Lautlos. Hans J. Muth

Lautlos - Hans J. Muth


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ereilen konnte, drehte er sich um, rannte zur Tür, öffnete sie und schlug sie von außen mit aller Kraft zu.

      Als er auf der Straße stand, atmete er hektisch eine Zeitlang durch und beruhigte so seinen Kreislauf. Dann drehte er seinen Kopf und blickte dorthin, wo er sein Klassenzimmer und seine Peinigerin wusste. Er sprach nicht, seine Augen und seine verkniffenen Lippen drückten lautlos die Worte aus, die ihn seine Kindheit über begleiteten:

      „Wenn ich mal groß bin ...“

      Kapitel 10

      Vera verfolgte mit bebendem Körper und weit aufgerissenen Augen, wie sich der Unbekannte langsam rückwärts aus ihrem Sichtfeld schob. Die Panik, die sie ergriffen hatte, als sich die Tür öffnete und die Silhouette des Mannes vor dem grellen Hintergrund freigab, legte sich etwas, doch die Angst schnürte ihr weiterhin die Kehle zu.

      Trotzdem nahm sie all ihren Mut zusammen und stützte sich auf den Ellbogen ab. Sie bewegte die Füße in schnellem Rhythmus, so dass das Scheppern der metallenen Fesseln den Raum erfüllte.

      „Ich will hier raus! Wollen Sie mich hier sterben lassen?“, formte sie die Worte und der Druck ihrer Lungen wäre durchaus geeignet gewesen, die Forderung in Richtung des Unbekannten zu schleudern. Doch ihr Bemühen blieb ohne Wirkung, lediglich ein Luftstrom verließ ihren Mund, gefolgt von einem höllischen Schmerz, den sie sich nicht einmal von der Seele schreien konnte.

      Offensichtlich hatte der Unbekannte ihr sinnloses Bestreben im der Dunkelheit wahrgenommen, denn das schlurfende Geräusch der Rückwärtsbewegung verstummte. Wenige Sekunden blieb es ruhig, dann hörte Vera, wie der Vermummte wieder in ihre Richtung kam.

      Ich habe ihn verärgert, dachte sie. Oh Gott, das ist ein Verrückter. Was hat er jetzt mit mir vor?

      Die unbekannte Person, die sie immer noch nicht als männlich oder weiblich einordnen konnte, blieb am Fußende des stählernen Tisches stehen, und obwohl Vera deren Gesicht nicht sehen konnte, schien es ihr, als starrte diese in ihre Richtung, direkt in ihre Augen.

      Dann spürte sie, wie eine kalte Hand ihren rechten Knöchel umfasste. Gleichzeitig hörte sie ein feines Klirren, wie wenn Metall aneinander rieb.

      Danach spürte sie, wie die Fesseln von ihren Füßen abfielen und hörte ein Geräusch von herabfallendem Metall. Die Person bückte sich und hob die Fesseln auf.

      Schnell zog Vera ihre Beine an, so weit, dass ihre Fersen ihren Po berührten. Sie spürte, wie Wärme zurück in ihren Körper floss. Wenig nur, aber es war etwas Wärme, die der Kontakt ihrer Beine mit dem Körper erzeugte.

      „Wenn ich irgendein Geräusch höre, das von hier aus nach draußen dringt, werde ich dich wieder anketten“, sagte die kraftvoll flüsternde Stimme. „Ich sehe und höre alles, was in diesem Raum geschieht. Denke immer daran. Was weiter geschieht, liegt alleine bei dir.“

      Vera hörte wieder das schlurfende Geräusch, das sich in Richtung der Tür begab. Dann blieb es plötzlich aus. Die Gestalt war offensichtlich stehengeblieben.

      „Und noch eines“, hörte Vera das Flüstern erneut, „versuche nicht zu schreien, du tust deiner Kehle keinen Gefallen damit.“

      Die Tür öffnete sich langsam und für einen kurzen Moment stand die Gestalt mit der Kapuze in der Aura des grellen Lichts im Hintergrund. Daraufhin schloss sich langsam die eiserne Tür und es war wieder stockfinster im Raum. Das schnappende Geräusch des Schlüssels führte Vera ihre entmutigende Situation abermals vor Augen.

      Allmählich begann sie ihre hoffnungslose Lage mit allen Sinnen zu erfassen und als ihr Weinen in ein Schluchzen überging, wurde der seelische Schmerz von dem, der sich explosionsartig in ihrem Hals ausbreitete, in den Hintergrund gedrängt. Sie schloss die Augen und zwang sich zur inneren Ruhe. Es hatte keinen Sinn, sich in Selbstmitleid zu ergehen oder gar auf fremde Hilfe zu hoffen. Vera atmete langsam und tief durch, mehrere Male. Dann öffnete sie die Augen. Es blieb dunkel.

      Ich muss mich zusammenreißen, befahl sie sich und spürte sogleich die energische Kraft, die sich in ihrem Inneren aufbaute. Sie war nie das feine, filigrane Geschöpf gewesen, das die meisten Männer in ihren Träumen sahen. Sie war eher der burschikose Typ, der schon mal nach vorne preschte und in Situationen, die ihr gegen den Strich gingen, ihren Standpunkt klar in den Vordergrund rückte.

      Aber heute und hier? Sie war intelligent genug, die Umstände einschätzen zu können. Hier musste sie einen klaren Kopf behalten, musste sehen, wie sie mit der Situation, die sie konkret noch absolut nicht einordnen konnte, umzugehen hatte.

      Was war mit ihrer Kehle geschehen? Warum war sie nicht in der Lage zu sprechen? Sie unterdrückte die wieder in ihr aufsteigende Panik und nahm all ihre Kraft zusammen, um sich auf der kalten Metallunterlage zu drehen und ihre Beine an ihr herabhängen zu lassen. Die sitzende Position tat ihr gut, doch sie fühlte weiter die Kälte in ihrem Körper aufsteigen.

      Langsam ließ sie ihren Körper nach unten gleiten, bis sie festen Boden unter ihren Füßen verspürte. Es war ein kalter Boden, auf den ihre Füße trafen, ebenso kalt wie der Tisch, auf dem sie lag. Das Zittern ihres Körpers wurde stärker und glich einem Schüttelfrost. Sie schlang die Arme nach hinten um ihren Oberkörper und spürte die leichte Wärme, die vom Inneren ihrer Arme auf den Körper übergriff.

      Sie musste sich räuspern und hatte sofort wieder den Geschmack von Blut im Mund. Während sie vorsichtig versuchte, ein Lied zu summen, hörte sie in ihrem Körper hinein. Sie vernahm das Summen nicht, das ihren Mund hätte verlassen müssen. Sie versuchte es noch einmal mit der Formung eines Wortes. Hilfe, das war das Wort, das ihr als Erstes einfiel, doch sie ließ davon ab, ihre Kehle weiter zu strapazieren. Schmerzen waren das einzige, was ihre Versuche als Ergebnis hervorgebracht hätten.

      Sie legte ihre rechte Hand an ihren Hals und umfasste ihre Kehle, ohne tatsächlich einen Druck mit Daumen und Zeigefinger darauf auszuüben. Bereits die leichte Berührung reichte, um ihr zu sagen, dass dahinter etwas geschehen war, etwas, das ihre Physis für den Rest ihres Lebens einschränken würde.

      Dieses Monster ist verantwortlich dafür, begriff Vera. Was immer es getan hat, es muss ein operativer Eingriff gewesen sein, der mir die Möglichkeit zur Kommunikation genommen hat.

      Aber warum? Warum ich? Kennt mich dieser grausame Mensch oder brauchte er lediglich ein Opfer? Dann dachte Vera an die Worte des Unbekannten: „Hast du mit dieser Stimme deine Kinder eingeschüchtert, deinen Mann angeschrien? Wer alles würde es mit Genugtuung sehen, dass deine Anstrengungen, auch nur ein Wort herauszubekommen, kläglich scheitern? Du wirst niemanden mehr anschreien, niemanden mehr beschimpfen.“

      Was meinte die Person, von der sie nun immer mehr annahm, dass es sich um einen Mann handelte, mit dieser Aussage? Sie hatte ja nichts getan. Und Kinder? Wir haben keine Kinder! Unsere Ehe ist eine Ehe wie alle anderen. Da gibt es auch schon mal Turbulenzen, doch ohne Zweifel legt sich das alles wieder.

      Was meint er nur? Vera kramte in ihrem Gedächtnis, ging im Geiste die Diskussionen mit Frederik durch. Dann, plötzlich, durchfuhr es sie wie ein Blitz. Der vergangene Freitag! Sie erinnerte sich. Sie hatte tatsächlich ein Wortgefecht mit ihrem Mann gehabt, am Abend, in ihrer Wohnung. Ein ziemlich heftiges sogar.

      Aber eben nur ein Wortgefecht. Es ging darum, dass Frederik ihr mitteilte, dass er die Klinik verlassen und vielleicht überhaupt nicht mehr als Arzt arbeiten wollte. Die langen Arbeitszeiten, der Stress und die schlechte Bezahlung, all das hatte sich in ihm aufgestaut und zu einer Art Resignation geführt.

      Sie hatte alles probiert, um ihm diese Absicht auszureden, doch er schien sich bereits entschlossen zu haben. Er hatte eindringlich auf sie eingeredet, war in Rage geraten. Und sie selbst? Sie erinnerte sich. Sie hatte mit Worten dagegen angekämpft, hatte gestikuliert und schließlich hatte sie ihn auch angeschrien. "Ich wohne auch in dieser Stadt", hatte sie gerufen. „Ich habe hier meinen Bekanntenkreis, habe all das, was ich liebe und nicht aufgeben möchte. Ich werde auf keinen Fall mit in eine andere Stadt gehen."

      Sie hatte ihm klarzumachen versucht, dass der jetzige Zustand in der Klinik nicht für immer sei. Irgendwann


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