Göttersommer. Sascha Kersken

Göttersommer - Sascha Kersken


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gewählte Ausdrucksweise deutete darauf hin, dass er vor seiner Verbrecherkarriere ein anderes Leben gekannt hatte. Und das stimmte auch, wie Athene wusste. „Fangen wir mit den Paketdiebstählen an, als du noch bei der Post beschäftigt warst“, sagte sie leichthin. „Als dein kleines Betrügernetzwerk dort aufflog, seid ihr alle gefeuert worden, nicht wahr?“

      „Was geht Sie das überhaupt an?“, wollte Johnny erneut wissen. „Seid ihr Bullen, oder was?“

      „Nein, mit der Polizei haben wir nichts zu tun. Aber ich mag es nicht, wie die Dinge in meiner Stadt laufen – Verbrecher wie du laufen frei herum und machen anderen das Leben zur Hölle, während Leute, denen außer Betteln nichts übrig bleibt, noch nicht einmal ihre bescheidenen Almosen behalten können, weil du sie ihnen entreißt.“

      „Hey! Das ist ein fairer und freiwilliger Deal!“, versuchte er sich zu verteidigen. „Ich stelle nur sicher, dass die Leute in meinem Bezirk unbehelligt betteln können. Ich verteidige sie vor Banden, warne sie, wenn die Bullen kommen, und so weiter. Natürlich kostet das Ganze eine Kleinigkeit – wie alle Dienstleistungen.“

      Giorgios schnaubte verächtlich. Bisher hatte er sich im Hintergrund gehalten, aber nun stellte er sich neben Athene und sagte: „Kleinigkeit? Sind 80 bis 90 Prozent eine Kleinigkeit? Und was die Freiwilligkeit angeht, kann ich mich gut an Petros und sein gebrochenes Bein erinnern, oder an die geplatzte Oberlippe von Angeliki. Und das war beides letzte Woche.“

      Der Verbrecher sah in misstrauisch an. „Wer bist du? Woher weißt du das?“

      „Sagen wir einfach“, erklärte Giorgios, „wir sind uns schon mal über den Weg gelaufen. Da sah ich noch etwas anders aus als jetzt.“

      Johnny blickte hinter sich in den Durchgang und schnippte mit den Fingern. Sofort kamen drei muskulös und brutal aussehende Männer mit kurz rasierten Schädeln angelaufen und bauten sich hinter ihrem Anführer auf.

      „Oh, deine Gorillas sind auch hier“, meinte Giorgios. „Stelios. Michalis. Narben-Kostas. Wie geht’s euch?“

      Noch einmal schnippte Johnny mit den Fingern. Sofort setzten die drei Schläger sich in Bewegung und bauten sich drohend vor Athene und Giorgios auf. „Verpisst euch“, sagte der Mittlere, „solange ihr noch könnt!“

      Keine wirklichen Gegner, dachte Athene etwas gelangweilt. „Verjagt uns doch, wenn ihr könnt“, sagte sie herausfordernd. Daraufhin packten zwei von ihnen Giorgios bei den Armen und zerrten ihn in Richtung Johnny, während der Dritte vor Athene stehen blieb und noch näher kam. Er roch nach Schweiß und Alkohol, beugte sich noch näher zu ihr, schaute sie anzüglich von oben bis unten an und grunzte: „Wenn wir mit deinem Freund fertig sind, werde ich es dir tüchtig besorgen. Und er wird zuschauen.“

      Einen Moment später krümmte er sich vor Schmerzen und wimmerte, denn Athene rammte ihm ein Knie zwischen die Beine. Gleich darauf versetze sie ihm mit der flachen Hand einen Stoß gegen die Brust. Er taumelte rückwärts, fiel auf den Hosenboden und prallte mit dem Hinterkopf gegen die Mauer. Benommen sank er in sich zusammen.

      Währenddessen wandte Athene sich den beiden anderen Männern zu, die Giorgios immer noch festhielten. „Ich sage es nur einmal: lasst ihn los!“, sagte sie. Einer der beiden zog mit der freien Hand ein Messer aus seinem Gürtel und hielt Giorgios die Klinge an die Kehle.

      „Eine Bewegung, und dein Kumpel ist tot!“, sagte er mit unterdrückter Wut. Er hatte den Satz noch nicht beendet, als Athene ihm bereits mit einer blitzschnellen Bewegung das Messer aus der Hand gerissen und es achtlos hinter sich geworfen hatte. Ebenso schnell versetzte sie jedem von ihnen einen gewaltigen Fausthieb unters Kinn. Beide ließen Giorgios los, taumelten einen Moment lang verwirrt hin und her und sanken schließlich bewusstlos zu Boden.

      „War das deine ganze Armee?“, fragte Athene Johnny, der sich die Szene stumm und gegen Ende offenbar etwas verängstigt angeschaut hatte. Der Angesprochene verschwendete keine Zeit und wandte sich dem Durchgang zu, um davonzulaufen. „Nicht so schnell“, rief Athene ihm nach. Ohne die geringste Anstrengung lief sie einige Schritte hinter ihm her, packte ihn bei seinen Goldketten und zog ihn zurück vor den Durchgang. Mit einer weiteren energischen Bewegung zog sie ihn zu Boden, wo er sitzen blieb und nach Luft rang.

      In diesem Moment kam einer beiden Männer, die Giorgios festgehalten hatten, wieder zu sich und hielt sich stöhnend das blutende Kinn. Langsam rappelte er sich auf und machte Anstalten, das Weite zu suchen, aber Giorgios stellte ihm ein Bein, und er fiel erneut zu Boden.

      „Bist du jetzt bereit, zu reden?“, fragte Athene den Anführer.

      „Ja, ja, schon gut“, meinte dieser. „Sie haben uns besiegt. Wir hauen ab, und der Bezirk gehört Ihnen.“

      „Ich habe nicht das geringste Interesse an diesem Bezirk“, bemerkte die Göttin. „Zumindest nicht mehr als am Rest der Stadt. Ich bin Athene, und diese heruntergekommene Stadt wurde nach mir benannt. Heruntergekommen ist sie wegen armseliger Wichte wie dir, Johnny. Ich werde sie von deinesgleichen befreien, um ihr zurück zu ihrem früheren Glanz zu verhelfen.“

      Verdutzt schaute Johnny zwischen Giorgios und ihr hin und her. Schließlich wandte er sich an ersteren: „Deine Boss-Lady ist total verrückt, oder?“

      „Weniger verrückt als du“, antwortete sein früherer Untergebener. „Ich glaube, du erkennst mich nicht mehr. Ich bin Giorgios Angelopoulos. Bis heute Morgen habe ich für dich gebettelt, am Omonia-Platz.“

      „Du verarschst mich doch!“, sagte Johnny aufgebracht. „Der ist doch mindestens hundert Jahre alt und hinkt.“

      „Und hat ein auffälliges Muttermal an der linken Schulter, nicht wahr?“, schaltete sich Athene ein. Giorgios schob den Kragen seines T-Shirts nach links und entblößte die Schulter, wo sich ein fast sternförmiges Muttermal befand.

      Ungläubig öffnete der Gangsterboss den Mund, schloss ihn wieder, weil er vermutlich nichts zu sagen wusste, und wiederholte dieses Mienenspiel mehrmals, bis er beinahe wie ein großer, hässlicher Fisch aussah. „Scheiße!“, war das einzige Wort, das er danach zustande brachte.

      „Wir haben zwei Möglichkeiten“, sprach die Göttin weiter. „Entweder du arbeitest mit deinen Leibwächtern ab sofort für mich, oder du verschwindest noch heute aus Athen und lässt dich nie wieder hier blicken.“

      „Ich würde ihm nicht anbieten, in deine Dienste zu treten“, bemerkte Giorgios. „Er würde dich bei der ersten Gelegenheit verraten.“

      „Nein, verdammt noch mal“, rief Johnny beinahe verzweifelt, „ich habe doch gesehen, zu was sie fähig ist. Sie hat meine drei besten Leute niedergemäht wie dürres Stroh und hat dich vom verkrüppelten alten Knacker zum jungen, starken Kerl gemacht. So bescheuert bin ich nicht, mich mit so jemandem anzulegen.“

      „Glaub ihm kein Wort!“, beharrte Giorgios, zu Athene gewannt.

      „Wir verschwinden aus Athen. Sofort“, sagte Johnny schließlich leise. Er trat seine Helfer abwechselnd in die Rippen, bis sie sich verdattert aufrappelten, und herrschte sie an: „Aufstehen, ihr Faulpelze! Wir müssen weg. Jetzt sofort!“

      Die drei standen mühsam auf und stolperten hinter Johnny her, der durch den Fußgängerweg von dannen zog.

      „Und keine faulen Tricks!“, rief Athene ihnen hinterher. „Ihr wisst, dass ich euch finde, falls ihr euch irgendwo in Athen aufhaltet! Und wo auch immer ihr hingeht: wenn euch dort nichts Besseres einfällt, als arme Menschen auszubeuten, werden wir uns ebenfalls wiedersehen.“

      Sie wandte sich an Giorgios: „Komm. Wir werden uns jetzt wieder mit Madame Dugard treffen.“

      Eine Viertelstunde später saßen sie mit Angélique in einem Straßenrestaurant und aßen zu Abend. Sie sprachen Englisch, die einzige Sprache, die sowohl der frühere Bettler als auch die französische Bankerin beherrschten. Angélique erzählte ihnen, wie die ungewöhnliche Verhandlungsrunde des Tages verlaufen war, und Giorgios berichtete, wie Athene seinen ehemaligen Peiniger Johnny und dessen Bande aus der Stadt verjagt hatte.


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