperte er auf das Haus seiner Eltern zu. Die Tür hing eingedrückt in den Angeln, und er stieg hindurch. In der Stube lag sein Vater mit blutverschmiertem Hemd, auch aus seinem Mund sickerte eine dünne Blutspur. Mit glasigen, unbeweglichen Augen starrte er an die Zimmerdecke. Seine Mutter fand er in der Küche. Sie war auf einem Stuhl zusammengesunken, ihr Kopf lag auf dem Küchentisch, und auch sie war über und über mit Blut bedeckt.

      Der Junge ließ sich auf den Küchenboden fallen und schrie aus Leibeskräften. Er schrie und schrie und konnte überhaupt nicht mehr aufhören.

      Bis er schweißgebadet und mit bis zum Hals schlagenden Herzen aufwachte. Er schreckte hoch und schaute sich verwirrt und orientierungslos um. Er war kein sechsjähriger Junge mehr. Er war ... er war ... Norbert, genau. Norbert Voss, stellvertretender Staatssekretär bei der EU-Kommission. Er war in einem langweiligen Vorort von Stuttgart aufgewachsen, hatte nie einen Krieg erlebt, und seine Eltern lebten noch.

      Langsam begann er sich zu beruhigen – aber der Traum, der sich so real angefühlt hatte, ließ ihn nicht los. Draußen begann der Morgen zu grauen, und es sangen bereits Vögel. Aphrodite schien verschwunden zu sein, aber Norbert wusste genau, was er zu tun hatte.


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