Lautlos. Hans J. Muth
Hause zurückgekehrt.“
„Nun mal eins nach dem anderen, Herr Brunner. Ihre Frau ging gestern Abend zu Probe. Was für eine Probe meinen Sie?“
„Vera singt im Projektchor des städtischen Theaters. Demnächst steht ein großer Auftritt bevor. Aber dort ist sie nicht erschienen. Sie hängt an diesem Chor und würde nie eine Probe verpassen.“
„Waren Sie zuhause, als sie ging? Haben Sie auf sie zuhause gewartet?“
Ich wartete gespannt auf die Antwort und sah Brunner prüfend an.
„Nein, ich hatte Nachtdienst, in der Stadtklinik. Chirurgie. Eine Mitsängerin im Chor, oder besser gesagt, Veras Freundin, hat mich im Krankenhaus angerufen und informiert. Ich bin sofort nach Hause gefahren und habe nach ihr gesucht.“
„Sie war also nicht dort“, stellte ich fest. „Haben Sie bei Bekannten, Freunden nachgefragt? Oder hatte Ihre Frau doch etwas anders vor an diesem Abend?“
„Was meinen Sie? Was soll sie denn vorgehabt haben?“ Brunner starrte mich mit großen Augen an. „Ach, jetzt weiß ich, was Sie meinen. Nein, nein, meine Frau hat keine Liebschaft. Wir lieben uns. Das ist ausgeschlossen. Außerdem, wenn es so wäre, hätte sie mich spätestens heute darüber aufgeklärt. Aber einfach so wegbleiben? Nein, das tut meine Vera nicht.“
„Gut.“ Ich resignierte vorerst ob dieses großen Vertrauensbeweises. Mehr fiel mir im Moment dazu nicht ein. Ich dachte an die tote Frau in der Gerichtsmedizin.
„Haben Sie ein Foto Ihrer Frau dabei“, fragte ich und hoffte, dass es das Bild einer Frau sein würde ohne eine Ähnlichkeit mit der Toten.
Brunner nahm seine Briefmappe aus der Tasche seines grauen Sakkos, unter dem er nur ein weißes Hemd trug, das Hemd, das er offensichtlich auch unter seiner Dienstkleidung zu tragen pflegte.
Nach dem Nachtdienst hatte er sich wahrscheinlich nicht mehr umgezogen, sondern war in der Gegend umhergeirrt und hatte überall nach Vera gesucht. Eine Vermisstenanzeige zu erstatten war ihm sicher erst gegen Mittag in den Sinn gekommen, zu sehr müssen seine Gedanken mit der Suche beschäftigt gewesen sein.
Er reichte mir das Foto, das seine Frau lachend im Vordergrund der Mariensäule und der Weite der Stadt tief im Tal dahinter zeigte und sah mich erwartungsvoll an.
„Das Foto ist noch nicht alt“, sagte er, den Blick nicht von dem Bild lassend. „Vielleicht drei Monate“, fügte er schließlich hinzu.
Ich blickte auf das Bild und spürte die fragenden Augen Brunners auf mich gerichtet. Ich spürte sie, ohne dass ich zu ihm hinübersah. Meine Augen tasteten das Gesicht Veras ab, meine Gedanken bauten das Bild der Toten vor mir auf. Ich fühlte mich erleichtert. Die Frau auf dem Foto war nicht die Tote in der Gerichtsmedizin.
Ich atmete tief durch und sah Brunner direkt und freundlich an.
„Darf ich das Foto behalten? Sie bekommen es natürlich zurück. Der Kollege“, ich blickte in Laufenbergs Richtung, „wird die Vermisstenanzeige aufnehmen. Danach werden wir eine Suchmeldung herausgeben.“
„Eine Suchmeldung? Sie meinen …?“
„Herr Brunner, wir machen Folgendes: Unsere Fahndung wird sich, sagen wir mal für die nächsten vier Stunden, auf die polizeiliche Suche beschränken. Vielleicht ist Ihre Frau heute Abend ja wieder bei Ihnen zu Hause. Dann sagen Sie uns Bescheid und alles ist wieder in Ordnung.“
„Was ist, wenn sie … wenn sie heute Abend nicht wieder zu Hause ist? Ich muss doch wieder zum Nachtdienst.“
Die Frage Brunners klang weinerlich und ich beeilte mich, ihm den Werdegang zu erklären. „Dann werden Sie uns davon in Kenntnis setzen. Wir werden die lokale Presse und andere Medien einschalten, daran werden wir nicht vorbeikommen. Hören Sie, sobald wir hier fertig sind, gehen Sie nach Hause und legen sich etwas hin. Ein Arzt sollte doch ausgeruht sein bei seiner Arbeit, nicht wahr. Wenn sich etwas tut, werden wir Sie sofort benachrichtigen.“
Kaum hatte Brunner mein Büro verlassen, läutete das Telefon.
„Nette, du?“, wunderte ich mich, denn Antoinette rief mich selten auf meiner Dienststelle an und wenn, dann entschied sie sich für mein Mobiltelefon. „Sei mir bitte nicht böse, ich stecke in einem Fall, der mich sehr beansprucht, aber heute Abend …“
„Ich war heute beim Arzt“, hörte ich Nette sagen, ohne dass sie auf meine Bemerkung einging. Dann stockte sie. „Wann kommst du nach Hause?“
Ich wunderte mich über ihre Frage, obwohl ich eingestehen musste, dass ich in letzter Zeit kaum regelmäßigen Dienstschluss und damit kein geregeltes Nachhausekommen vorweisen konnte. Doch gleichzeitig beschlich mich ein Gefühl der Beklemmung. Was meinte sie? Noch nie hatte sie mich danach gefragt, wann ich nach Dienstschluss bei ihr sein würde. Ich überlegte kurz, warum sie mir von ihrem Arztbesuch erzählt.
„Möchtest du, dass ich nach Hause komme, jetzt gleich?“, hörte ich mich leise fragen. „Es ist kein Problem, eine Stunde wird man mich hier entbehren können.“
Ich höre ein leises Lachen in der Leitung. „Nein, mein Lieber, es geht schon. Wir sehen uns ja heute Abend, bis dahin ist es nicht mehr lange. Oder hast du vor Überstunden zu machen?“
Es klang nicht ängstlich oder vorwurfsvoll. Es klang wie eine normale Frage. Dennoch fühlte ich, dass etwas nicht so war wie immer.
„Ich bin pünktlich heute“, sagte ich leise. „Ich freue mich auf den Abend.“
Als ich den Hörer auflegte, sah ich in die fragenden Gesichter von Alexander Laufenberg und Simone Esslinger.
„Alles okay“, versicherte ich ihnen und bemühte mich zu lächeln. „Aber egal, was heute noch geschieht: Ich werde pünktlich Feierabend machen.“
Kapitel 9
Er hasste den Geruch der Schule und des Klassenzimmers ebenso wie den der Tafel hinter dem Lehrerpult, die jeden Morgen frisch eingeölt wurde, so dass die Kreidezeichen oftmals kaum darauf zu lesen waren.
Er hasste auch die Kinder, die am frühen Morgen die Klassenräume stürmten, als wüssten sie nicht, was ihnen bevorstünde. Zu seiner Genugtuung aber verflüchtigte sich diese Fröhlichkeit zu der Stunde, für die „sie“ in der Klasse auftauchte.
Sie, das war die Lehrerin, die gleich drei Fächer unterrichtete und die man deswegen auch am längsten während des Unterrichtsmorgens ertragen musste.
Sie, das war die Frau, die ungefähr so alt war wie seine Mutter und die er auch in vielen Dingen mit ihr gleichstellte. Es war ihre Stimme, es war ihr großer Mund und es waren die schlechten Zähne, an die sich sein Blick dann heftete, wenn er seine Gedanken abschaltete, um damit die Geräusche zu eliminierten, die das Innere in seinem Kopf sonst zum Bersten gebracht hätten.
Heute geschah es bereits in der ersten Unterrichtsstunde, als sie ihn nach vorne rief, um ihn eine Rechenaufgabe an der Tafel lösen zu lassen. Doch seine Gedanken waren nicht bei der Aufgabe, sie waren bei ihrer Stimme, dieser impertinenten und hohen Stimmlage.
„Du hast wieder deine Aufgaben nicht gemacht. Es ist immer dasselbe mit dir, allein, es ist ja auch kein Wunder, bei deiner Erziehung. Deine Mutter sollte sich mehr um dich kümmern. Aber die hat ja andere Dinge im Kopf. Immer sind es nur ...“
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf sein eigenes Ich. Die lamentierende Stimme geriet mehr und mehr in den Hintergrund, bis er sie kaum noch wahrnahm. Er öffnete seine Augen, um ihr in das Gesicht zu blicken. Er sah ihren großen Mund, wie er sich zum Formen der Worte öffnete und schloss. Er sah ihre schlechten Zähne, die aufgerissenen Augen und er fragte sich, ob ihr Hass größer war als der seine.
Er spürte eine Wärme an seinem rechten Bein und senkte seinen Blick langsam nach unten. Eine kleine Pfütze hatte sich zwischen seinen Schuhen gebildet und er sah, wie sie mehr und mehr an Umfang zunahm. Er sah nach oben in das erschrocken-erstaunte Gesicht dieser Person und blickte in ein Drachengesicht