Lautlos. Hans J. Muth

Lautlos - Hans J. Muth


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beugte ich mich vor und ging langsam in die Hocke, um mir das, was uns beiden Kriminalisten so zusetzte, genauer anzusehen.

      „Man hat ihr die Lippen zugenäht“, stellte ich fest und die Worte schienen meinen Mund fast tonlos zu verlassen. Ich sah zu Laufenberg hinauf. „Was für ein jämmerlicher Tod. Sie hatte nicht einmal Gelegenheit, sich ihren Schmerz von der Seele zu schreien.“

      Ich erhob mich langsam und strich meinen Mantel glatt.

      „Sehen Sie nach, ob uns weitere Überraschungen bevorstehen“, sagte ich leise zu Laufenberg, der sich daraufhin zu der Toten beugte und sich anschickte, ihre Kleidung zu öffnen, es sich dann aber anders zu überlegen schien. Er sah mich an. Ich nickte. Das hatte Zeit. Soll der Doc doch seinen Dienst erst einmal tun. Unseren verbleibenden Part würden wir später in der Leichenhalle der Gerichtsmedizin erfüllen. Nur das Nötigste, jetzt, hier.

      „Sehen Sie am Hals nach. Sieht nach Strangulationsmerkmalen aus.“

      Laufenberg öffnete Jacke und Bluse der Toten im oberen Bereich und schob die Kragenenden beiseite, so dass sich das Ausmaß der Würgemale deutlich erkennen ließ.

      „Seltsam, Chef“, sagte er, während er den Kopf der Toten zur Seite legte. „Ich glaube nicht, dass die Frau erwürgt wurde. Ich habe außerdem meine Zweifel, dass es sich um Strangulationsmerkmale handelt.“

      „Was reden Sie da, Laufenberg?“ Ich mühte mich erneut in die Hocke, um mir den Hals der Toten aus der Nähe anzusehen. Dann sah ich es auch.

      „Sie könnten recht haben, Laufenberg. Die Frau wurde nicht stranguliert. Das hier sieht aus, als habe man ein … ja, ein Seil oder etwas Ähnliches um ihren Hals gebunden. Allerdings reichte das nicht, um sie zu erwürgen. Haben Sie die Augen überprüft?“

      Laufenberg verzichtete auf eine Antwort und hob ein Augenlid der Frau an. Dann nickte er. „Punktuelle Einblutungen, Chef. Der Tod ist auf jeden Fall durch Ersticken eingetreten.“

      „Das Seil“, überlegte ich, „es könnte sein, dass man es nur zur Befestigung benutzt hat. Vielleicht hat man der Frau eine Plastiktüte über den Kopf gezogen und diese mit einem Seil zugebunden.“

      „Es hat dem Täter nicht gereicht, ihren Mund zuzunähen. Ein jämmerlicher Tod“, bemerkte Laufenberg und erhob sich. „Aber offensichtlich hat der Täter die Tüte nach der Tat wieder entfernt und ebenso das Seil.“

      Ich überging Laufenbergs Information. „Hat sie Papiere dabei?“

      Laufenberg tastete die Taschen der Jacke und der Hose ab und drehte die Leiche auf die Seite, um an die Gesäßtaschen zu gelangen.

      “Nichts, keine Mappe, kein Geldbeutel, kein Schlüsselbund. Nicht mal ein Taschentuch oder einen Lippenstift. Nichts. Absolut nichts.“

      Vielleicht hat meine Kollegin auf der Dienststelle ja inzwischen etwas herausgefunden in Bezug auf vermisste Personen, dachte ich und wandte mich an Laufenberg.

      „Hat sich Frau Esslinger eigentlich schon gemeldet?“ Doch ich hätte mir die Frage schenken können. Wäre es so gewesen, hätte ich es mitbekommen. Wie erwartet schüttelte er den Kopf.

      „Gut, wenn der Arzt die Leiche untersucht hat, soll der Leichenbestatter die Frau in die Gerichtsmedizin bringen. Dort können Sie dann auch Ihre Arbeit zu Ende bringen“, gab ich Anweisung. „Ist schon in Ordnung so. Diese Arbeit läuft uns nicht mehr davon. Ah, Doktor, da sind Sie ja!“

      Ich hob die Hand zum Gruß. Leopold Wackershausen war Amtsarzt in der Moselmetropole und uns daher von zahlreichen unvermeidlichen Treffen bekannt. Der schlaksige, hochaufgeschossene Mann war schon jenseits der sechzig und immer wieder war er es, der erschien, wenn Not am Mann war. Allgemeinmediziner mit eigener Praxis konnte man mit solchen Aufträgen nicht mehr hinter dem Ofen hervorlocken, und im Krankenhaus einen Doc anzufordern, darauf konnte man getrost verzichten. Die Ärzte dort waren unabkömmlich und niemand zweifelte an der Richtigkeit der Begründung, wenn eine Absage erfolgte.

      „Zu jung, um schon zu sterben“, bemerkte Wackershausen, nachdem er uns begrüßt hatte und auf die Leiche sah. „Ihr habt sie aus dem Wasser gezogen? Ah, ich sehe schon.“

      Er beugte sich zu der Leiche, nestelte Handschuhe aus seinem Köfferchen und streifte sie über.

      „Was ist das?“, stellte er erschrocken fest. „Wer tut denn so etwas? Das ist mir in meiner langjährigen Praxis noch nicht vorgekommen. Man hat ihr den Mund zugenäht. Und soll ich Ihnen etwas sagen? Das scheint fachgerecht und nach ärztlicher Kunst geschehen zu sein. Ein Kollege als Verbrecher?“

      Er schüttelte den Kopf, als wollte er diesen Gedanken von sich weisen, ihn nicht zulassen.

      Wackershausen bewegt den Kopf der Toten zur Seite und betrachtete die Verletzungen am Hals näher. „Sie wurde nicht erwürgt. Diese Merkmale lassen den Schluss auf Erdrosseln nicht zu.“

      „Ist auch unsere Meinung“, bestätigte ich ihm unsere Einschätzung. „Die punktuellen Rötungen in den Augen sprechen aber für Ersticken, da werden Sie mir wohl recht geben.“

      „Sie denken, man hat sie erstickt?“

      „Genau. Vielleicht mit einer Plastiktüte, die man …“

      „Die man am Hals zusammengebunden hat, darum die Merkmale am Hals, die jedoch nicht tief genug sind, um den Tod durch Erdrosseln herbeizuführen.“

      „Wie lange ist die Frau schon tot?“, drängte ich.

      „Na ja, oberflächlich betrachtet acht bis zwölf Stunden, schätzungsweise. Auf keinen Fall länger.“

      „Dann hat man sie vergangene Nacht in den Fluss geworfen. Sie hatte sich im Rechen der Staustufe verfangen“, sinnierte ich vor mich hin. „Wenn sie, nehmen wir mal an, seit zwölf Stunden tot ist, kann sie theoretisch ein gutes Stück die Mosel herunter getrieben worden sein …“

      „Verstehe, Sie wollen wissen, wo man die Frau ins Wasser geworfen hat. Ist schwer zu sagen. Sie kann unterwegs aufgehalten worden sein“, konstatierte der Arzt. „Sie müssen berücksichtigen, dass Brückenpfeiler oder im Wasser schwimmende Gegenstände diese Berechnungen durchaus verfälschen können. Sie werden es herausfinden. Was die Todesbescheinigung betrifft, werde ich sie Ihnen ausstellen. Obwohl für uns hier und jetzt die Todesursache eindeutig zu sein scheint, wird der Eintrag auf ungeklärt lauten, das verstehen Sie doch. Theoretisch kann ja auch …“

      „Natürlich, ich weiß“, brummte ich. „Warten wir die Obduktion ab. In der Zwischenzeit werden wir versuchen, die Identität der Frau herauszufinden. Laufenberg, Sie veranlassen, dass die Leiche von der SpuSi entsprechend fotografiert wird. Falls keine Vermisstenmeldung vorliegt, geben Sie eine Pressemeldung mit der Personenbeschreibung heraus. Vielleicht gibt es Zeugen, die verdächtige Beobachtungen gemacht haben. Und machen Sie der Presse dieses Mal Dampf. Wir brauchen die Meldung in der nächsten Ausgabe. Und dann die Fotos an LKA und BKA, das ganze Programm, Sie wissen schon.“

      Hinter uns bremste der Leichenwagen mit einem knirschenden Geräusch auf dem Schotter.

      „In die Gerichtsmedizin!“, rief ich den beiden schwarz gekleideten Gestalten zu, die sich schwerfällig aus dem Fahrzeug wanden. „Und nichts an der Toten verändern. Nicht entkleiden, nicht einsargen. Lassen Sie die Leiche so, wie sie ist. Wir sind in einer Stunde dort.“

      Kapitel 5

      Heute war einer der besseren Tage in seinem Leben, das nun schon neun Jahre andauerte.

      Es war ein Sonntag und er hatte ausschlafen können, ohne dass seine Mutter ihn aus dem Schlaf gerissen und zum Einkaufen geschickt hätte. An diesem Morgen wurde er wach, als die Sonne durch das Fenster seines kärglichen Zimmers schien und mit warmen Strahlen seine Augen blendete.

      Er schloss die Augen wieder und schmiegte sich an seinen Teddy, der in seinem Bett fast den gleichen Raum einnahm wie er selbst. Er war allein, aber er fühlte sich nicht einsam. Einsam fühlte er sich, wenn er sich außerhalb seines


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