Lautlos. Hans J. Muth
Körper.
Die Gestalt hatte sich ihr nun so weit genähert, dass sie mehr als nur die Konturen erkennen konnte. Sie trug einen Kittel. Einen dunklen Kittel, keinen weißen, das konnte Vera erkennen.
Das ist kein Arzt, dachte sie. Als sie ihren Kopf anhob, um in das Gesicht der Gestalt zu sehen, blickte sie in ein dunkles Loch in der Öffnung einer Kapuze. Das Licht im Hintergrund und die Dunkelheit des Raumes verhinderten auch nur annähernd die Identifizierung dessen, was hinter der dunklen Öffnung lag.
Die Gestalt blieb am Fußende stehen und beugte sich leicht nach vorne. Vera wollte sich nach hinten wegbewegen, doch die Fesseln an den Füßen machten jede Bewegung in diese Richtung unmöglich.
„Ich sehe dich sprachlos“, flüsterte die Gestalt und beugte sich ein kleines Stück weiter nach vorne. Ein leises Lachen begleitete die zynische Bemerkung und Vera konnte immer noch nicht erkennen, ob es sich bei der Gestalt um einen Mann oder eine Frau handelte. „Glaub mir, es tut dir selbst gut, wenn deine Stimme nun zur Ruhe kommt.“
Der Atem der Person begann schneller zu werden. „Hast du mit dieser Stimme deine Kinder eingeschüchtert, deinen Mann angeschrien? Wer alles würde es mit Genugtuung sehen, dass deine Anstrengungen, auch nur ein Wort herauszubekommen, kläglich scheitern? Du wirst niemanden mehr anschreien, niemanden mehr beschimpfen.“
Die Stimme wurde lauter, erhob sich zu einem heiseren Krächzen.
„Ich besitze deine Stimme, mir gehört dein Schrei, dieser Ausdruck deiner Wut.“
Die Gestalt richtete sich langsam auf und bewegte sich rückwärts auf die Tür zu. Der helle Hintergrund vergrößerte sich erneut Stück für Stück.
Die Stimme war wieder zu einem Flüstern hinab gesunken. Vera sah das Gesicht der Gestalt im Gegenlicht immer noch nicht. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass die unsichtbaren Augen die ihren wie eine Feuerlanze durchbohrten. Sie riss an den Fußfesseln, versuchte erneut zu schreien. Und wieder durchflutete ihre Kehle ein brennender Schmerz. Doch sie hörte unter der Kapuze nur ein mitleidiges Lachen.
„Bemühe dich nicht“, raunte die Stimme. „Deine Worte sind für immer von dir gegangen.“
Kapitel 7
Es war bereits die dritte Nachtschicht hintereinander, die Dr. Frederik Brunner in dieser Woche zu absolvieren hatte. Er konnte nichts dagegen tun. Hier in der Stadtklinik zu kündigen, um sich an einem anderen Krankenhaus zu bewerben, würde den Spruch ‚Vom Regen in die Traufe‘ bestätigen. Für ihn war die Situation bedrückend, so wie bei den meisten jungen Ärzten in den deutschen Krankenhäusern. Leistungsverdichtung, Reduzierung von Planstellen und Kostendruck führten zu unerträglicher Arbeitsbelastung. Zudem hatte er einen befristeten Arbeitsvertrag, der einherging mit zahlreichen unbezahlten Überstunden.
Vera, seine Ehefrau, sah er nur noch sporadisch und wenn er es tatsächlich schaffte, einige Stunden zu Hause zu verbringen, dann war er der Sklave seines Telefons, das stets griffbereit in seiner Nähe lag.
„Wenn du willst, übernehme ich für eine Stunde deinen Dienst“, hörte er in seine Gedanken hinein die Stimme seines Kollegen Frank Lauterbach. Frank hatte das kleine Büro, das ihnen auch als Aufenthaltsraum diente, fast lautlos betreten, was an seinen weißen Sportschuhen mit den weichen Sohlen lag.
Frederik Brunner drehte sich zu Frank herum und sah ihn an. Frank war etwa in seinem Alter, um die dreißig, ein hochaufgeschossener, schlaksiger Mann, einen Kopf größer als er selbst. Sein Arztkittel, der um seine Hüften schlackerte, schien eine Nummer zu groß.
Frank sah ihn freundlich an und es erschien Frederik, dass bei ihm von Müdigkeit keine Spur vorhanden war.
„Du bist doch genauso lange wie ich auf den Beinen, Frank. Ich verstehe das nicht. Wie schaffst du es nur, das alles hier so wegzustecken?“
Frank zog sich einen Stuhl bei und setzte sich. Frederik tat es ihm gleich und obwohl er auf eine Antwort wartete, wusste er, dass er eine solche nicht erhalten würde. Frank hatte die gleichen Probleme wie er selbst, nur dass man sie ihm optisch nicht so ansah. Vielleicht kam er auch mit weniger Schlaf aus. Viel Schlaf hatte er, Frederik, immer schon gebraucht. Manchmal ertappte er sich sogar bei dem Gedanken, das hier alles hinzuwerfen und irgendwo in die Forschung zu gehen, dorthin, wo ihm ein geregelter Dienst winkte. Freilich verflogen diese Gedanken immer wieder schnell. Er war Arzt und er war dies gerne. Es waren die Umstände, die ihn zweifeln ließen, mal mehr, mal weniger.
„Leg dich etwas hin“, sagte Frank erneut und zeigte auf eine der beiden zusammenklappbaren Liegen, die sie in dem Büro für solche Fälle aufgestellt hatten. „Wir haben eine Verantwortung unseren Patienten gegenüber, das brauche ich gerade dir nicht zu sagen. In einer Stunde wecke ich dich. Bis dahin werde ich das schon alleine schaffen.“
Frederik nickte und stand auf. Dankbar legte er seine Hand auf die Schulter seines Kollegen und schlurfte zur Liege. Doch bevor er sie erreichte, läutete das Telefon.
„Lass nur“, sagte Frank und gab ihm ein Zeichen, sich niederzulegen. Er hob den Hörer auf und lauschte kurz. Dann zuckte er entschuldigend mit den Schultern.
„Ist für dich. Du solltest rangehen.“ Er hielt ihm den Hörer hin.
Frederik atmete tief durch. „Brunner?“
„Hallo Frederik, es tut mir leid, aber ich würde dich nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre. Es geht um Vera.“
„Vera?“
Brunner erstarrte und sah zu Frank hinüber. „Was ist mit Vera, Claudia?“
Claudia Petry war eine Freundin von ihm und seiner Ehefrau und genau wie sie seit Jahren Mitglied im Projektchor des Trierer Stadttheaters. Sie war oft bei ihnen zuhause, zum Abendessen oder zu anderen Anlässen. Sogar gemeinsame Urlaube hatte Vera mit Claudia verbracht und Frederik war froh über jede Gelegenheit, die sich bot, seiner Frau eine Abwechslung zu verschaffen, während er im Krankenhaus seinen grenzenlosen Pflichten nachkam.
„Vera ist heute nicht zur Probe erschienen, Frederik. Ist sie krank? Ich möchte dich nicht beunruhigen, doch es ist einfach noch nie vorgekommen, dass sie unentschuldigt gefehlt hat. Sie hat immer …“
„Hast du schon bei uns zuhause angerufen, Claudia? Sie muss dort sein. Vielleicht ist es ihr nicht gut und sie hat sich hingelegt. Ich weiß, wie tief sie schlafen kann“, unterbrach sie Brunner.
Es entstand eine kleine Pause, bevor Claudia sich wieder meldete. „Ich habe angerufen, eben gerade, als die Probe beendet war. Es meldet sich niemand. Kannst du es nicht einmal versuchen?“
„Ja, natürlich“, antwortete Frederik fahrig. „Danke für den Anruf, Claudia.“
Dann legte er auf und sah Frank nachdenklich an. „Vera ist heute Abend nicht zur Gesangsprobe erschienen und Claudia sagt, zu Hause geht niemand ans Telefon.“
Während er das sagte, griff er zum Hörer und wählte die Nummer des Anschlusses in seiner Wohnung.
Das Telefon läutete durch, mehrmals. Frederik wartete, bis das Besetztzeichen ertönte. Anschließend wählte er die Nummer von Veras Handy. Die Mailbox war aktiviert. Der Teilnehmer sei nicht erreichbar, tönte es ihm entgegen.
Langsam legte er den Hörer zurück in die Einbuchtung des Telefons und sah Frank erneut an. „Was soll ich tun? Ich kann jetzt eh nicht schlafen. Ich muss versuchen, Vera zu erreichen.“
„Kann sie nicht bei Bekannten sein, bei Freunden? Oder ist da ein Termin, den sie übersehen hatte? Denk doch mal nach.“
Frederik schüttelte gedankenverloren den Kopf. „Vera hätte sich vor der Probe abgemeldet. Was mich betrifft, weiß sie, dass es nicht immer einfach ist, mich zu erreichen.“ Er nahm sein Handy erneut und sah unter möglichen Anrufen nach. „Nichts. Sie hat nicht versucht, mich zu erreichen.“
„Und nun hast du keine Ruhe mehr, was ich verstehen kann“, sagte Frank. „Willst du denn schnell nach Hause fahren?