Göttersommer. Sascha Kersken
sein, denn er bückte sich ein wenig, um unter dem Türrahmen durchzupassen. Er hatte lockiges, schwarzes Haar und einen eben solchen Vollbart. Statt eines Anzugs, einer Jeans oder sonstiger moderner Kleidung war er in ein wallendes, weißes Gewand gehüllt. Um die Hüften trug er einen breiten Gürtel mit einer goldenen Schnalle, an dem allen Ernstes eine bronzene Schwertscheide befestigt war, in der wiederum ein ziemlich langes Schwert steckte. In der rechten Hand hielt er einen hölzernen Stab, der fast so lang war wie er selbst und dessen Messingkopf reich mit Ornamenten verziert war. Seine riesigen Füße steckten in Sandalen, die bis fast zu den Knien hoch geschnürt waren.
„Guten Abend“, dröhnte der Riese. „Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.“
„Hören Sie, wenn das ein Scherz sein soll, dann ist er nicht sonderlich gelungen“, brauste Dustin auf. „Wer sind Sie? Und was haben Sie in meinem Hotelzimmer verloren? Sind Sie einer von diesen Typen, die sich als Krieger verkleiden und auf diese Comicmessen gehen? Mein Neffe ist auch so einer; der hat sich sogar mal von Kopf bis Fuß grün angemalt, weil er so aussehen wollte wie dieser, ähm, Hulk.“
„Schweig, Sterblicher!“, donnerte der Mann und stampfte dabei mit seinem Stab auf den Boden.
Der Page blickte sehr verlegen von dem Riesen zu Dustin und wieder zurück, dann räusperte er sich und stammelte, zum Riesen gewandt: „Ich muss Sie auffordern, das Zimmer unseres Gastes zu verlassen, Sir.“
Das schien den Bärtigen zu belustigen. Mit einem unterdrückten Kichern sagte er zu dem Pagen: „Du gefällst mir, Junge. Du hast Mut.“ Mit diesen Worten legte er den Stab auf dem Bett ab, trat auf den Pagen zu, legte ihm beide Hände an die Schläfen und flüsterte etwas in einer Sprache, die Graham nicht verstand. Sofort schien alle Verlegenheit von dem Jungen abzufallen.
„Verrätst du uns deinen Namen?“, fragte der merkwürdige Mann den Pagen.
„Ich bin Christos, o Herr“, antwortete er.
„Ein schöner Name“, bemerkte der Angesprochene. „Sei bitte so gut und hol noch zwei Gläser, mein Junge“, bat ihn der Große in einem beinahe väterlichen Tonfall. Gemessenen Schrittes machte sich Christos auf den Weg.
„Nun zu dir, Dustin Robert Graham“, sagte der Fremde dann. „Setz dich, wir müssen reden.“ Er wies mit ausgestreckter Hand auf das Bett. Dustin wollte eigentlich protestieren, den Mann auffordern, ihn in Ruhe zu lassen oder die Polizei rufen, aber irgendetwas an der Präsenz des imposanten Mannes schien nichts davon zuzulassen. Also setzte er sich gehorsam auf das Bett und starrte den Anderen mit einer Mischung aus Neugier und kalter Wut an. Der setzte sich rittlings auf den Stuhl, verschränkte seine gewaltigen Unterarme auf der Rückenlehne und begann wieder zu sprechen.
„Ich muss zugeben, dass ich dir gegenüber im Vorteil bin“, erklärte er. „Ich kenne dich, aber du hast keine Ahnung, wer ich bin. Nun, mein Name ist Hades; ich herrsche seit Äonen über die Unterwelt.“
Das war zu viel. Präsenz hin oder her – Dustin sprang auf, ging einige Schritte auf den Typen, der sich Hades nannte, zu, schaute ihn auf eine Weise an, von der er hoffte, dass sie bedrohlich wirkte, und sagte sehr langsam und sehr deutlich: „Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Sie kommen in mein Hotelzimmer, das nebenbei bemerkt pro Nacht mehr kostet, als Sie vermutlich im Monat verdienen, und dann behaupten Sie einen solchen Unsinn?“
Der angebliche Hades sagte gar nichts. Er sah Dustin lediglich ruhig, aber durchdringend an. Und obwohl er seine Lippen nicht bewegte, hörte Dustin im Inneren seines Kopfes die Stimme des Riesen, die so noch viel bedrohlicher klang als zuvor: Du weißt, dass ich es bin, Dustin. Du hast es gewusst, seit ich dein Zimmer betreten habe. Also setz dich wieder hin, schweig, und hör mir zu!
Er konnte sowieso nichts anderes tun, als sich hinzusetzen – urplötzlich war ihm schwindlig, und er hatte rasende Kopfschmerzen. Sein Mund war trocken und seine Hände begannen unkontrolliert zu zittern.
Bevor Hades etwas sagen konnte, kam Christos zurück. Er stellte ein anderes Silbertablett mit zwei weiteren Kristallgläsern auf den Tisch, öffnete gekonnt die Flasche und schenkte in alle drei Gläser Champagner ein. Er nahm das Tablett mit den beiden neuen Gläsern und hielt es zuerst Hades vor die Nase, der ein Glas nahm, und ging anschließend die wenigen Schritte zum Bett, um auch Dustin ein Glas zu geben. Schließlich ergriff er sein eigenes Trinkgefäß und erhob es. „Auf dein Wohl, Hades!“, rief er und nahm einen kräftigen Schluck.
„Auf die Sterblichen!“, sagte Hades, führte sein Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug. „Man kann über euch sagen, was man will“, bemerkte er dann, während er sich mit dem Handrücken den Mund abwischte, „aber von edlen Getränken versteht ihr etwas.“
Zögernd hob auch Graham sein Glas, sagte „Prost“ in keine bestimmte Richtung und nippte vorsichtig am Champagner. Normalerweise mochte er das Getränk, aber jetzt kam es ihm vor wie bittere Medizin.
Christos setze sich auf die andere Seite des Bettes und sah Hades erwartungsvoll an. Offenbar machte dieser merkwürdige Kerl dem Jungen nicht die geringste Angst, während Dustin immer noch nicht wusste, was er von ihm halten sollte.
„Du fragst dich berechtigterweise, was ich überhaupt von dir will, Dustin“, begann Hades. „Ich will es dir verraten. Wir Götter betrachten seit einiger Zeit mit großer Sorge, was mit dem Land geschieht, das uns vor so vielen Jahrtausenden anvertraut wurde.
Natürlich war es auch vorher nicht immer friedlich – die Stämme Griechenlands haben sich unzählige Male untereinander bekriegt, fremde Mächte haben das Land immer wieder erobert, und es herrschten Hungersnöte und Naturkatastrophen. Aber so arg wie in den letzten Jahren war es nie – es ist, als hätten die Menschen allen Mut und alle Hoffnung verloren, während ihr Land ihnen unter den Händen entrissen und an kleingeistige Krämer aus aller Welt verkauft wird. An Krämer wie dich, Dustin Graham.“
Dustin räusperte sich, aber der Gott brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.
„Wir haben lange diskutiert“, fuhr er fort, „ob wir eingreifen sollen, denn das haben wir seit den Tagen des trojanischen Krieges und Odysseus’ nicht mehr getan. Aber ihr lasst uns keine Wahl. Wir können nicht länger tatenlos zusehen. Eurer unseligen Herrschaft muss ein Ende gemacht werden. Du, Dustin Graham, bist unser auserwähltes Werkzeug.“
Dustins Gedanken rasten hinter seinen pochenden Schläfen. Die griechischen Politiker hatten ihr Land doch selbst in diese Situation gebracht, in der es nur noch durch Finanzhilfen seines IWF und anderer Institutionen überleben konnte. Oder nicht?
Er war doch hierhin gekommen, um mitzuhelfen, eine Lösung für das Problem zu finden. Dass diese Lösung nicht ohne Opferbereitschaft der Schuldner – also Griechenlands und seiner Bevölkerung – funktionieren konnte, das war doch nun wirklich nicht seine Schuld. Er war ein fleißiger und korrekter Beamter, der stets seine Pflicht tat. Er hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen, oder?
Verwirrt nahm er einen weiteren Schluck Champagner, diesmal einen größeren. Er schmeckte immer noch nicht, aber Dustin trank den Rest im Glas in einem langen Zug aus.
„Du bist ein fleißiger und korrekter Beamter, der stets seine Pflicht tut“, begann Hades weiterzusprechen. Konnte der Kerl etwa Dustins Gedanken lesen? Er war sich nicht mehr sicher, was er glauben sollte. Er stand auf, ging mit zitternden Knien zum Schreibtisch und goss sich sein Glas noch einmal voll. „Sonst noch jemand?“, fragte er die beiden anderen.
„Sehr gern“, antwortete Hades und streckte ihm die Hand mit dem Glas entgegen. Dustin füllte auch sein Glas. Der Gott hob es prostend und nahm dann einen kleineren Schluck als zuvor.
„Danke, für mich nicht“, sagte Christos. „Ich muss morgen sehr früh aufstehen. Ich arbeite im Moment Doppelschichten. Meine Mutter ist sehr krank, und die Kosten für ihre experimentellen Medikamente werden nicht übernommen.“
„Siehst du, das meine ich“, rief Hades, mit der offenen Handfläche auf Christos weisend. „Er bedient Menschen wie dich von vorn bis hinten, und zum Dank lässt man seine Mutter an einer eigentlich harmlosen Krankheit verrecken. Eine Schande ist das.“ Er stellte